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Ronse – zwischen surrenden Webstühlen und Art déco

Nein, dieses Städtchen an der Sprachgrenze von Flandern und Wallonien ist nicht zu vergleichen mit Brügge, Gent und Antwerpen, die Jahr für Jahr Besucherscharen anlocken. Ronse ist eher eine Perle im Verborgenen, vor allem für diejenigen, die an der Architektur des 20. Jahrhunderts interessiert sind. Berlin hat seine Großsiedlungen des 20. Jahrhunderts wie die Hufeisensiedlung – unterdessen Teil des Weltkulturerbes –, Ronse hingegen sein Art-déco-Wohnquartier, das allerdings auf die „Adelung“ als Weltkulturerbe bisher noch warten muss. Dass wir in Ronse ein Städtisches Textilmuseum (MUST) vorfinden, hat damit zu tun, dass Ronse bis heute ein Standort der Textilindustrie ist, jedoch nicht vergleichbar mit dem Stand dieser Industrie im späten 19. und im 20. Jahrhundert.

Art Déco in Ronse

Ehe wir uns jedoch mit der Geschichte der heimischen Textilindustrie befassen und das MUST besuchen, wollen wir die Stadt zu Fuß erkunden. Gleich drei Türme springen uns im Stadtbild ins Auge: der Turm der gotischen Sankt-Hermes-Kirche (1) , der Turm der neogotischen Sankt-Martinus-Kirche und der spätgotische Turm der alten Sankt-Martinus-Kirche (2), südlich der Sankt-Hermes-Kirche.

Die Sankt-Hermes-Kirche

Dieser Kirchenbau erlebte eine wechselvolle Geschichte. Kriege, der sogenannte Bildersturm und ein Brand im Jahr 1559 setzten dem Bau schwer zu. Kirchenmöbel, Gemälde und Skulpturen gingen für immer verloren. Errichtet wurde der 74 m lange, dreischiffige Sakralbau auf einem kreuzförmigen Grundriss. Eingebaut in das Kirchenschiff ist der gotische Westturm. Aus rötlichem Eisenstein wurde das nördliche Querschiff in romanischem Stil errichtet. Teil des Sakralbaus ist zudem der 28 m lange Chor. Im Inneren findet sich in der Kapelle zu Ehren des hl. Hermes ein marmorner Hochaltar mit Reliquienschrein und im Chor das sehenswerte Rokokochorgestühl aus dem 18. Jahrhundert. Ein architektonisches Schmuckstück ist die romanisch-gotische Krypta, die im Mittelalter wegen der dort aufbewahrten Reliquien des hl. Hermes zu einem Wallfahrtsort wurde. Heute befindet sich im Zentrum der von backsteinernen Rippengewölben abgeschlossenen Krypta immer noch ein goldener Schrein. Dieser ist jedoch die Kopie des Originals, das in den Wirren des sogenannten Geuzenkriegs eingeschmolzen wurde. Zu sehen sind in der Unterkirche außerdem Hunderte von Fragmenten eines Renaissance-Lettners, der einst die Trennung von Chor und Kirchenschiff bildete, ein Reliquienschrein aus merowingischer Zeit und zahlreiche Grabsteine von Geistlichen aus dem 11. und 12. Jh. sowie Funde aus gallo-römischer Zeit.

In der Krypta der Sankt-Hermes-Kirche (Ronse)

In der Krypta der Sankt-Hermes-Kirche

Nur einen Katzensprung von der Sankt-Hermes-Kirche entfernt, reckt sich der Turm der alten Sankt-Martinus-Kirche gen Himmel. Es handelt sich dabei um ein Bauwerk aus der Spätgotik und ist das Überbleibsel der am Ende des 19. Jahrhunderts geschlossenen alten Sankt-Martinus-Kirche. Der aus Backsteinen errichtete Turm hat eine achtseitige Glockenkammer mit einem Spitzbogenfries. Wenden wir uns der nächsten Kirche zu, die gleichfalls dem hl. Martinus geweiht ist. Sie entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert in neogotischem Stil und springt wegen der verbauten feuerroten Backsteine gleich ins Auge.

Das neoklassizistische Rathaus (3) befindet sich im Zentrum der Stadt, am Grote Markt. Hier steht auch ein 12 m hoher Obelisk, der gleichfalls von einem Doppeladler abgeschlossen wird und Teil einer Brunnenanlage ist. Zweimal in der Woche findet auf dem Grote Markt auch Markt statt – eher ungewöhnlich für Flandern.

Art déco in Ronse

Ähnlich wie in St.-Niklaas besteht auch in Ronse ein Quartier, das ganz und gar in diesem Stil der sogenannten Zwischenkriegszeit erbaut wurde. Im Gegensatz zum floralen und verspielten Jugendstil setzte Art déco auf geometrische und horizontale Strenge und bevorzugte verschieden farbige Backsteine als Baumaterial. Zement kam als Baumaterial ebenso zum Einsatz wie kostbare Hölzer, darunter Ebenholz. Zirkel, Viereck und konzentrische Kreise sind typische Formen des Bauzierrats. Keramikkacheln in Grün, Azurblau oder Braun als Wandverkleidungen sind ebenso wie Buntglasfenster kennzeichnend für den Stil der Art déco.

In der J.-B. Mouroitplein (Ronse)

In der J.-B. Mouroitplein

Wir beginnen unseren Rundgang an der von einem Wassergraben umgebenen Hoge Mote, einst ein wichtiges Verteidigungswerk und später das Wohnhaus eines Textilbarons nebst angegliederter Textilfabrik. In unmittelbarer Nachbarschaft, rund um den J.-B. Mouroitplein (4), findet man einige Art-déco-Wohnhäuser. Tiefrot ist der Backstein mit denen die Bürgerhäuser zwischen 1936 und 1938 erbaut wurden, die teilweise ein Sattel-, teilweise aber auch ein modernes Flachdach aufweisen. Beteiligt waren unterschiedliche Architekten, die jeweils eine eigene Handschrift besaßen. Daher sieht man auch Bauten, errichtet in leicht orangefarbenem Backstein und versetzt mit weißen Steinlagen und weißen „Dachfirsten“. Aufwändig gestaltet sind einige Türen, deren Zierrat an Fasanenfedern und aufgerollte Farnwedel erinnern. Mitten auf dem Platz entdecken wir Rik Wouters Skulptur „Die häusliche Sorge“.

In der J.-B. Mouroitplein (Ronse)

In der J.-B. Mouroitplein

Weiter geht es zum Kerkplein, wo die bereits beschriebene neogotische Sankt-Martinus-Kirche zu finden ist. Durch die Charles de Gaullestraat und Gefusilleerdenlaan (5) setzen wir den Rundgang fort, bis wir zur Pessemiersbrug gelangen, eine der frühen Betonkonstruktionen der 1920er Jahre. Zu unserer Linken entdecken wir eine der Perlen der Art déco mit vor- und zurückspringenden Bauelementen in gelborangefarbenem Backstein und einem Treppenhaus, das durch die durchgehende vertikale Durchfensterung akzentuiert wurde.

In der Gomar Vandewielelan (Ronse)

In der Gomar Vandewielelan

Auf geht es zur Viermaartlaan (6) mit einigen sehenswerten Stadthäusern mit und ohne große, rundbogige Fenster und bauchige Erker. In der Gomar Vandewielelaan (7) setzen wir unsere Entdeckungsreise in Sachen Art déco fort. Man sollte besonders die Häuser mit den Nummern 69, 67, 65 und 63 in Augenschein nehmen.

Wie auch der Mouroitplein ist in dieser Straße eine einmalig geschlossene Architektur aus der Blütezeit der Art déco zu bestaunen. Gleichsam rhythmisiert wurden die Häuser abwechselnd in gelbem und dunkelrotem Backstein erbaut, mal mit ausladenden Balkonen, mal mit runden Erkerfenstern. In Nr. 63 ist die weiße Doppeltür mit einem geteilten, linsenförmigen Oberfenster ein besonderer Hingucker.

In der Leopold Sturbautstraat (Ronse)

In der Leopold Sturbautstraat

Wer meint, nun gäbe es nichts mehr zu sehen, der war noch nicht in der Leopold Sturbautstraat (8), die - mit dem Jahr 1930 beginnend - in einheitlicher Architektur bebaut wurde. Besonders eindrucksvoll gestaltet ist das Eckgebäude der Nr. 2 mit einer vertikalen Betonung und einer Mischung aus braunen und gelben Steinlagen. Braune Backsteine, teilweise so verbaut, als hätten Schiffsaufbauten Pate gestanden, entdecken wir in der Hausanlage der Nr. 47. Die so typischen farbigen Zierkacheln finden wir bei dem in gelbem Backstein erbauten Haus Nr. 32 und im teilweise blau gekachelten Eingangsbereich des Hauses 26. Am Koningin Astridplein und in der Pierre D'Hauwerstraat stoßen wir zudem auf weitere Reihen- und Einzelhäuser, die gewiss dazu beitragen, dass man Ronse als Juwel der belgischen Art-déco-Architektur bezeichnen kann.

In der Leopold Sturbautstraat (Ronse)

In der Leopold Sturbautstraat

Von Jaquard- und anderen Webstühlen

Zum Abschluss unseres Tagesausflugs nach Ronse machen wir einen Abstecher ins Städtische Textilmuseum (9), das nur im Rahmen von Führungen besucht werden kann. Untergebracht ist das Museum in der ehemaligen Textilfabrik Cambier-Robette.

Beim Besuch taucht man zunächst in die Welt der Näherinnen ein, die nach Schnittmuster in Heimarbeit Kleidung nähten. Doch neben dieser Heimarbeit gab es recht früh auch Industriearbeit im Ort. Bereits 1803 wurde in der heutigen Kasteelstraat die erste Textilfabrik mit 180 Webstühlen eingerichtet. 280 Beschäftigte waren damals dort in Lohn und Brot. Gezeigt wird ein mechanischer Marionetten-Webstuhl Schönherr aus Chemnitz ebenso wie ein um 1920 von Snowden Shipley entwickelter Webstuhl. Carl Hamel aus Schönau hingegen konstruierte die Spinnmaschine für 80 Spulen.

Eine Webbreite von 123 cm und 160 Schüsse pro Minuten war um 1900 der Stand der Technik. Im Zuge der technischen Entwicklung konzipierte man Webstühle, bei denen man bis zu 24 verschiedene Kettfäden verwenden konnte. Und auch die Breite des zu webenden Stoffes veränderte sich mit veränderten Maschinen. Auf dem in Roubaix um 1920 entwickelten Webstuhl Nuyts konnte man bereits Stoffe mit 183 cm Breite produzieren. Man sieht beim Rundgang auch vier Jacquardwebstühle, für die Lochkarten entwickelt wurden, um Stoffe weben zu können. Während des Rundgangs werden die Maschinen teilweise in Betrieb genommen und dann erklingt „Webstuhlmusik“, mal „Rock 'n Roll“ und mal „Techno“, wie unser Begleiter André mit spitzbübischem Lächeln erläuterte.

Kunstgewerbe im Stil des Art Déco (Ronse)

Kunstgewerbe im Stil des Art Déco

Wohnkultur und Riesenfiguren

Über den Innenhof der Hoge Mote, im Mittelalter das Pastorenhaus und in der Zeit der ersten Industrialisierung ein Herrenhaus, erreichen wir einen weiteren Teil des Städtischen Museums. Hier kann man sich mit der Stadtgeschichte von Ronse beschäftigen, erfährt Wissenswertes zu den Zünften im Mittelalter und zur bürgerlichen Wohnkultur während der Jahre 1920 bis 1950. Dass Art déco zuallererst im Design und Kunstgewerbe jener Jahrzehnte von Bedeutung war und dann in zweiter Linie in der Architektur, wird anschaulich durch die ausgestellten Gebrauchsgegenstände und Möbel unterstrichen. Was es mit „Staf, dem Weber“ und „Manse, der Spinnerin“ auf sich hat, bleibt beim Rundgang kein Geheimnis. Es handelt sich um zwei „Riesen“, die 1952 das Licht der Welt erblickten. Solche Figuren werden bei historischen und folkloristischen Stadtumzügen wie dem Ronser Winterkarneval Anfang Januar mitgeführt. 3,30 m groß und 40 kg schwer das ist die „Riesin“ Angeleki, die erstmals 1956 öffentlich zu sehen war und ihren Platz im Museum gefunden hat. Ihr zur Seite steht der Glockenspieler Ephrem, der 55 Kilo wiegt. Sollten wir also wiederkommen, wenn in Ronse Winterkarneval gefeiert wird, um die Riesen in Aktion zu sehen? Schauen wir mal.


Tourismusinformationen

Stadt Ronse
www.ronse.be

Toerisme Ronse
http://www.ontdekronse.be/nl

Wer Niederländisch versteht, kann auf den iWalk Ronse zurückgreifen und sich entsprechende MP3-Daten herunterladen: http://www.ronse.be/algemeen/ronse-beeld/i-walk/overzicht

Must - Museum voor textiel
Bruulpark
9600 Ronse
T +32 (0)55/23.28.16

 

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