Museum für spontane Kunst
Eigene Reiche auf der Leinwand
Die im Museum ausgestellte Kunst wandelt zwischen naiver Kunst und Art brut. Insoweit kann man vielleicht auch von Außenseiterkunst im weiteren Sinne reden. Denn was ist spontane Kunst? Keine Frage, wer das Museum besucht, der taucht in fremde Welten ein, die von Monstern und Toten, von tapferen Rittern, bizarren Paaren und religiösen Motiven beherrscht werden. Manche der Werke scheinen im manischen Eifer entstanden zu sein, andere mit überaus gestischem Duktus oder malerischer Akribie.
Der Tote von Brüssel
Gleich beim Betreten des Museums wird der Besucher mit dem „Toten von Brüssel“ und dem „Toten von Sint-Gilles“ Bekanntschaft machen. Doch es sind keine klassischen Vanitas-Darstellungen von Totenschädeln, sondern farbenfrohe Porträts, die hier ihren Platz gefunden haben. Betrachtet man die nackte Liegende in Eloi Boris’ „Paar“, meint man, Botero habe bei der Komposition Pate gestanden. An der Seite der drallen Dame hockt ein melancholisch dreinblickender Harlekin – fürwahr ein ungleiches Paar. Außerdem „schwebt“ ein einäugiger Minotaurus über die Schulter der Liegenden. Der in Rumänien geborene Künstler Octavia präsentiert eine Hinterglasmalerei, die sich mit ihrer Vorliebe für Gold an Ikonenmalerei anlehnt. „Ewiger Weg“ (1982) ist der Titel der Arbeit, die in einen alten Fensterrahmen eingefügt ist. Marie-Louise Pepersack hat hingegen in naiver Unbekümmertheit das Thema „Abschied“ bearbeitet: Ein berittener Krieger mit Lanze und Schild wird von drei Grazien, die jede eine Mohnblume in der Hand halten, verabschiedet. Im Hintergrund ragt das Torhaus einer Burg hinter einem Kornfeld hervor und am rechten Bildrand entdeckt man eine Bockwindmühle. Richtige Proportionen und Perspektiven sucht man in diesem Werk vergeblich.
Nicht nur Adam und Eva
Typisch für „Außenseiterkunst“ sind Bildmotive wie „Adam und Eva“, und so wundert es auch nicht, in der Ausstellung entsprechende Motive zu finden. Auch Christusfiguren sind in der „spontanen Kunst“ sehr beliebt, so auch bei Stroff, der einen gehörnten, gehängten Christustorso aus Draht, Pappmaché und Binden modellierte. Stroff, aus Brüssel-Molenbeek gebürtig, ist nicht allein als bildender Künstler bekannt, sondern auch als Sänger, Komponist und Schöpfer hyperrealistischer Werke. Doch diesen Beschäftigungen geht der Künstler seit 1984 nicht mehr nach. Seither beschäftigt ihn ausschließlich die gequälte Seele des Menschen und die Welt der Totem- und der Fetischfiguren, die er mit Wegwerfmaterialien und Pappmaché erschafft.
Dem aus Frankreich gebürtigen und in Brüssel arbeitenden Michel Goyen sind die in grellen Popfarben gemalten bizarren Welten von Fisch- und Maskenmenschen zu verdanken, die wir beim Besuch sehen. Nicht nur Malerei, sondern auch Collagen und kleine Installationen sowie skulpturale Arbeiten gehören zur Sammlung, darunter Jean Pierre Rostennes „Die Liebe“. Im Kern besteht diese Arbeit aus einem Schwarz-Weiß-Porträt, über das Glasscherben und ein Pinsel geklebt sind. In der oberen Bildecke befindet sich ein Handtäschchen. Der Rahmen des Werks ist mit Kordeln beklebt. Ist das Glück des Paares vielleicht zerbrochen? Deutet der Malpinsel auf den Schöpfer des Werkes hin?
Es bleibt bei der sehr dichten Hängung der Arbeiten kaum Zeit zum Nachdenken, wird der Blick doch auf andere Arbeiten gelenkt, wie auf einen vierbeinigen und fünfbusigen blauen Torso, der von weitem einem Kraken ähnelt und von Norbert Benoît (1912-1997) stammt und den eigenartigen Titel „Atomic Party“ trägt. „Vietnam Souvenir“ ist ein weiteres Werk von Benoît in der Schau: Es zeigt ein in Spiritus eingelegtes Soldatengehirn mit dem Zertifikat „Menschliche Dummheit“. Zudem sieht der Betrachter eine hölzerne Gliederpuppe, die mit Orden und dem Hakenkreuz dekoriert ist und zu deren Füßen ein Schild mit der Inschrift „Glorious War Blind“ zu finden ist.
Ungewöhnlich sind die reliefierten Stickbilder mit Porzellanfiguren, die Nora van Wezendonk zu verdanken sind. Gezeigt wird eine Strandspaziergängerin mit fliegenden roten Haaren. Im Meer schwimmen zwei Möwen aus Porzellan und auch die Strandläuferin ist aus Porzellan und Textilien gestaltet worden. Zur naiven Malerei des Museums gehören außerdem „Manneken Pis“ von Jean Francq und „Zug“ von Robert Janssen. Außerdem ist auch Daniel Durieux’ „Zirkus“ ausgestellt.
Anregung aus Magazinen
Mit zahlreichen Arbeiten ist Pierre Lefèvre im Museum vertreten: Sein Gemälde „Die letzte Audienz“ zeigt an einem „Abendmahlstisch“ fünf lachende Popen, deren Gesichter Totenschädeln gleichen. Bacons roter Kardinal mag bei der Komposition Anregung gewesen sein. Vom gleichen Künstler stammt außerdem „Der Wettlauf der Kellner“, die sich Mühe geben, ihre Tabletts mit den Getränken nicht aus der Hand zu verlieren. Zudem sind Lefèvres „Carnets de Croquis" zu sehen, Skizzenblöcke, die weiß gerahmt sind.
Aus Magazinen erhält Pascale Vincke seine Anregungen, auch für den Halbakt einer Frau mit riesigen Brüsten, die sich im Spiegel betrachtet. Nicht Hinterglas-, sondern Aufglasmalerei zeigt uns Evangile Papavassiliou in seinem „Goldporträt“, das auf einen fast erblindeten Spiegel gesetzt wurde. Dass der eine oder andere Künstler des Museums für spontane Kunst in seinem Leben Umwege wählen musste, eher er seiner Passion des Malens nachgehen konnte, unterstreicht die Biografie von Lise Brachet, die eigentlich Zahnmedizinerin ist und bis 1986 diesem Beruf auch nachgegangen ist. Künstlerin durfte sie nicht werden, da sie einer Familie von Naturwissenschaftlern entstammt und bildender Künstler als Beruf nicht akzeptiert wurde. Erst in ihrer zweiten Lebenshälfte konnte die Zahnmedizinerin mit dem Malen von „idyllischen Motiven“ beginnen. Zu ihren „poetischen“Arbeiten zählen „Extase des Regenbogens“ und „Zirkus im Herbst“.
Museum für spontane Kunst
27 rue de la Constitution
1030 Bruxelles
Tel / Fax: 32 2 426 84 04
Do-Sa 13-17 Uhr
Anfahrt
Trams: 92 - 93 -94 - 90 Bus: 65 - 6
http://www.musee-art-spontane.be