Granatapfel-Baum
„Außen eins, innen tausend und eins – was ist das?“ fragt
ein altes türkisches Rätsel. Die Antwort „der Granatapfel“ führt
zu einer wahrhaft märchenhaften Frucht, von deren erstaunlichen
Verwandlungen und Eigenschaften die Mythen und Überlieferungen der
levantinischen Völker und ihrer östlichen Nachbarn erzählen.
Es sind eher unscheinbare und wirr verzweigte knorrige Sträucher,
nur selten wirkliche Bäume, an denen die Granatäpfel gedeihen.
Umso spektakulärer wachsen sie heran: wie ein farbenfrohes Signal
entfalten sich im ledrigen Laub ihre scharlachroten, glockenförmigen
Blüten, die sich im Laufe eines heißen Sommers in nicht weniger
auffallende orangefarbene, blassgelbe oder in sattes Rot getauchte Früchte
verwandeln. Doch war es weniger ihre Farbenpracht, die sie schon im
3. oder gar 4. Jahrtausend v. Chr. in den altorientalischen Reichen
von
Akkad, Sumer und Elam zu einer begehrten Handelsware machte. Es war
ihr Innenleben, ihr saftreiches, aromatisches Fruchtfleisch.
Der lange Weg nach Westen
Hier, in den Vorläuferreichen Babylons an Euphrat und Tigris, wird die Urheimat des Granatapfelbaumes vermutet. Er breitete sich in den syrisch-palästinensischen Raum aus, von wo er durch die Feldzüge des Pharao Thutmosis III. um 1500 v. Chr. nach Ägypten gelangte. Mit phönizischen Händlern erreichte er die nordafrikanische Küste, auch Griechenland und Ionien. Griechische Kolonisten nahmen ihn mit nach Unteritalien, wo er nahezu zeitgleich durch Vermittlung der Phönizier auch aus Nordafrika eintraf. Von Unteritalien nahm der Fruchtbaum seinen Weg nach Spanien. Die Pyrenäenhalbinsel war Jahrhunderte später Ausgangspunkt für Kolonisten, die sich im neuentdeckten Amerika niederließen. Mit ihnen erreichte der Granatapfel Anfang des 17. Jahrhunderts die westindischen Inseln und das amerikanische Festland, seit 1769 ist er in Kalifornien nachgewiesen und wenig später wurde er auch in Arizona angebaut.
Symbol der Fruchtbarkeit
Darstellungen
in der bildenden Kunst und Keilschrifttexte, die bei Grabungen zutage
kamen, zeugen von der kultischen Verehrung des Granatapfels
schon
in den frühen altorientalischen Reichen. Der robuste, langlebige
Baum und die Frucht mit ihren unzähligen Samenkernen symbolisierten
Vegetation und Fruchtbarkeit. Das illustriert besonders eindrücklich
eine reliefierte Alabaster-Kultvase aus dem mesopotamischen Uruk, das
zeigen die Darstellungen von Granatapfelbäumen auf mittelassyrischen
Elfenbeinplättchen oder die Ornamente einer getriebenen Goldschale
aus dem Kleinkönigreich Ugarit an der syrischen Nordküste.
Der „Früchtebaum des Lebens“ ist auch in die Schriften
des Alten Testaments eingegangen. So in die Schöpfungsgeschichte,
in die Erzählungen des Propheten Ezechiel und in die Offenbarung
des Johannes.
Lebensbaum und Granatapfel gerieten zu einem alle Lebensbereiche der
antiken mediterranen und nahöstlichen Gesellschaften durchdringenden
Motiv: den Toten Ägyptens wurde der Granatapfel ins Grab gelegt,
Baumeister formten nach ihm die Kapitelle des Salomonischen Tempels,
selbst auf altpersischen Teppichen erscheint sein Abbild. Auf pompejanischen
Fresken kann man ihn entdecken und ebenso auf unzähligen Münzen.
Zyperns orthodoxe Kirche ließ sich auf bizarre Verflechtungen ihres
Marienkults mit der tief in der Volksseele verankerten Aphrodite- und
Granatapfelverehrung ein wie etwa bei der Namensgebung des Troodos-Klosters „Panaghia
Chrysoroyiatissa“, was „Unsere Heilige Jungfrau vom Goldenen
Granatapfel“ bedeutet. Und noch heute wird unter den Griechen Zyperns
ein auf antike Vorbilder zurückgehender Hochzeitsbrauch gepflegt,
nach dem ein Granatapfel vor dem Hochzeitspaar auf den Boden oder gegen
dessen Haus zu schleudern ist, damit er zerspringe, Liebe und Fruchtbarkeit
verheißend.
„Von Aphrodite gepflanzt“
Archäologen fanden in der spätbronzezeitlichen Siedlung Hala
Sultan Tekke nahe Larnaca verkohlte Samenkerne und verdorrte Schalenfragmente
des Granatapfels. In Enkomi, einer anderen bronzezeitlichen Siedlung
am östlichen Ende der Mesarya-Ebene, konnten sie einen winzigen
goldenen Anhänger und eine Glasvase, beide in Granatapfelform,
bergen. Auf welchem Wege und wann die Pflanze auf die Insel kam, ist
ungewiss.
Wenn Stränge der zyprischen Geschichte sich im Dunkel der Vorzeit
verlieren, kommt nicht selten Aphrodite, die rätselhafte Göttin
der Liebe, ins Spiel. So auch hier. „Nächst der bräutlichen
Myrte war der Granatapfelbaum die besondere Lieblingspflanze der Aphrodite,
welchen die Göttin vor allen anderen Bäumen in Kypros gepflanzt“,
sagt das Dichterwort, dabei die orientalische Herkunft des Baumes und
die orientalischen Wurzeln der Überbringerin Aphrodite (=Astarte)
vage andeutend.
Doch das Land haben andere Fruchtbäume geprägt: Johannisbrotbaum,
Olivenbaum, der Weinstock und auch der Feigenbaum. Granatapfelbäume
wurden selten in Hainen angebaut. Seit dem 18. Jahrhundert war die Gegend
um Famagusta ein Zentrum ihrer Kultivierung und dort forcierten die Engländer
auch für einige Jahrzehnte den Anbau: „Nirgendwo sonst auf
Zypern werden Granatäpfel so perfekt gezogen wie in der Umgebung
von Famagusta. All` die Schiffe, die jetzt im Hafen liegen – es
sind acht oder zehn – laden Granatäpfel, die sie nach Alexandria
in Ägypten, nach Akkon an der palästinensischen Küste
und nach Iskenderun im Norden Syriens transportieren. Der Khedive (Vizekönig)
von Ägypten und der Vali (Gouverneur) von Syrien essen Granatäpfel
aus Famagusta“, schrieb ein englischer Reisender 1879 in sein Tagebuch.
Und ein anderer erinnert sich: „Im Herbst hatte ich dort die besten
Granatäpfel gegessen, die im Munde förmlich zerflossen“.
Fein säuerlich und saftig
Halbiert
man einen Granatapfel, liegt sein interessantes Innenleben bloß. Membranartige, sechs bis zwölf Kammern bildende Trennhäute
werden sichtbar, die vollgepackt sind mit Samen. Jeder einzelne ist in
rotes, durchscheinendes, knackiges Fruchtfleisch gehüllt. Welche
erfrischenden Köstlichkeiten sich daraus zubereiten lassen, verrät
unser Kapitel „Kulinarische Notizen und Rezepte“.
Der Granatapfel (türk.: nar) hat die Größe einer Orange,
spezielle türkische Züchtungen erreichen sogar das Format riesiger
Grapefruits. Seine Lederhaut trägt an der Spitze die charakteristischen,
kronenartigen Kelchzipfel, Überbleibsel der Kelchblätter der
leuchtend roten Blüten.
Heiß muss es sein und regenarm. So gedeiht der Granatapfel am
besten. Die feuchten Tropen behagen ihm dagegen nicht. Als Vertreter
der semiariden
Gebiete bevorzugt er den Nahen Osten und das Mittelmeergebiet, wo er
in die Sommertrockenzeit hinein reifen kann.