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Zweimal Weltkulturerbe – die Liebfrauenkathedrale und der Glockenturm von Tournai

Tournai, eine von zahlreichen Kirchtürmen bestimmte Stadt, blickt auf eine über 2000-jährige Geschichte zurück und war im 5. Jahrhundert die erste Hauptstadt des Frankenkönigs Chlodwig. Doch auch schwere Zeiten sah die Stadt an der Schelde: Im 16. Jahrhundert geriet Tournai wie auch das nahe gelegene Oudenaarde in den „Strudel" der Reformation und Gegenreformation. Die in der Stadt ansässigen Teppichweber bekannten sich zur Lehre des Genfer Reformators Johannes Calvin. Doch spanische Truppen machten diesem Treiben alsbald ein Ende. Unter den zahlreichen Baudenkmälern der Stadt gehören zwei, der frei stehende Glockenturm (frz. Beffroi) und die Liebfrauenkathedrale (Cathédrale Notre-Dame), seit einigen Jahren zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Belgien - Wallonien - Tournai - Welterbe Glockenturm und Liebfrauenkathedrale
Vorne der Glockenturm, dahinter die Türme des
Weltkulturerbes Liebfrauenkathedrale © fdp

Ein Haus Gottes aus blaugrauem Stein

Der bedeutendste Sakralbau der Stadt – er ist in einem Atemzug mit den auch zum Weltkulturerbe zählenden Kathedralen von Chartres und Amiens zu nennen – ist die Liebfrauenkathedrale. Diese fünftürmige, viergeschossige Kathedrale aus blaugrauem Kalkstein, im Wesentlichen zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert erbaut, gilt als eine der schönsten romanisch-gotischen Kirchen Westeuropas. Zugleich ist sie mit einer Länge von 134 Metern eine der größten Kirchen Belgiens. Gewaltig ist auch die überbaute Fläche von mehr als 5000 Quadratmetern.

Belgien - Wallonien - Tournai - Mittelschiff der Liebfrauenkathedrale mit Rosette
Blick in das Mittelschiff der Liebfrauenkathedrale mit
der Rosette, einem gotischen Stilelement © fdp

Das Mittelschiff weist vier Stockwerke auf, die einem Aquädukt gleichen. Geprägt wird es durch monolithische, achteckige Säulen, die Arkadengalerie im ersten und die Blindarkaden des Triforiums im zweiten Stockwerk, die Fenstergalerie und das abschließende Kreuzgratgewölbe. Besonders hinzuweisen ist auf die Gestaltung der Säulenkapitelle: Zu sehen ist in der Nähe zum Südportal ein fallender Mann. Möglicherweise ist diese Figur aus einer „eindeutigen Pose" in die jetzige Lage gebracht worden. Dreht man die jetzige Figur nämlich um, dann könnte es sich um einen Mann mit nacktem Gesäß handeln, der seine Notdurft verrichtet.

Reich mit Steinmetzarbeiten versehen ist das Nordportal (Mantilius-Portal) des Querschiffes. Dort erblickt man vielfältige figürliche Darstellungen wie die eines Geizhalses mit einem Geldsack, der von einem Teufel gepackt wird. Aus der Zeit der Renaissance stammt der triumphbogenförmige Lettner (1574). Er ruht auf roten Marmorsäulen und ist mit biblischen Szenen aus dem Alten (Medaillons) und dem Neuen Testament (Vierecke) dekoriert. Die jeweiligen Szenen der unteren und oberen Reihe entsprechen einander. In den runden Medaillons aus Alabaster findet man zum Beispiel rechter Hand Isaak mit Holzbündel und Abraham sowie darüber Christus auf dem Weg nach Golgatha. Die Statuen des St. Piatus und des St. Eleutherius (455–530), des ersten Bischofs von Tournai während der Zeit Chlodwigs, sind zusätzliches Schmuckwerk des Lettners, der von Cornelis Floris entworfen wurde. Hinter diesem öffnet sich der gotische Hochchor mit seinen ungewöhnlichen Ausmaßen: Höhe 36 Meter, Länge 58 Meter.

Belgien - Wallonien - Tournai - Teil des Lettners in der Liebfrauenkathedrale
Detail des Lettners in der Liebfrauenkathedrale © fdp

Zu den Kunstschätzen der Kathedrale gehören u. a. das Gemälde „Kreuzigung“, das dem Antwerpener Maler Jacob Jordaens zugeschrieben wird und Peter Paul Rubens Arbeit „Die Erlösung vom Fegefeuer“. Das 1635 entstandene Gemälde gelangte dank der Schenkung des Bischofs von Tournai, Maximilien Villain de Gand, in die Kathedrale von Tournai. In der Schatzkammer werden Kostbarkeiten wie der Marienschrein des Nicolaus von Verdun und der Schrein mit den Gebeinen des hl. Eleutherius aufbewahrt.

Restaurierungen und archäologische Grabungen

Seit einigen Jahren finden umfängliche archäologische Untersuchungen im Mittelschiff und im nördlichen Seitenschiff statt. Diese Untersuchungen gehen mit der grundlegenden Instandsetzung und Restaurierung der Kirche einher, die bei einem Sturm vor einigen Jahren erheblichen Schaden genommen hatte. Der aktuelle Zeitplan sieht für das Jahr 2009 die Beendigung der archäologischen Grabungen sowie die Stabilisierung der Statik des Kirchenschiffs und die Instandsetzung des Mantilius-Portals und des Kapitol-Portals vor. 2010 werden die Fassade und die Bedachung des nördlichen Querschiffes und des Brunin-Turms in Angriff genommen. In den nachfolgenden Jahren sollen bis 2014 die übrigen Türme der Kathedrale restauriert werden. Besucher werden also beim Kirchenbesuch noch eine Weile eine Baustellenatmosphäre erleben.

Belgien - Wallonien - Tournai - Liebfrauenkathedrale
Von überall zu sehen: die Liebfrauenkathedrale © fdp

Unter dem romanischen Teil der heutigen Kathedrale haben die Archäologen eine für jene Zeit außerordentlich große Kirche aus dem 11. Jahrhundert entdeckt. In tieferen Ausgrabungsschichten kamen Gebäudefragmente aus karolingischer Zeit zum Vorschein. Vier Meter unter dem heutigen Bodenniveau der Kathedrale stießen die Archäologen auf einen profanen oder religiösen Bau aus dem 5. Jahrhundert.

Für Schlagzeilen sorgte die Kathedrale, als im Februar 2008 bewaffnete Räuber in die Schatzkammer eindrangen und am helllichten Tag reiche Beute machten. Unter den geraubten Kostbarkeiten befand sich ein byzantinisches Kreuz aus dem 5. oder 6. Jahrhundert. Das Kreuz ist so wertvoll, dass sich kein Versicherer fand, der es versichern wollte, abgesehen für den Tag der Prozession, an dem es mitgeführt wurde. Für einen halben Tag belief sich die Versicherungssumme auf 25 Mio. Euro.

Der Glockenturm von Tournai

Am Rand der dreieckigen Grand Place ragt der heute 72 Meter hohe Glockenturm in den Himmel. Auf den vier Ecktürmchen des Bauwerks entdeckt man vier Skulpturen, die einen Bogenschützen, einen Armbrustschützen, einen Schwertkämpfer und einen Kanonier darstellen. Dieser viereckige Turm, der wohl älteste Belgiens und seit 1999 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, wurde während der Regentschaft von König Philipp-August von Frankreich im 12. Jahrhundert erbaut. Da sich der französische König die Unterstützung der Bürger von Tournai in seinem Kampf mit dem Grafen von Flandern sichern wollte, befürwortete er den Bau, der die „Freiheit der Stadtluft“ symbolisiert.

Belgien - Wallonien - Tournai - Gran dPlace mit Glockenturm
Die Grand Place mit Glockenturm © fdp

Anfänglich besaß der Turm nur eine Höhe von 30 Metern. Da er in der Nähe der Kathedrale stand, sollte niemand – so wollte es der Zeitgeist des 12. und 13. Jahrhunderts – von oben auf den Sakralbau herabblicken und sich somit über die Kirche „erheben“. Infolge eines Stadtbrandes, bei dem 1391 auch der Glockenturm beschädigt wurde, musste der Turm wieder aufgebaut werden. Neben der Aufgabe als Wachturm erfüllte er in der Folgezeit auch die Funktion eines städtischen Gefängnisses. Erst 1535 erhielt der Turm auf Beschluss des Rates der Stadt sein Glockenspiel. Nach mehrjähriger Restaurierung, die bis 2002 andauerte, kann der Turm nun wieder über 257 Stufen erklommen werden. In den Ausstellungsräumen kann man sich ein Bild über die Geschichte und die Aufgabe des Glockenturms und des Glockenspiels verschaffen.

Weitere Informationen

Office du Tourisme de Tournai
Vieux Marché aux Poteries, 14
7500 Tournai
Tel. 0032 / (0)69 22 20 45
tourisme@tournai.be
http://www.tournai.be (auch in Englisch!)

Kathedrale von Tournai
http://www.cathedraledetournai.be/ (auch in Englisch!)

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