Streifzüge durch die südliche Peloponnes

Palast des Nestor


Palast des Nestor

Mitunter sieht man enttäuschte Gesichter bei den Besuchern auf dem Hügel Ano Englianós. Von einem „Palast“ hatten sie sich mehr versprochen als ein schwer zu deutendes Geflecht knie- bis höchstens hüfthoher Bruchsteinmauern, überdacht von einem modernen Kunststoffhimmel, der Regen und Sonne fernhalten soll. Auch fehlt es auf den ersten Blick an einer erkennbaren Ausstattung, die angedeuteten Räume erscheinen kahl. Erst wenn sich das Auge ein wenig gewöhnt hat an die befremdliche Umgebung, werden Einzelheiten sichtbar, gut unterstützt von den Infotafeln, die in großer Zahl den Besuchern den komplizierten Aufbau des Palastes erläutern. Während sie sich mit der Anlage und ihrer Geschichte vertraut machen, bewegen sie sich rund drei Meter über dem Boden auf Stegen, die am Schutzdach aufgehängt sind.

Dieses Schutzdach, das eine Fläche von ca. 3.200 m² überspannt, ist ein Segen für die Ausgrabungsstätte. Sein Design ist einzigartig und hatte seinen Preis: rund 2,1 Mio. Euro aus griechischen Kassen und dem EU Regional Development Fund flossen ab 2012 in das Projekt. An den außerhalb des Schutzdaches liegenden, Wind und Wetter ausgesetzten Ausgrabungen sieht man, wie notwendig eine Überdachung ist.

Das Deutsche Archäologische Institut und verwandte Einrichtungen sprechen konsequent vom „sogenannten“ Palast des Nestor, denn es ist noch immer ungeklärt, ob die hier freigelegten mykenischen Ruinen mit dem Palast identisch sind, den Homer in seiner „Ilias“ als Herrschersitz des Nestor im „sandigen Pylos“ lokalisierte. Und wer sich hinter der Person des Homer verbirgt und wie seine Werke entstanden, ob erdacht oder mündlich überliefert, ob schnell entstanden oder über einen längeren Zeitraum, von einem Autor oder mehreren oder ob er nur der Bearbeiter überlieferter Epen war: auch dazu gibt es eine Vielzahl von Meinungen.

Auch die Person des Nestor gibt Rätsel auf. Die griechische Mythologie freilich berichtet ausführlich über den Königssohn: Sie erzählt uns von Neleus, einem Sohn des Poseidon und von dessen Frau Tyro, einer Königstochter. Ihr gemeinsamer Sohn sei Nestor, verheiratet mit Eurydike, der sich schon in jungen Jahren durch Mut und Rechtschaffenheit ausgezeichnet habe. Im hohen Alter eines langen Lebens, als Greis, erringt er seinen höchsten Ruhm, beweist seine überragenden Fähigkeiten bei der Planung und Durchführung des Trojanischen Krieges, auch vermittelt er im Streit zwischen Achilleus und Agamemnon. Im homerischen Schiffskatalog – Ilias, 2. Buch, Verse 591-602 – heißt es, Nestor habe 90 Schiffe mit Tausenden Kämpfern für den Kampf gegen Troja bereitgestellt.

Später erzählt Homer von Nestors glücklicher Heimkehr nach Pylos, wo ihm

„Zeus Gnade verlieh, für die Tage der Zukunft, selbst in behaglicher Fülle daheim im Palast zu altern und sich verständiger Söhne zu erfreuen, die trefflich im Kampf sind“.


Seine Gemahlin ist noch am Leben, seine Tochter Polykaste pflegt den Odysseus-Sohn Telemachos, der auf der Suche nach seinem Vater bei Nestor vorbeischaut. Die von allen Besuchern bestaunte Terrakotta-Badewanne im Palast soll dabei eine Rolle gespielt haben. Homer beschreibt die Szene so: „Die liebliche Polykaste, die Jüngste der Töchter des Nestor“ habe Telemachos gebadet, ihn danach mit Öl gesalbt, ihm feine Kleidung angelegt und ihn in einen Umhang gehüllt, als er göttergleich aus dem Baderaum trat. Für Homers Dichterzeitgenossen Hesiod entspann sich aus dem Zusammentreffen eine heftige Liebesgeschichte.

Palast des Nestor

Hier ließ sich Telemachos von Polykaste das Bad bereiten

Keine Frage: der mykenische Palast auf dem Hügel Ano Englianós war der Sitz eines mächtigen, einflussreichen Herrschers. Ob man aber diesem konkreten Ort einen Landesvater Nestor als historische Figur zuordnen kann, bleibt einstweilen ungeklärt. Anerkennung erfährt der rüstige Alte noch heute, versteht man doch unter einem Nestor einen altersweisen Ratgeber oder auch den ältesten Vertreter einer wissenschaftlichen Disziplin.

Eine epochale Entdeckung

Heinrich Schliemann soll 1888 ergebnislos das Terrain nach Spuren des Nestorpalastes abgesucht haben. Erfolgreicher war 1912 und erneut 1926 der griechische Archäologe Konstantinos Kourouniotis, Direktor des Nationalmuseums in Athen. Er entdeckte zwei Kuppelgräber und 1939 gelang es ihm, den Palast zu lokalisieren. Mit dabei war Carl William Blegen, Professor der klassischen Archäologie an der Universität von Cincinnati (Ohio), der bisher die Ausgrabungen der Universität in Troja geleitet hatte. Bis zum nahen Beginn des 2. Weltkriegs wurden die Mauern eines palastartigen mykenischen Gebäudes freigelegt, das offensichtlich durch ein katastrophales Feuer zerstört worden war. Man stieß bei den Grabungen auf einen kleinen Raum im Eingangsbereich, der eine Sensation enthielt: an die 600 Tontafeln und die Scherben von etlichen Hundert weiteren Tafeln. Normalerweise wären sie nach kurzer Zeit zerbröselt, doch wurden sie durch das Feuer gehärtet und blieben so der Nachwelt erhalten. Die Tontafeln waren mit Schriftzeichen versehen, die erstmals Sir Arthur Evans im kretischen Knossos entdeckt und als „Linear B“ bezeichnet hatte.

Palast des Nestor

Blick vom Palast auf die Küstenlandschaft bei Pylos

Weitere Forschungen am Hügel Ano Englianós, rund 20 km nördlich von Pylos, wurden durch den Krieg und den unmittelbar nachfolgenden griechischen Bürgerkrieg verhindert. Erst 1952 konnten die Arbeiten wieder aufgenommen werden. Im gleichen Jahr gelang es den Briten John Chadwick, Altphilologe, und Michael Ventris, Architekt, das rätselhafte Linear B zu entziffern und als ein in Silbenschrift dargestelltes mykenisches Griechisch zu identifizieren. Unter der Leitung von Blegen und seines griechischen Kollegen Spyridon Marinatos, Professor für prähistorische Archäologie an der Uni Athen und Ausgräber der minoischen Siedlung Akrotiri auf Santorini, wo er 1974 tödlich verunglückte, wurden bis 1964 in dreizehn Grabungskampagnen vier Hauptgebäude mit 105 Räumen auf einem Areal von 170 X 90 m freigelegt. Mehr Klarheit bekam man auch über das Alter der Anlage, die offensichtlich nur eine kurze Zeit genutzt werden konnte, etwa zwischen 1300 und 1200 v. Chr. Unbekannt sind bis heute die Hintergründe für den Untergang. Anschließend blieb die Stätte unbesiedelt. Die Dank des Feuers erhaltenen Tontafeln sind eine unerschöpfliche Quelle für wertvolle Informationen über die Rolle des Palastes als politisches und religiöses Zentrum, als Dreh- und Angelpunkt für die wirtschaftlichen, finanziellen und verwaltungstechnischen Angelegenheiten des mykenischen Messenien. Aus dem Tontafelarchiv geht auch hervor, dass der Machtbereich des Herrschers zwei Provinzen umfasste, die wiederum in sieben und neun Distrikte unterteilt wurden. Die westliche Provinz reichte demnach von der Küste des Ionischen Meeres bis zum Bergzug des Aigaléon und die äußere Provinz erstreckte sich östlich des Aigaléon bis in Höhe der heutigen Stadt Kalamata.

Unterwegs im Gelände

Ins Auge fallen die zahlreichen Bruchsteinmauern, verschwunden sind dagegen die Lehmziegelmauern, die den Witterungseinflüssen zum Opfer fielen. Hin und wieder stößt man auf bearbeitete Quadersteine, die vermutlich beim Bau der Außenfassaden verwendet wurden. Umstritten ist die Frage, ob der Palast ein durchgehendes zweites Stockwerk besaß oder nur vereinzelte Aufbauten, Balkone, Terrassen o. ä.Viel Holz kam beim Ausbau zum Einsatz: als Rahmen für das Mauerwerk, für Fenster und Türen. Auch die Säulen, die die Decken stützten, waren aus Holz. Die Zimmerwände hatte man in der Regel verputzt, mit Kalk die wichtigen Räume, die anderen mit Ton. Auf dem Boden wurde eine Kalk-Sand-Schicht aufgebracht.

Nahe dem Eingang des eigentlichen Palastes (55 X 30 m) war in zwei kleinen Räumen das „Archiv“ untergebracht. Die Tontafeln lagerten in Regalen oder Körben und 300 von ihnen füllten ein dickbauchiges Tongefäß, einen Pithos. Wenn man weiter ging, passierte man ein Propylon, ein Tor, das sich auf eine Säule stützte, erreichte dann einen großen Hof, durchquerte zwei kleinere Vorhöfe und stand dann im Allerheiligsten, dem Megaron. Eine Halle in den Maßen 11,20 X 12,90 m überraschte die Besucher. Vier Holzsäulen trugen einst das Dach. In ihrer Mitte erstreckt sich noch immer ein großer kreisrunder Herd mit einem Durchmesser von 4 m, früher üppig ausgeschmückt mit spiralförmigen und geometrischen Motiven. Einiges davon ist noch sichtbar.

Palast des Nestor

Der Herd im Zentrum des Megarons

An die rechte Wand lehnte sich der vermutlich hölzerne Thron und der Fußboden davor war mit farbigen Keramikquadraten ausgelegt. Seitlich des großen Hofes und des Megarons lagen etliche Magazine, Lager und Speisekammern, auch ein Warteraum, wo man sich vor der Audienz an reichlichen Weinvorräten laben konnte. Unmengen an Trinkgefäßen wurden hier und andernorts entdeckt. 20 und mehr große Tongefäße für die Aufbewahrung von Öl hatten ihren Platz im Anschluss an das Megaron in einem Extraflügel. Außerhalb des Palastes existierte ein Lagerraum für die Weinvorräte der Palastbewohner und ihrer Gäste. Im östlichen Bereich der Anlage gibt es noch ein kleines Megaron mit ursprünglich großflächigen Fresken (wie auch die meisten Wände der anderen Räume bemalt waren) und gleich anschließend liegt das schon erwähnte Bad, zu dessen Ausstattung zwei große Tonkrüge gehörten (für Wasser und Öl) und in der Wanne fand man auch zwei Kylikes, das sind flache Trinkschalen . . .

Palast des Nestor

Raum mit Badewanne

Die südwestlich angrenzenden Grundmauern sind die Überreste des deutlich älteren Palastes des Neleus, Nestors Vater. An das oben erwähnte Magazin für die reichlichen Weinvorräte der Palasteigner grenzt das Mauerwerk eines länglichen Gebäudes, das vermutlich als Werkstätte oder auch als Waffenkammer gedient hat. Dass Ano Englianós noch immer Überraschungen bereit hält, zeigte sich erst kürzlich, als im Dezember 2019 die Öffentlichkeit erstmals von der Entdeckung zweier mykenischer Fürstengräber erfuhr, sogenannten Kuppelgräbern, die in den steinigen Untergrund eingelassen und mit einer Kuppel überwölbt wurden. Die Gewölbe waren schon vor langer Zeit eingestürzt und hatten die kostbaren Grabbeigaben aus Bernstein, Gold, Bronze und Edelsteinen unter sich begraben. So blieben die Gräber von Grabräubern verschont, wie auch eine weitere bedeutende Fundstätte, die 2015 von den gleichen Archäologen, Sharon Stocker und Jack l. Davis von der University of Cincinnati, freigelegt wurde. Das sog. „Griffin Warrior Tomb“, Grab des Greifenkriegers, wurde eher zufällig entdeckt, als man mit Grabungsarbeiten im Gelände befasst war und unerwartet auf die steinerne . Abdeckung eines unberührten Schachtgrabes stieß. Auf seinem Boden lag das Skelett eines vielleicht 30- bis 35jährigen Mannes, umgeben von Schwert und Dolch mit vergoldeten Griffen sowie zahllosen Grabbeigaben von unschätzbarem Wert: Ketten, Ringe, Gefäße aus Gold, Silber, Elfenbein, Edelsteinen, Bronze – ein Schatz, wie er schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Griechenland zutage gefördert wurde. Dieses Grab aus einer Zeit, die 200 oder 300 Jahre vor der vermuteten Glanzzeit des Nestor liegt, belegt an Hand der vielen kretisch inspirierten Fundstücke die damals engen Beziehungen zur minoischen Kultur Kretas.

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Kuppelgrab (Tholos IV)

Das Grab des Greifenkriegers liegt rund 130 m vom Palast entfernt, die neu entdeckten Kuppelgräber etwa 200 m. Zwischen ihnen ragt ein instand gesetztes Kuppelgrab auf, das frei zugänglich ist. Es trägt die Bezeichnung „Tholos IV“. 1953 wurde es freigelegt und vier Jahre später rekonstruiert. Vermutlich stammt es aus der frühmykenischen Zeit bevor der Palast entstand. Schon in der Antike wurde das Grab, in dem dreizehn hochrangige Persönlichkeiten des 16. und 15. Jahrhunderts v. Chr. beigesetzt wurden, ausgeraubt. Wie so oft in der Vergangenheit waren es hastige, von Gier angetriebene Raubzüge, die Vieles übersahen oder für wertlos hielten. So konnte man nach der Entdeckung der Grabstätte noch das eine oder andere wertvolle Fundstück sichern.

In dem Dorf Chora, vier Kilometer von der Ausgrabungsstätte am Ano Englianós entfernt, werden zahlreiche Fundstücke im örtlichen Museum ausgestellt. Darunter sind auch Repliken, denn das Athener Nationalmuseum reklamierte so manches kostbare Original für sich. Dennoch ist das Museum gut bestückt mit Exponaten aus der großen Zeit des mykenischen Messenien und lohnt unbedingt den Besuch, wenn auch die Amphoren und Figuren, die Fragmente von Wandgemälden, die Repliken der Linear B-Tontafeln, der Schmuck und die Elfenbeinschnitzereien eine zeitgemäßere Präsentation verdienen.
Palast des Nestor

Vor dem Museum in Chora erinnern zwei Büsten an die verdienten Archäologen Carl Blegen und Spyridon Marinatos

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