St. Hilarion

Ein Ausflug zum grandiosen mittelalterlichen Gebirgskastell St. Hilarion ist für jeden Besucher Nordzyperns ein unbedingtes "Muß". Dafür spricht nicht allein seine atemberaubende Lage auf einem steilen Kalkfelsen, der hoch über Girne wie eine Kanzel aus der Gebirgskette hervorspringt. Seine Mauern, Türme und Palastruinen fügen sich überdies zu einer einzigartigen, das Geschehen einer unruhigen Epoche widerspiegelnden historischen Stätte. Hier waren Belagerungen zu durchleiden, tobten sich blutige Rachezüge aus, lastete quälende Fremdherrschaft. Und wenn die Bedrohung einmal nachließ, entfaltete sich sogleich der ganze Prunk höfischen Lebens.
Erbaut unter schwierigsten topographischen Bedingungen, oft den Besitzer
wechselnd, aber nie im Kampf zerstört, von Venedigs Machthabern schließlich
geschleift und danach in einen jahrhundertelangen Dornröschenschlaf
versinkend, zeigt sich St. Hilarion dem Besucher unserer Tage in einem
Zustand des "gedrosselten Verfalls": die mittelalterlichen Ruinen
wurden vermessen und gedeutet, abgestützt und konserviert, aber nicht
rekonstruiert. Anders als bei den zahllosen, aufwendig restaurierten Burgen
in unseren Breiten, veränderte man den ruinenhaften Charakter der
Wehrbauten auf den Höhen des Besparmak-Gebirges kaum. So mag es hier
und da an unmittelbarer Anschauung fehlen, doch gerade das Unfertige,
das Verlorengegangene beflügelt die Phantasie, lässt Raum,
sich auszumalen, wie es gewesen sein könnte.
St. Hilarion ist bequem mit Leihwagen oder Taxen zu erreichen. Von Girne
folgt man der Straße Richtung Lefkosa und biegt auf der langgezogenen
Paßhöhe nach etwa sieben Kilometern (Wegweiser !) rechts in
eine gut ausgebaute Nebenstraße ein, die sich in engen Kehren einen
Hang hinaufwindet, einen Sattel quert und dann in ein Hochtal einmündet.
Die Straße endet nach ca. vier Kilometern auf dem Parkplatz unterhalb
der Burg. Ein kleiner Kiosk bietet hier Erfrischungen an, dazu einheimisches
Kunsthandwerk, Ansichtskarten, würzigen Waldhonig u.a.
Chronik
Es wird sich wohl nie mit letzter Gewißheit klären lassen, ob der hl. Hilarion (288-371), einer der Begründer des christlichen Mönchwesens im Orient, diesem Ort seinen Namen gab. Das jedenfalls wird in einer dem Hieronymus zugeschriebenen Biographie des Einsiedlermönchs berichtet. Die aus jener Zeit überlieferten Nachrichten erzählen vage von einem kleinen Kloster, das um das Grab des heiligen Mannes errichtet worden sei.
Um 1100 ließ der byzantinische Gouverneur Zyperns auf Anweisung Kaiser Alexios` I. im fernen Konstantinopel das Kloster auflösen und das Gelände mit Wehranlagen befestigen. So erhielten die Statthalter der byzantinischen Zentralgewalt auf Zypern einen sicheren Fluchtort, sollte ihnen Gefahr von äußeren Feinden oder aufsässigen Rivalen drohen. 1191 stand freilich mit Richard Löwenherz, einem der Anführer des 3. Kreuzzugs, ein überlegener Gegner im Land, der mühelos St. Hilarion und alle anderen befestigten Plätze einnahm und das fränkische Zeitalter Zyperns begründete.

Blick von der Oberburg nach Osten
St. Hilarion stand vier Jahre (1228-1232) im Mittelpunkt eines verlustreichen Bürgerkriegs zwischen den kaisertreuen Befürwortern des Lehnsvertrages mit dem Deutschen Reich der Staufer-Dynastie und deren Gegnern, den nach Unabhängigkeit strebenden Baronen um den minderjährigen König Henri I. de Lusignan. Das zyprische Zwischenspiel des deutschen Kaiserhauses führte in eine militärische Niederlage und bedeutete das Ende der weit über Zypern hinausreichenden Orientpläne der Staufer. Bis zu den Kämpfen mit genuesischen Eindringlingen im 14. Jahrhundert, die noch einmal die militärische Bedeutung St. Hilarions unter Beweis stellten, blieb der Burg eine lange Zeitspanne von annähernd hundertvierzig halbwegs friedfertigen Jahren, in denen sie erweitert und komfortabel ausgestattet wurde. Das Königshaus der Lusignans nutzte die Bergfeste nun als kühle Sommerresidenz, als Bühne ihres unablässigen höfischen Intrigenspiels und luxuriösen Müßiggangs unter südlicher Sonne. Sie wurde zum Schauplatz glanzvoller Jagdgesellschaften und ihre spektakulären Ritterturniere hätten an jeder europäischen Residenz Furore gemacht.
Doch die Zeitenwende kündigte sich schon an. Neue Machthaber, die
Abgesandten der Signoria vom Lido, hielten seit 1489 das Heft in der
Hand. Fixiert auf Zyperns Landesprodukte und Handelsplätze und
damit zusammenhängende Sicherheitsüberlegungen, machten sich
Venedigs Statthalter daran, die Verteidigung ihrer gerade erworbenen
Kolonie nach neuzeitlichen Gesichtspunkten zu reorganisieren. Das verlangte
nach einem Umbau der Flachland- und Küstenburgen zu modernen, artilleriegestützten
Bastionärsfestungen. St. Hilarion und die anderen Bergburgen hatten
ausgedient und wurden vorsichtshalber geschleift, war man doch der Loyalität
der unterdrückten Einheimischen nicht sicher . . .
Die Natur holte sich das Terrain zurück, nach und nach gerieten
die Burgen in Vergessenheit.
Eingang und unterer Hof
Aus einiger Entfernung betrachtet, so eine Besucherin, wirke St. Hilarion eher wie ein Märchenschloß und nicht wie eine kriegerische Festung. Walt Disney habe die Anlage gar als Modell für seinen Film "Schneewittchen und die sieben Zwerge" gedient. Tatsächlich vereinen sich hier beeindruckende Wehrbauten eines "Chateau fort" mit schloßähnlichen, "zivilen" Bauten zu einer eigentümlichen Mischarchitektur.

Blick auf den Eingangsbereich
Auch die den Südhang umschließende Burgmauer aus byzantinischer
Zeit fällt schon von weitem ins Auge. Ihr vorgelagert ist die sogenannte
Barbakane, ein mit Schießscharten ausgestattetes Vorwerk zur Verteidigung
des Burgeingangs. Dieser war außerdem durch Pechnasen über
dem Tor wirkungsvoll geschützt. Heiße Flüssigkeiten,
aber auch Steine und Geschosse regneten von dem erkerartigen Vorbau
auf Angreifer herab.
Das schroffe Gelände hinter dem Eingang verbirgt zwischen Felsbrocken und Gestrüpp die Fundamente so mancher alter Bauten, darunter die eines byzantinischen Badehauses. Eine Zisterne und Stallungen mit Tonnengewölben blieben erhalten und daneben erschließt ein steiler Weg aus unserer Zeit die byzantinische Mauer mit den charakteristischen Attributen mittelalterlicher Wehrarchitektur wie der zinnenbestückten Brustwehr und dem Wehrgang auf der Mauerkrone, wo sich Bogen- und Armbrustschützen postierten. Nachschub für ihre Waffen lagerte in den hufeisenförmigen Türmen, die im Abstand von dreißig Metern die Mauer verstärken und in ihrem oberen Stockwerk Kampfplattformen aufweisen. In Zeiten der Gefahr konnten sich die Bewohner evakuierter Siedlungen im Schutz der über vierhundert Meter langen und bis an die unüberwindbaren Steilabschnitte des Burgfelsens heranreichenden Mauer sicher fühlen.
Der Weg wird nun steiler und erhält Stufen, die in einen Torweg mit gotischem Kreuzgewölbe führen. Wie durch einen Tunnel passiert der Besucher den Eingangsturm zur mittleren Burgebene mit ihren zahlreichen Gebäuderuinen. Früher verhinderten eine Zugbrücke im Turm, ergänzt durch starke, gut getarnte Abwehrstellungen und dem auf einem Felsabsatz hoch über dem Eingangskomplex errichteten Prinz-Jean-Turm, dass Feinde diese Barriere überwinden konnten.
Mittlere Burganlage
Die Sperranlagen
am unteren Burghof zu durchbrechen, war für Angreifer schon ein
verlustreiches Unterfangen. Schier aussichtslos aber wäre der Versuch
gewesen, das ausgeklügelte Verteidigungssystem der mittleren Burgebene
überwinden zu wollen. (So wurde die Burg nie im Kampf genommen.
Wenn sie den Besitzer wechselte, dann durch List oder Verrat, meistens
aber durch Aushungern.) Vor Angriffen also höchst wirkungsvoll
geschützt, errichteten die Lusignans auf dem engen Felsplateau
oberhalb des Steilhangs einen dicht gestaffelten Komplex herrschaftlicher
Gebäude.
Eine überwölbte Passage in der Verlängerung des Torwegs
erschließt diese Gebäudegruppe. Auch die Ruine einer kleinen
Kirche ist von dem Gang über einige Stufen zu erreichen. Dieses
außergewöhnliche Baudenkmal aus byzantinischer Zeit zählt
zu dem seltenen Typus einer Acht-Stützen-Kirche, die nur noch eine
weiteres Mal auf Zypern vertreten ist (Klosterkirche Christus Antiphonitis).
Ihre gänzlich verschwundene Kuppel wurde von acht Bögen getragen,
die ein unregelmäßiges Achteck formten. Üblicherweise
tragen vier Bögen, die ein Quadrat bilden, die Kuppeln byzantinischer
Kreuzkuppelkirchen. Am Mauerwerk der Kirche lassen sich alte Techniken
ablesen: man fügte abwechselnd Lagen von 5 cm dicken gebrannten
Ziegeln, eine gleichstarke Mörtelschicht und bearbeitete Natursteine
aufeinander. Die ursprünglich griechisch-orthodoxe Kirche diente
auch den katholischen Lusignans als Gotteshaus.

Reste der byzantinischen Klosterkirche
Ein Quergang führt von der Kirche zum "Belvedere", einer reizvoll gelegenen Loggia mit phantastischen Ausblicken auf Täler und Gipfel des Besparmak . . . und vor dem inneren Auge werden die erstaunlichen Geschichten aus den Glanzzeiten dieser Sommerresidenz wieder lebendig, als "unter dem kühlen Belvedere die Offiziere und Kammerherren im Anblick der feindseligen Berge über dem Meer sich in ihre Seidenkissen zurücklehnten, ihren Sorbett tranken und das Morgen vergaßen". Wirtschaftsräume, darunter die Küche, schließen sich an und Treppenstufen führen hinunter zurLatrine, die sich in einen Felsspalt entleerte. Am Gang zum "Belvedere" liegt die große Halle. Im Juni 1995, als ein verheerender Waldbrand über die Nordflanke des Besparmak-Gebirges hinwegraste, brannte der alte Bau lichterloh. Auch die umgebenden Berghänge standen in Flammen. Heute zeigen sie wieder grüne Tupfer einer Neubepflanzung. Von der Großen Halle aus dem 14. Jahrhundert, früher herrschaftlicher Speise- und Festsaal der Burg (ein Vorläuferbau könnte in byzantinischer Zeit als Refektorium gedient haben), sind nur noch die Außenmauern erhalten. Böden und Dach wurden ein Raub der Flammen. Eine Wiederherstellung dieses bedeutenden Bauwerks würde der mittleren Burgebene ihre frühere Geschlossenheit zurückgeben.
Die nördliche Kante des Felsplateaus bietet einen umfassenden Blick auf die Fassaden des viergeschossigen königlichen Wohntrakts und die davor liegenden Ruinen eines einst dreistöckigen Gebäudes. Vermutlich war es das Quartier der Burgwache. In friedlicheren Zeiten wurden hier auch Bedienstete und Gefolgsleute der königlichen Familie untergebracht.

Blick auf Küchentrakt und königliche Gemächer
Eine dickwandige Zisterne, gestützt von vier mächtigen Strebepfeilern,
sammelte das kostbare Wasser, das Wintergüsse über den Hängen
abluden. Kanäle und Tonrohre fingen es auf und leiteten es in das
Reservoir. Nahe der Südostecke der Zisterne schlängelt sich,
leicht zu übersehen, ein verdeckter Fluchtweg unter einem Bogen
hindurch auf das steile Gelände hinaus. Oft genug wurde er zum
halsbrecherischen Schlupfloch für die umzingelten Burgbewohner,
zum Ausgangspunkt tollkühner Überraschungsangriffe auf den
Belagerungsring.

Auf dem Weg zur Oberburg
Oberes Burgplateau
In Höhe der Zisterne beginnt der beschwerliche Aufstieg zur oberen Ebene mit interessanten Gebäuderesten. Der Weg den Steilhang hinauf ist inzwischen sicherer geworden: ein starkes, vertrauenerweckendes Geländer begleitet durchgängig die Stufen im Fels und den lehmigen Pfad. Fast in Höhe der Berggipfel, gut siebenhundert Meter über dem Meer, leitet ein überwölbter Eingang in der byzantinischen Mauer den in Schweiß gebadeten Besucher auf den Burghof. Er ist heute dicht bewachsen, Wacholdersträucher und Schwarzkiefern überwuchern die Überreste von Zisternen und Wirtschaftsgebäuden.
Am westlichen Rand des Plateaus erhebt sich die einstige Sommerresidenz der Lusignans aus dem 14. Jahrhundert - auch sie eine Ruine, aber mit einigen architektonischen Details, die glücklicherweise venezianische Zerstörungswut und den nachfolgenden Verfall überdauert haben. Wie andere Hauptbauten der Burg, wird auch der dreigeschossige königliche Palast wegen der starken Niederschläge ein steiles Satteldach getragen haben. Vor seiner dem Betrachter zugewandten Ostfassade gewährte ein langgezogener Holzbalkon den Bewohnern und ihren Gästen bequeme Sicht auf das höfische Treiben im Burghof. Drei Türen führten vom Balkon in die Halle des oberen Stockwerks. Hier beeindrucken -neben dem atemberaubenden Ausblick auf die westliche Gebirgskete- schöne gotische Maßwerkfenster, darunter das berühmte "Fenster der Königin".

In den königlichen Gemächern der Oberburg, das sog. "Fenster der Königin"
Aus dem Burghof schlängelt sich ein Pfad, der bald in eine steile,
halsbrecherische Treppe im Fels übergeht, zum südlichen Verteidigungsabschnitt
der Oberburg hinauf. Aus Furcht, Angreifer könnten unter Umgehung
der unteren und mittleren Burgebenen über den Südhang nach
oben vordringen, hatten die Baumeister der Lusignans im 13. Jahrhundert
diesen Sperriegel errichtet. Eine streckenweise eingebrochene Mauer
und starke quadratische Türme mit Schießscharten sowie Kampfplattformen
auf ihren Flachdächern, ziehen sich an senkrecht abstürzenden
Felswänden entlang, begleitet von einem holperigen Weg, den nur
trittsichere Besucher begehen sollten.

In den königlichen Gemächern der Oberburg
Ein weiterer unwegsamer Abstecher beginnt bald nach Verlassen des Burghofes und endet jenseits eines ungesicherten, steinigen Sattels auf der äußersten Kante eines Felsvorsprungs am Prinz-Jean-Turm. Die Wachmannschaften müssen hier leichtes Spiel mit Eindringlingen gehabt haben, dominierte dieser markante Wehrbau doch den gesamten unteren Hofbereich. Unter dem Kreuzgewölbe des rechteckigen Turms gab es an den Längsseiten Standplätze für je drei Bogenschützen. Die eingestürzte Schmalseite wies früher zwei Bogenscharten auf und auch die Dachplattform über dem inneren Kampfraum gab hinter einer Brustwehr einer Handvoll Bogen- und Armbrustschützen zuverlässig Deckung.