Knossós - Palast der Lebenden oder Totentempel?

Der Thronsaal von Knossos

Der Thronsaal von Knossos

Den deutschen Geologen Hans Georg Wunderlich befallen bei einem Besuch von Knossós im Jahre 1970 Zweifel hinsichtlich der bis dahin gängigen Interpretation der Palastanlage. Von seinem Ausgräber, dem englischen Archäologen Arthur Evans, war Knossós als prunkvoller Herrscherpalast der minoischen Kulturepoche gedeutet worden, wo sich kunstsinnige Menschen einst Sport und Spiel hingaben. Das Fehlen mächtiger Verteidigungsmauern galt als Hinweis auf den friedfertigen Charakter der Minoer oder doch zumindest auf eine friedfertige Zeit. Doch Wunderlich rieb sich an zahlreichen Ungereimtheiten in dieser Darstellung. Da war das berühmte "Badezimmer der Königin" mit einer Badewanne von knapp einem Meter Länge. Selbst für kleinwüchsige Menschen wäre das nicht gerade ein Luxusbad zu nennen. Die Wanne besaß zwar ein Abflußloch, doch der Raum verfügte über keine Entwässerungsmöglichkeiten. Hatten die Minoer das vergessen? Die Sarkophage im Museum von Iráklion hatten dieselbe Gestalt wie diese Badewanne, und auch sie verfügten über ein derartiges Abflußloch zur Belüftung der Mumien!

Das sog. Wohnzimmer der Königin

Das sog. Wohnzimmer der Königin

Nicht weit entfernt das "Wohnzimmer der KÖnigin". Doch warum war es im Untergeschoß zu finden, wohin kaum Licht und Luft drangen? Und warum waren gerade in diesem Raum mehrere 100 Liter Vorratsgefäße untergebracht, in diesem hochherrschaftlichen Teil des Palastes? Und warum fehlen in dieser über 1000 Räume umfassenden Anlage ein entsprechender Speisesaal, Stallungen und eine der Größe des Palastes entsprechende Küche?

An den technischen und künstlerischen Fähigkeiten der Minoer zweifelte auch Wunderlich nicht, doch warum benutze diese hochentwickelte Kultur für Treppenstufen, Fußböden und gar Wasserleitungen eine spezielle Art von Gips, der wenig riebfest ist und wenig wasserbeständig? Wußten sie doch an anderer Stelle sehr gut, Wasserleitungen aus hartem Kalkstein zu bauen.

Magazin der Riesenpithoi

Magazin der Riesenpithoi

Seine zahlreichen Beobachtungen verhärteten sich bei Wunderlich zu der These, dass es sich bei Knossós nicht um einen Palast der Lebenden, sondern um einen Totenpalast gehandelt haben muss, der dem rituellen Totenkult sowie der Aufbewahrung der Toten gedient haben müsse. Kultische Spiele und Zeremonien zur Vorbereitung der Toten auf ihr Leben im Jenseits - dazu gehörte auch die Konservierung der Leichen - bestimmten das Geschehen in diesem Palast. Die Zimmer der Herrscher waren also Wohnstatt im Totenreich, die zahlreichen Pithoi dienten als Begräbnisstätte oder als Vorratsbehälter im Reich der Toten. Bestärkt wurde er in seiner These durch einen Vergleich von Knossós mit ähnlichen Bauwerken in Ägypten, an deren Funktion als Totenpaläste kein Zweifel besteht. Wunderlichs Deutungsversuche der herrlichen Wandmalereien von Knossós scheinen seine Ansichten zu bestätigen: Delphine galten lange Zeit als Befreier der Seelen vom irdischen Körper. Hekate, die Göttin der Unterwelt, ist auf manchen Abbildungen mit einem Delphin auf dem Bauch zu sehen. Und auch Darstellung von Frauen mit offener Brust - die berühmteste von ihnen ist wohl die Schlangengöttin von Knossós - galt einst als Verkörperung tiefster Trauer. Ein Beispiel dafür hatte schon Homer in der Ilias gegeben: "Drüben jammerte auch die Mutter mit fließenden Tränen, machte den Busen sich bloß und hob die Brust mit der Linken."

Die Veröffentlichungen Wunderlichs - sehr lesenswert ist sein Buch "Wohin der Stier Europa trug" - erregten großes Aufsehen und riefen Widerspruch in weiten Teilen der Fachwelt hervor. Bei aller berechtigten Kritik in einzelnen Punkten: Als Anregungen für eine Neuinterpretation und kritischere Betrachtung der minoischen Kultur als es in der Vergangenheit der Fall war, sind Wunderlichs Thesen sehr gut geeignet. Auch wenn man seine These vom "Totentempel" vielleicht in dieser Ausschließlichkeit nicht teilen mag, Wunderlichs Verweis auf die vorwiegend kultische Bedeutung der angeblichen Königspaläste ist heute unter kritischen Wissenschaftlern kaum noch zu bezweifeln.





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