Reiseführer Nordzypern
Namik Kemal (1840 – 1888)
1. April
1873: Im „Osmanli Tiyatrosu“ des Istanbuler Altstadtquartiers
Gedik Pascha erlebt Namik Kemals Schauspiel „Vatan yahut Silistre“ seine Uraufführung.
6. April 1873: Kemal und seine Freunde werden verhaftet.
10. April 1873: Ein Erlass (ferman) des Sultans zwingt Namik Kemal in die Verbannung im zyprischen Famagusta (Gazimagusa).
„Heilig ist das Vaterland, in seinem Schatten leben wir und sein Brot essen wir“, lässt Namik Kemal seine Hauptfigur verkünden. Das musste in den Ohren der Mächtigen wie eine anzügliche Umdeutung der althergebrachten Redensart vom „Schatten des Padischah, dessen Brot man isst“ klingen. Den vaterländischen Gedanken nicht ausschließlich mit der Herrscherdynastie zu verknüpfen, war eine unerhörte Brüskierung, dem Landes- oder Hochverrat schon bedenklich nahe. Die empörten Reaktionen waren absehbar, hatte Kemal doch Ideen der „Neuen Osmanen“ (Yeni Osmanlilar) in sein Werk einfließen lassen. Er war selbst Mitglied dieses von der Staatsmacht zerschlagenen Intellektuellenzirkels gewesen, der mitnichten auf einen Umsturz hinarbeitete, überzeugt davon, das marode politische System des Osmanenreiches durch Belehrung und Bekehrung seiner Herrscher reformieren zu können.
In „Vatan yahut Silistre“, der dramatischen Schilderung eines
russischen Angriffs auf die heldenhaft verteidigte osmanische Festung
Silistria an der Donau, stellt Namik Kemal das Streben nach persönlichem
Glück dem Einsatz für das Vaterland („vatan“) gegenüber.
Seine Darstellung selbstlosen Dienstes für die Heimat löste
zum Missbehagen der Machthaber eine Welle unkontrollierter nationaler
Begeisterung aus; es war, als hätte Kemal das Stichwort geliefert,
dass dem schier übermächtigen Wunsch nach brüderlicher
Solidarität in einer Zeit despotischer Regime Ausdruck verlieh. Zudem
wurde die türkische Öffentlichkeit wohl zum ersten Mal mit einer
aus europäischen Erfahrungen gespeisten neuen Sicht des Theaters
konfrontiert, welches nicht mehr nur Unterhaltungsstätte, sondern
auch „moralische Anstalt“ sein wollte.
Vom „Diwan-Poeten“ zum politischen Reformer
Als Neunzehnjähriger
übernahm Namik Kemal den Posten eines Zollsekretärs, danach
war er im Übersetzungsbüro der Hohen Pforte angestellt, wo ihm
seine gute Ausbildung in persischer und arabischer Sprache und Dichtung
zugute kam.
Zur entscheidenden Wende in seinem Leben wurde die Bekanntschaft mit Ibrahim
Sinasi, des Herausgebers der regimekritischen Zeitschrift „Tasvir-i
Efkar“. Als Sinasi 1865 nach Paris ins Exil ging, übernahm
Kemal die Leitung der Redaktion.
Der Kreis um den Journalisten Sinasi und die Schriftsteller Namik Kemal
und Ziya Pascha überschnitt sich mit dem Zirkel der „Neuen
Osmanen“. Hier wie dort hatten die als „kaiserliche Sendschreiben“
verkündeten Reformerlasse einiger Sultane zunächst das Denken
und Handeln geprägt. Immer mehr waren es aber die Ideen des Westens,
die Anklang und im „Tasvir-i Efkar“ ein breites Diskussionsforum
fanden – anfänglich unter Ibrahim Sinasi, dann unter Namik
Kemal. Doch 1867 sah sich Kemal, der glühende Patriot, ausgerechnet
dem Vorwurf „antipatriotischer Äußerungen“ ausgesetzt
und dem damaligen Brauch entsprechend mit einer „ehrenvollen Verbannung“
nach Erzurum im Range eines stellvertretenden Gouverneurs konfrontiert.
Ehe es dazu kam, floh er nach Paris, wo er kurzzeitig das Blättchen
„Muhbir“ veröffentlichte. In London gab er 1868/69 die
Zeitung „Hürriyet“ (Freiheit) heraus und kehrte nach
weiteren Aufenthalten in Brüssel und Wien auf Grund einer Amnestie
1870 nach Istanbul zurück. Hier schrieb er für die weniger radikale
Zeitung „Ibret“ und arbeitete an dem Text des Schauspiels,
das noch Furore machen sollte.
Verbannt nach Famagusta
Als er
seinen Fuß auf zyprischen Boden setzte, war kein Ende des Bühnenerfolgs
von „Vatan yahut Silistre“ abzusehen. In den folgenden achtunddreißig
Monaten seines unfreiwilligen Exils ging das Stück an die sechshundertmal
über die Bühnen von Izmir, Istanbul und des damals noch osmanischen,
seit 1912 griechischen Saloniki.
Dass es nicht dazu kam, was ein mitfühlender Chronist als „lange
und schwere Haft in der Feste Famagusta auf Zypern“ beschrieb, verdankte
Namik Kemal seinen vielen guten Kontakten und dem eigentümlichen
Instrument der „ehrenvollen Verbannung“. Zwar musste er zunächst
für eine gewisse Zeit ein zellenähnliches Verlies beziehen,
konnte dann aber durch die Fürsprache des zyprischen Gouverneurs
Mehmed Veis in das komfortable obere Stockwerk umziehen. Der Gouverneur
war es auch, der ihm andere Erleichterungen verschaffte. Von besonderem
Wert: die ungestörte Kommunikation mit der Außenwelt über
seine Besucher, die er ohne Einschränkungen empfangen konnte. Seine
Freunde in Istanbul und unter ihnen besonders Kronprinz Murad sorgten
für ein (fast) sorgenfreies Leben seiner Familie. Ihn selbst schienen
die „Privilegien“ eines ehrenvoll Verbannten zum Schreiben
förmlich anzuspornen. In dieser wohl fruchtbarsten Periode seines
literarischen Schaffens setzte er sich mit den großen Themen Freiheit,
Gerechtigkeit, Unterdrückung in zahllosen Dramen und Novellen auseinander.
Da er in Famagusta nicht publizieren durfte, erschienen seine dort geschriebenen
Werke unter einem Pseudonym oder wurden erst nach seiner Freilassung veröffentlicht.
Im Juni 1876 war er wieder ein freier Mann. Er wurde Mitglied des Staatsrats
und arbeitete in der Verfassungskommission mit. Doch seine ungebrochene
Schreiblust, seine spitze Feder, die auch vor der Hohen Pforte nicht Halt
machte, missfiel dem krankhaft argwöhnischen Sultan Abdulhamid. Er
ließ Namik Kemal aus allen Ämtern entfernen und erneut den
Weg in die „ehrenvolle Verbannung“ antreten – wieder
als „mütesarrif“ (Gouverneur), aber diesmal für
den Rest seines Lebens. Lesbos (1877-84) war die erste Station. Es folgten
Rhodos (1884-87), schließlich Chios, wo er 1888 starb.
Nachwirkungen
Wie kein anderer türkischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hat Namik Kemal die Literatur seines Landes an die brennenden Themen der Zeit herangeführt, sie von den Verkrustungen der „Diwan-Poesie“ und dem Mystizismus der Sufi-Schriften befreit. Kritischen Journalismus, bis dahin verpönt, machte er zu einem Instrument der öffentlichen Meinungsbildung in den Zentren des Osmanischen Reiches. Er gilt als Schöpfer der neuzeitlichen osmanischen Prosasprache – wenn auch anfänglich „stilistisch noch ziemlich prätentiös“, wie ein Kritiker vermerkt.
Kemal und seine Mitstreiter brachten westliche Begriffe wie „Freiheit“,
„Demokratie“, „Liberalismus“ und „Patriotismus“
ins Land, aber sie zögerten auch nicht, den Islam gegen westliche
Vorwürfe zu verteidigen, er könne nicht reformiert werden. Der
schwierige Balanceakt, eine muslimisch geprägte und autokratisch
beherrschte Gesellschaft mit der Moderne vertraut zu machen, fand auch
unter den „Jungtürken“ (Jön Türkler), die als
neuer Reformerkreis den „Neuen Osmanen“ nachfolgten, Förderer
und Nachahmer. Aus ihrem Umkreis kam Atatürk. In seinem Reformwerk
– mehr schon eine Kulturrevolution – finden sich auch die
Ideen der Verwestlicher und Modernisierer um Namik Kemal wieder.
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