Reiseführer Nordzypern
Famagusta
Die Neustadt
Rückblende
Wer 1571 die Belagerung
und Eroberung Famagustas durch die Osmanen überlebt hatte, musste
seinen Besitz aufgeben und die Stadt verlassen. So geriet die Kapitulation
des alten zur Geburtsstunde des neuen Famagusta. Während in Sichtweite
der Wälle und Bastionen rasch aufblühende Siedlungen der vertriebenen
Christen entstanden, versank das alte Famagusta als türkische Garnisonsstadt
in einen Dämmerschlaf, aus dem es erst die Briten im 19. Jahrhundert
aufschreckten.
Die neuen Dörfer lagen auf fruchtbarem Land, das intensiv genutzt
wurde, wie der englische Reisende Sir Samuel White Baker 1879 beobachtete:
„Die Gärten beginnen dicht außerhalb der Mauern und laufen
parallel mit dem Meere zwei Meilen die Küste entlang bis nach dem
Dorfe Varosha. Orangen, Citronen, Aprikosen, Feigen, Opuntien und Maulbeerbäume
werden zumeist angepflanzt (. . .) Varosha ist stets seiner trefflichen
Seide wegen bekannt gewesen . . .“
Und A. O. Green hielt 1914 in seinem Reisebuch „Cyprus“ fest:
„Die Granatäpfel, die hier gedeihen, sind eine besondere Züchtung,
eine nahezu kernlose Varietät, die wahrscheinlich schon Theophrast
in seiner „Geschichte der Pflanzen“ erwähnte. Sie werden
überwiegend nach Ägypten exportiert, was jährlich einige
Tausend Pfund einbringt und sich noch steigern ließe, wenn die Anbaufläche
erweitert und mehr Sorgfalt bei der Verpackung walten würde. Zwischen
diesen Gärten und der See liegen die einst berühmten Krapp-Gründe
von Famagusta, auf denen vor der Einführung der Anilinfarben diese
kostbare Pflanze kultiviert wurde. Wegen seiner unübertrefflichen
Farbqualität wird auch heute noch in geringen Mengen Krapp angebaut.
Bekannt als „Turkey red“, wird die aus dem Krapp gewonnene
Farbe noch für ausgewählte Stoffe genutzt, so für die roten
Uniformstoffe in unserer und in anderen Armeen.“
Unter der Administration der Briten veränderte sich allmählich
die dörfliche Idylle um Famagusta (so ihr mittelalterlicher „fränkischer“
Name, griechisch dagegen Ammochostos, türkisch Gazimagusa). Zwischen
der alten Festungsstadt und der Neustadt Varosha (türkisch Maras,
sprich: Marasch), die sich aus den erwähnten Dörfern entwickelt
hatte, entstand ein Geschäfts- und Verwaltungszentrum. Famagusta
wurde Bahnstation, selbst der Hafen erhielt Bahnanschluss. Ein alte Dampflok
vor dem ehemaligen Bahnhof erinnert an die kurze zyprische Eisenbahnära,
als noch Züge auf schmaler Spur die Mesarya-Ebene
Richtung Nicosia und Güzelyurt durchquerten. In den dreißiger
Jahren notierte ein Besucher, die einst bescheidene Neustadt sei jetzt
„ a busy, thriving and rapidly expanding town“ – doch
so schnell ließ sich der Wandel wohl nicht an, meinte doch 1944
Henry Morton in seinem Essay „In the Steps of St. Paul“:
„Der Frieden von Famagusta ist verwirrend. In seiner grenzenlosen
Ruhe versinken die Sinne und verweigern sich der Realität. Man muss
sich gegen nichts konzentrieren. Was allein zu tun verbleibt, ist sich
der Länge nach hinzulegen und in das durchbrochene Grün der
Blätter zu starren. Dabei lässt sich an all das irregeleitete
Bemühen in der Welt denken, an die sinnlose Hetze und an das wunderbare
Gefühl der Saumseligkeit“.
Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts begann der Aufstieg der strandnahen
Zone von Varosha zu einem der größten Touristenzentren im östlichen
Mittelmeer. Doch die stürmische Entwicklung von Neustadt und angrenzender
Hotelstadt, der die oft gerühmten Obstplantagen zum Opfer fielen,
übertrug sich nicht auf das umwallte, ausschließlich türkisch
besiedelte Famagusta.
Die zunehmenden Spannungen zwischen den zyprischen Volksgruppen nahmen
auch in Famagusta dramatische Formen an, als im Sommer 1974 nach Putsch
und Intervention die staatliche Ordnung vollends zusammenbrach. Noch einmal
wurde das alte Famagusta zur belagerten Festung, in die sich Tausende
Türken aus den umliegenden Dörfern flüchteten und unter
ständigem Beschuss auf ihre Befreier warteten.
Neuanfang
Nach den Kämpfen
und dem Exodus der Griechen waren chaotische Monate zu überstehen.
Nur langsam wuchs die Stadt von neuem in ihre traditionellen Funktionen
als Frachthafen, Verwaltungszentrum und Touristenziel hinein. Für
eine Reihe von Jahren spielten sich in den Straßen und am Hafen
turbulente Szenen ab, wenn Scharen von Tagesbesuchern vom nahen türkischen
Festland hier Großeinkäufe tätigten, um daheim dem lukrativen
„suitcase trade“ zu huldigen.
Im Jahre 2006 zählte Famagusta 34.800 Einwohner, unter ihnen Zyperntürken,
die bereits vor 1974 hier oder in anderen Orten Nordzyperns lebten (Autochthone)
sowie Landsleute, die nach 1974 aus ihren ursprünglichen Wohnsitzen
im Süden der Insel hierher umgesiedelt wurden (Allochthone) und eingewanderte
Türken vom Festland. Je nach Herkunft und Berufsgruppenzugehörigkeit
bildeten sich im Laufe der Jahre im Stadtgebiet Siedlungsschwerpunkte
heraus. So leben Festlandstürken überwiegend in südlichen
und südwestlichen Stadtrandgebieten (Anadolu, Harika, Zafer, Pertev
Pascha, Piyale Pascha), die oft eine unzureichende Wohnqualität aufweisen.
Autochthone, besonders Ältere, harren in der Altstadt aus und konzentrieren
sich außerdem in den campusnahen Stadtvierteln Baykal sowie Karakol
und Sakarya, die man als Oberschichtviertel bezeichnen kann. Nur im Stadtteil
Dumlupinar, in Höhe der Altstadt, leben alle drei Gruppen zusammen.
Schließlich die Allochthonen: sie bevorzugen die Quartiere Cambulat,
Canakkale, Namik Kemal, Lala Mustafa Pascha, Tuzla südlich und westlich
der Altstadt.
Die Universität
Entscheidend für
die künftige Entwicklung Famagustas sollte ein Ereignis werden, das
anfänglich keine große Beachtung fand: 1979 wurde ein „High
Institute of Technology“ gegründet, aus dem 1986 die „Dogu
Akdeniz Üniversitesi“ / Eastern Mediterranean University (EMU)
hervorging. Hier sind heute über 10.000 Studenten aus Nordzypern,
der Türkei und vielen nahöstlichen und afrikanischen Ländern
eingeschrieben.
Famagusta als Universitätsstadt – das löste neue Wachstums-
und Entwicklungsimpulse aus, veränderte die überkommenen sozialen
und ökonomischen Strukturen und selbst die traditionell nach Süden
gerichtete Stadterweiterung drehte sich um 180 Grad und suchte die Anbindung
an den Campus der neuen Universität.
In Höhe der EMU
liegt an der Küstenstraße der Ortsteil Karaolos (Karakol). Hier sind in einem alten Militärcamp unter der blauen
UNO-Flagge Soldaten der multinationalen UNFICYP-Einheiten stationiert.
In der Vergangenheit diente das Camp einige Male als Lager für Flüchtlinge
und Internierte, Türken, Russen, Juden vieler Nationalitäten
– kein Ruhmesblatt und wohl deshalb auch ein kaum bekanntes Kapitel
der neueren zyprischen Geschichte.
Nahe dem Landtor, dem Hauptzugang zur Altstadt, ragt ein bestürzendes, ganz in düsteren Farben gehaltenes Denkmal (s. Foto) empor, das an die Opfer der Auseinandersetzungen mit den Griechen erinnern soll. Unter dem überdimensionalen Haupt des Kemal Atatürk vereinen sich prominente und namenlose Gestalten, die Leidensgeschichte der Türken Zyperns darstellend – Diskriminierung, Flucht, Belagerung, zaghaften Neuanfang.
Folgt man von hier
der Uferstraße in südlicher Richtung, schiebt sich nach etlichen
Kurven das noble „Palm Beach Hotel“ ins Blickfeld, das von
seiner seeseitigen Terrasse den besten Ausblick auf die „Geisterstadt“ Varosha gewährt.
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