Eugeen Van Mieghem
Mit Eugeen Van Mieghem (1875-1930) wurde 2001 und 2002 erstmals in Deutschland ein flämischer Maler vorgestellt, der fast vergessen ist und dennoch ein wichtiger Vertreter der Kunst des 20. Jahrhunderts ist und zwischen Symbolismus und Moderne eingeordnet werden kann. Seit 1993 besteht in van Mieghems Heimatstadt Antwerpen ein Museum, das sein Schaffen bewahrt. Dabei muss man von van Mieghem als einem Außenseiter sprechen, dessen akademische Karriere einen Knick aufweist, da er wegen anderer Malauffassung von der Akademie verwiesen wurde, jedoch dorthin 1920 als Professor wieder zurückkehrte. Insbesondere seine Ausstellungen 1905 und 1914 im Rahmen des Salon von Kunst van Heden - u . a. mit Christian Rohlfs, James Ensor und Rik Wouters - schufen zumindest zu diesem Zeitpunkt eine breite Öffentlichkeit für sein Werk. Besonders die Arbeiten aus der kurzen Zeit seiner Ehe zwischen 1902 und 1905, in denen er vornehmlich in Pastell das allmähliche Siechtum seiner Frau bildlich festhielt, sind von großer Intensität. In der Ausstellung sind über 90 Arbeiten zu sehen, in denen sich der Umbruch in der Kunst und Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Neben den Impressionen aus dem Hafen von Antwerpen sind vornehmlich die Bildnisse von Augustine van Mieghem zu sehen, so auch in Pastell und schwarzer Kreide "Augustine mit Hut", 2.2.1902.
Van Mieghem, im Hafengebiet von Antwerpen aufgewachsen, sah in Edgar Degas, Honoré Daumier und Th. A. Steinlen seine Vorbilder, ohne deren Kompositionstechniken und Stile zu kopieren. Stattdessen war er stets auf der Suche nach neuen Motiven, die er im geschäftigen Hafen, im Rotlichtmilieu und in den in Antwerpen gestrandeten Zuwanderern aus Osteuropa, von dort vertriebene Juden, fand. Auch die Vorboten und Folgen des I. Weltkriegs sind in van Mieghems Bildern zu finden, so in "Die Kriegsflüchtlingen" (1914): die Luft von Ruß geschwängert, nur ein zu erahnender Umriss der Liebfrauenkathedrale im Hintergrund, gebückt unter der Last ihrer Bündel die Zufluchtsuchenden, einige von ihnen einen Handkarren mit Habseligkeiten schleppend. In bedrohlich wirkender brauner und schwarzer Kreide entstand "Der Kaiser": der gezwirbelte Bart, die Pickelhaube, der Pelzkragen und hinter dem kaiserlichen Porträt die verbrannte Erde und die zu erahnenden Leichenberge - eine Anklage gegen den Wahn des Krieges.
Nach der Heirat mit der Malerin Augustine Pautre wurde diese zu seinem bevorzugten Modell, als vornehme Dame, als Mutter, als Schwangere, als Kranke. Dabei erinnert dies ein wenig an Rembrandt und Saskia. So entstand u. a. "Augustine tagträumend" (1904) oder "Augustine krank im Bett" (1905) oder "Augustine krank", 3.2.1905 - ein Halbakt. Alle Porträts verraten in ihrer Intensität die enge Beziehung zwischen Maler und Modell. Der sich verändernde körperliche Zustand, das Dahinsiechen - Augustine litt an Tuberkulose, an der sie auch verstarb - , das Ausmergeln, die Verzweiflung und der Kampf ums Überleben drücken sich in diesen Arbeiten auf eindrückliche Weise auf. Dabei überwiegen gedämpfte und dunkle Farbnuancen, die bereits das nahende Unheil, den Tod der Geliebten, heraufbeschwören. Dieser Tod stürzte van Mieghem in eine tiefe Lebenskrise, und es dauerte Jahre, ehe er wieder öffentlich ausstellte und erfolgreich war.
Die genaue Beobachtungsgabe ist es, die van Mieghem in seinen übrigen Arbeiten auszeichnet. Er ist gleichsam ein Dokumentarist und Archivar mit der Pastellkreide und Bleistift. Ihm liegen die Ganoven und Huren ebenso wie die Gestrandeten und die Hafenarbeiter am Herzen. Wie hart das Leben war, auch und gerade jenseits der Legalität, war, unterstreicht er in einer Serie von Kreiden, zu der auch "Der Kleine Ganove" (1904) gehört.
Während andere Künstler wie Otto Dix oder Ernst Barlach als Kriegsteilnehmer Erfahrungen mit der Brutalität des Stellungskrieges des Ersten Weltkriegs sammelten, nahm van Mieghem nicht am Kriegsgeschehen teil. Er nahm im Hinterland die Folgen des Ersten Weltkrieges wahr und hielt diese in Bleistiftzeichnungen fest: Vertreibung und Verfolgung sind seine wichtigsten Themen. So wartet eine Schar Mädchen vor der "Öffentlichen Suppenküche" (1918), gerät einer der Hauptakteure des Krieges in den Blick: "Der Kaiser". Der Betrachter erlebt in einer anderen Arbeit ein Getümmel und Tumult zwischen Gendarmerie und Demonstranten zu Füßen der Liebfrauenkathedrale. Vor der ausgebrannte Ruine stehen "Kriegsflüchtlinge" (1915). In ungewöhnliche schmalen und hohen Format erscheint "In der Straße", in der sich ein Paar mit wärmenden Umhängen ein wenig verloren bewegt.
Die Pogrome von 1900 bis 1908 in Russland und andern Ländern Osteuropas schwemmten die Verfolgten in den Hafen Antwerpens. Dort warteten sie auf die Einschiffung auf eines der Ozeanschiffe der "Red Star Line", die sie nach Amerika bringen sollten. Allein drei Millionen Auswanderer verließen zwischen 1872 und 1936 Europa über Antwerpen. Deren Schicksal verfolgte van Mieghem sehr aufmerksam und bannte diese Menschen auf Papier, so auch in "Jüdische Auswanderer auf dem Weg nach New York mit der Red Star Line" (1899).
Auch die Stadt und der Hafen waren Motive von Kreiden und Zeichnungen van Mieghems, so "Das Getreidehebewerk" (1912) oder "Tanzende Kinder" im blauen Dunst eines Wintertages. Zu diesem Zyklus von Arbeiten gehören auch "Auf der Scheldeterrasse" und "Nachts im Dock".
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