Stadtwall von Nicosia
Teilweise bebaut, von Bäumen und Gebäuden verdeckt und schon lange seines martialischen Charakters entledigt, fällt Nicosias bastionärsbestückter Stadtwall nicht sofort ins Auge. Vier Straßendurchbrüche queren den Wall im türkischen Teil der Inselhauptstadt. Folgt man den an der äußeren Wallseite entlang führenden Straßen, öffnen sich immer wieder Ausblicke auf das beeindruckende Bauwerk, das in einem beispiellosen Kraftakt allein unter Verwendung von Hacke, Schaufel und Schubkarre im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts buchstäblich aus dem Boden gestampft wurde.
Der Zahn der Zeit nagt dann und wann an dem Festungswerk, so 2019, als Teile der Cephane Bastion (Bastione Quirini) nahe dem Girne Tor einstürzten. 2024 konnten die Restaurierungsarbeiten durch das bikommunale Technical Committee on Cultural Heritage erfolgreich abgeschlossen werden. Ein Projekt unter dem Schirm des UNDP, finanziert von der EU.
Die Bedrohung
Venedig, Erzfeind der Osmanen, hatte Zypern 1489 seinem Kolonialimperium einverleibt. Die Insel lag seitdem wie ein Sperriegel an den Hauptrouten des Waren- und Pilgerverkehrs zwischen den osmanischen Territorien. Man gab sich in Venedig keinen Illusionen hin: früher oder später würde das expandierende Osmanische Reich diesen Zustand beenden. Formell war zwar durch den Friedensvertrag von 1479 das Verhältnis zwischen beiden Mächten geregelt, doch Istanbuls stetige Machtausdehnung (Syrien, 1516 ; Ägypten, 1517 ; Rhodos, 1523) tangierte zunehmend die venezianischen Einflusszonen.
Venedig hatte zudem auf dem norditalienischen Kriegsschauplatz die Erfahrung machen müssen, dass der Einsatz von Feuerwaffen inzwischen die Regel war und seine Militärarchitekten eine Antwort auf diese Herausforderung finden mussten. Die Stadt am Lido, eine Großmacht ohne Hinterland, aber Herr über zahllose gefährdete Stützpunkte auf den Inseln und an den Küsten des Mittelmeeres, richtete deshalb 1542 ein Amt für „Festungsverwalter“ („provveditori alle fortezze“) ein, verantwortlich für die Errichtung und Verwaltung künftiger Festungsbauten. Unter dem Druck vorrückender, militärisch überlegener osmanischer Landheere und Kriegsflotten, machten sich die fähigsten italienischen Militärarchitekten daran, zunächst den Zustand der am meisten gefährdeten venezianischen Stützpunkte zu analysieren. Die Zeit drängte. So war hinsichtlich der Verteidigungsfähigkeit Zyperns 1567 ein kritischer Punkt erreicht, denn in diesem Jahr wurde Selim II., dessen Zypernambitionen der venezianischen Führung wohlbekannt waren, Sultan des Osmanischen Reiches.
Bestandsaufnahme
Alles, was in Italien auf dem Gebiet des Festungsbaus Rang und Namen hatte, begutachtete im Auftrage Venedigs die zyprischen Verteidigungsanlagen. Von Francesco Tiepolo, Gerolamo Maggi über Michele und Gian Girolamo Sanmicheli bis zu Bernardo Sagredo, Ascanio und Guiglio Savorgnano - die Crème der italienischen Renaissancearchitekten gab sich ein Stelldichein. In der Bewertung der einzelnen Objekte zeigten sich erhebliche Differenzen, doch im Falle Nicosias stimmten alle Denkschriften wenigstens in einem Punkt überein, dass nämlich die brüchigen Stadtmauern aus der Zeit der Lusignans selbst nach umfangreichen Verstärkungsmaßnahmen einem Artillerieangriff nicht standhalten würden. Es kursierte sogar der Vorschlag, die Verteidigung der Hauptstadt ganz fallenzulassen und dafür Famagusta zu verstärken und nahe Larnaca und Limassol Festungen „ex novo“ zu errichten. Davon kam man schnell wieder ab, gab es doch die Befürchtung, der von Venedigs Statthaltern drangsalierte Adel Nicosias und die griechisch-zyprischen Einwohner könnten sich auf die Seite der Türken schlagen. Die Diskussion der Mängelberichte und Lösungsansätze zog sich quälend lange hin. Ein Entscheidung kam nicht zustande - bis 1567 Selim II. Sultan wurde. Dann überschlugen sich die Ereignisse.
Die Entscheidung
Unmittelbar nach Bekanntwerden der alarmierenden Nachrichten aus Istanbul, entsandte Venedig den renommierten Militärarchitekten Guiglio Savorgnano, der schon Korfu und Chaniá auf Kreta befestigt hatte, in Begleitung des neuen Generalgouverneurs Francesco Barbaro nach Nicosia. Ihr Auftrag lautete: sofort mit dem Bau des Befestigungsrings beginnen! Noch heute verblüfft die rigorose Vorgehensweise, mit der sich Savorgnano ans Werk machte. Zunächst musste das vorgesehene Baugelände planiert werden. Auch das Terrain vor dem geplanten Wall war weiträumig freizuräumen, um der eigenen Artillerie freies Schußfeld zu gewährleisten und dem Angreifer die Deckung zu nehmen. Da nach dem Entwurf Savorgnanos der Wall nur noch zwei Drittel des Stadtgebietes umschließen sollte, war nicht allein die alte Stadtmauer im Wege, ganze Stadtteile mit ihrer unersetzlichen mittelalterlichen Bausubstanz wurden ein Opfer des venezianischen Verbrannte-Erde-Verfahrens. Dutzende von Kirchen und Palästen, Klöster und unzählige Wohnhäuser verschwanden von der Bildfläche. Selbst die Bäume im Umfeld der Stadt überstanden den Kahlschlag nicht.
Nach acht oder neun Monaten wurde Savorgnano nach Venedig zurückgerufen. Offenbar kamen die Arbeiten gut voran. Sein Stellvertreter Leonardo Roncone und dessen Mitarbeiter Tommaso Bussato und Donato Cipriotto konnten nach nur eineinhalb Jahren (Juni 1567 bis Dez. 1568) die wichtigsten Baumaßnahmen abschließen.
Entstanden war ein nach neuesten Erkenntnissen entworfener, kreisrunder Verteidigungswall von 3,2 km Umfang. Seine Höhe beträgt 12 m, die Breite der Wallkrone 5,60 m. Die umwallte Stadt hat eine Fläche von 1,63 qkm, ihr Durchmesser entspricht der italienischen Meile (ca. 1,4 km). Elf herzförmige Bastionen mit bogenförmig vorspringenden „Ohren“ verstärken das Festungsrund. Sie ragen 80 m aus dem Wall. Vor den Bastionen und dem Wall war als zusätzliches Hindernis noch ein breiter Graben ausgehoben worden, der mit dem Wasser des Pedieos (türk.: Kanlidere) geflutet werden konnte. Savorgnanos revolutionäre Neuerung, den Erdwällen, statt sie mit Steinplatten zu verkleiden, eine Grasnarbe zu geben, begründete er damit, daß auf diese Weise die Wucht der Geschosse am besten absorbiert werde.
Nach dem Fall
Als im Juli 1570 das osmanische Heer vor Nicosia in Stellung ging, sollten sich schon bald die Mängel der Verteidigungsanlagen zeigen. Fehlende Finanzmittel (prominente italienische Adelsfamilien Nicosias sprangen ein und finanzierten den Bau der Bastionen, die dann nach ihnen benannt wurden) und Zeitmangel hatten die Vertiefung des Grabens und den Ausbau der Kontereskarpe (äußere Grabenböschung) verhindert, auch die Errichtung von Außenwerken unterblieb - schwerwiegende Versäumnisse, die es den Angreifern leicht machten, bis an den Wall vorzudringen. Savorgnano hatte auch unterschätzt, wie wichtig es war, die angrenzenden Wohnquartiere ganz in den Dienst der Verteidigung zu stellen, sie so zu gestalten, dass sie den Kämpfern größtmöglichen Nutzen brachten. Später hatte er Gelegenheit, die Schwächen des Nicosia-Projekts zu korrigieren, als er gemeinsam mit Lorini und Scamozzi an der Planung von Palmanova arbeitete, der gefeierten „idealen Stadt“ des 16. Jahrhunderts.
In Nicosia erwies sich die Garnison als hoffnungslos unterlegen. 4-5.000 Verteidigern standen 40.000 Angreifer gegenüber. Die Führung versagte. Nicosia fiel am 9. September 1570. Es war der 48. Tag der Belagerung.