Radegast statt Rübezahl (2/2)

 

Das Wissenschafts- und Technologiemuseum auf dem Gelände des ehemaligen Witkowitzer Stahlwerk präsentiert alte Maschinen

Das Wissenschafts- und Technologiemuseum auf dem Gelände des ehemaligen Witkowitzer Stahlwerk präsentiert alte Maschinen

Für Technikbegeisterte hat Mährisch-Schlesien aber noch mehr zu bieten, denn die Region war einst das industrielle Herz der habsburgischen und später der tschechoslowakischen Schwerindustrie. Die Witkowitzer Eisenwerke im Süden der Stadt Ostrava wurden 1826 als Rudolfshütte gegründet. Zehn bzw. dreizehn Jahre später, 1836 und 1839, hat man die ersten beiden Hochöfen errichtet. Im Jahr 1843 übernahm Salomon Rothschild das Unternehmen. Er besaß die Konzession für den Bau der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn von Wien nach Krakau, deren Schienen zum großen Teil in den Witkowitzer Eisenwerken hergestellt wurden. Bis zum Einmarsch der Deutschen hielt die Familie Rothschild die Mehrheit am Unternehmen. Die Nationalsozialisten arisierten die Eisenwerke, gliederten die geraubten Anlagen in die Hermann-Göring-Werke ein und errichteten in der Nähe von Ostrava ein weiteres Werk für die Rüstungsproduktion, Nova Huta. Nach 1945 wurden die Eisenwerke dann verstaatlicht – und einige Jahre später nach dem tschechischen Minister- und Staatspräsidenten Klemens Gottwald benannt.

Ausblick vom Bolt-Tower in die Umgebung der Stadt

Ausblick vom Bolt-Tower in die Umgebung der Stadt

Heute sind die Witkowitzer Eisenwerke, abgesehen von Nova Huta, längst stillgelegt und gelten als nationales Kulturdenkmal. Einen grandiosen Blick über das Gelände und die stillgelegten Hochöfen hat man vom Bolt-Tower, auf dem sich das höchstgelegene Café Ostravas befindet. Der fast 80 Meter hohe Stahlturm, der auf einem ehemaligen Hochofen aufsetzt, lockt nicht nur mit einem Café, sondern auch mit einem Aussichtsdeck, auf dem mehrere Teleskope aufgestellt sind. Das über 100 Hektar große Werksgelände ist aber nicht nur von oben interessant. Ebenso lohnenswert sind Führungen durch das ehemalige Industrieareal und ein Besuch der dort eingerichteten Museen, zum Beispiel im historischen Wissenschafts- und Technologiemuseum und im modernen Science and Technology Centre. Besonders reizvoll ist eine Städtereise nach Ostrava, wenn sich das stillgelegte Industriegelände in eine Bühne für mitreißende Musikfestivals verwandelt – etwa für das Beats for Love oder das Colours of Ostrava-Festival, die hier jedes Jahr stattfinden.

Das wohl außergewöhnlichste Festivalgelände Tschechiens: Das Werksgelände des ehemaligen Witkowitzer Stahlwerks zieht während des Colours of Ostrava-Festivals viele Tausend Besucher an

Das wohl außergewöhnlichste Festivalgelände Tschechiens: Das Werksgelände des ehemaligen Witkowitzer Stahlwerks zieht während des Colours of Ostrava-Festivals viele Tausend Besucher an

Wie sehr Ostrava durch das Eisenwerk geprägt wurde, erfahren wir bei einem Stadtspaziergang mit dem Geschichtslehrer Tomas Majlis, dessen Vater einst selbst im Witkowitzer Eisenwerk gearbeitet hat. "Jedes Jahr am 1. Mai durften die Familienangehörigen der Arbeiter das Werk besuchen", erinnert sich Tomas. Er berichtet davon, dass die Stadt vor der Gründung der Eisenhütte nur 1500 Einwohner hatte. "Um 1828 änderte sich alles", berichtet Majlis. Dennoch wuchsen die Stadt und das Unternehmen bis etwa 1870 nur langsam – und litten zudem unter der Wirtschaftskrise der 1870er-Jahre. Damals halbierte sich die Zahl der Beschäftigten von 4000 auf 2000.

Mit dem Geschichtsexperten und Stadtführern Tomas Majlis unterwegs in Neu Witzkowitz, einer Siedlung für die Arbeiter des Eisenwerks

Mit dem Geschichtsexperten und Stadtführern Tomas Majlis unterwegs in Neu Witzkowitz, einer Siedlung für die Arbeiter des Eisenwerks

Um den Turnaround zu schaffen, holten die Rothschilds den Wiener Industriellen Paul Kupelwieser als neuen Generaldirektor. Er leitete die Witkowitzer Eisenwerke von 1876 bis 1893. "Kupelwieser war der Meinung, dass eine erfolgreiche Fabrik zufriedene Arbeiter braucht", sagt Majlis. Deshalb beschloss Kupelwieser, eine Stadt für die Arbeiter zu bauen, Neu-Witkowitz. Dort entstanden Häuser in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichem Komfort, etwa Baracken für alleinstehende Arbeiter oder bessere Häuser für Büroangestellte, und die nötige Infrastruktur wie Krankenhäuser, Waisen- und Altersheime. Da viele Arbeiter aus ländlichen Gebieten in die Stadt kamen, erhielten sie auch die Möglichkeit, in ihren kleinen Gärten Tiere zu halten.

Arbeitersiedlung im Backsteinstil: Fabrikdirektor Paul Kupelwieser legte den Grundstein und vertrat die Auffassung, dass eine erfolgreiche Fabrik auf zufriedene Arbeiter angewiesen ist

Arbeitersiedlung im Backsteinstil: Fabrikdirektor Paul Kupelwieser legte den Grundstein und vertrat die Auffassung, dass eine erfolgreiche Fabrik auf zufriedene Arbeiter angewiesen ist

Da gleichzeitig die Fabrik expandierte, litt aber auch Neu-Witkowitz bald zunehmend unter Abgasen, Smog und Umweltverschmutzung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde deshalb eine neue große Arbeitersiedlung errichtet, die Jubilejní-Kolonie, eine Mustersiedlung für Büroangestellte, aber auch für ausgewählte Arbeiter. "Im Volksmund wurde die Siedlung damals auch die Arschkriecher-Kolonie genannt", berichtet Majlis. Auch heute noch sind die inzwischen sanierten Häuser, die der Stadt Ostrava gehören, eine begehrte Wohngegend. Tomas Majlis selbst ist nur wenige hundert Meter von der Siedlung entfernt aufgewachsen – und erinnert sich noch an die Zeit, als Ostrava vor allem von Dreck und Smog geprägt war. "Wenn ich als Kind im weißen Hemd in die Innenstadt gelaufen bin, war es meistens grau, wenn ich dort ankam", erzählt er.

Der Jubilejní-Kolonie in Ostrava, durch die uns der Geschichtslehrer Tomas Majlis führt, galt als Mustersiedlung

Der Jubilejní-Kolonie in Ostrava, durch die uns der Geschichtslehrer Tomas Majlis führt, galt als Mustersiedlung

Stahl und Eisen werden in Ostrava nach wie vor produziert, allerdings viel sauberer und weiter weg vom Zentrum. Das ehemalige Hüttenwerk Nova Huta heißt heute "Liberty Ostrava" und produziert vor allem Stahl für die Bau- und Maschinenbauindustrie sowie Rohre für die die Ölbranche. Die Stadt Ostrava selbst hingegen hat sich von der schwarzen Lunge und dem eisernen Herzen Tschechiens zu einer grünen Metropole gewandelt, die sich vor einigen Jahren sogar um den European Green Capital Award beworben hat. Stadtführer Valdimir Hladik, den wir auf dem Rathausturm von Ostrava treffen, behauptet sogar, Ostrava sei mittlerweile die grünste Stadt der Tschechischen Republik.

Früher ein Depot für Industrieabraum, heute ein Erholungsgebiet: Die Halde Ema am Stadtrand von Ostrava

Früher ein Depot für Industrieabraum, heute ein Erholungsgebiet: Die Halde Ema am Stadtrand von Ostrava

Der Comenius-Garten am Ufer des Flusses Ostravice und andere Grünflächen in der Stadt laden zum Picknick ein – und selbst ehemalige Bergbau-Abraumhalden, wie die Halde Ema, sind heute Jogging- und Wandergebiete. Heavy Metal gibt es in Ostrava trotzdem – insbesondere beim alljährlich im Sommer stattfindenden Colours of Ostrava-Festivalauf dem Gelände der ehemaligen Witkowitzer Eisenwerke. Ein Festival im Schatten der stillgelegten Hochöfen, das sich als Multi-Genre-Festival versteht und das, was die verschiedenen Musikstile betrifft, äußerst bunt und farbenfroh ist

Ein Multigenre-Musikfestival für die ganze Familie: Das Colours of Ostrava-Festival präsentiert sich bunt

Ein Multigenre-Musikfestival für die ganze Familie: Das Colours of Ostrava-Festival präsentiert sich bunt

In den vergangenen Jahren waren unter anderem Alanis Morissette, Norah Jones, The Cure und viele andere Weltstars auf den großen Open-Air-Bühnen zu sehen. Das größte internationale Musikfestival der Tschechischen Republik ist eine Art tschechisches Woodstock inmitten rostiger Hochöfen und Fabrikhallen und findet auf insgesamt sechzehn Bühnen statt. Das grimmige Löwengesicht des Slawengottes Radegast ist übrigens auch auf dem Festival zu sehen: Es prangt als Logo auf den Bierständen der Brauerei Radegast, die in der Nähe aller Festivalbühnen zu finden sind. Wer sich einen Becher Bier holt, schaut meist nicht grimmig, sondern erfreut – denn der halbe Liter kostet weniger als zwei Euro.

Ein Multigenre-Musikfestival für die ganze Familie: Das Colours of Ostrava-Festival präsentiert sich bunt

Live am Abend

 

Infos

Anreise

Die Zugfahrt von Prag, Wien oder Bratislava dauert aus jeweils etwa drei Stunden. Wer mit dem Flugzeug anreisen möchte, kann einen Linienflug nach Kattowitz oder Krakau buchen und von Polen aus mit dem Bus oder Minibus weiterreisen.

Unterkunft

Harmony Club Hotel Ostrava
28 října 1263/170
709 00 Ostrava
Tel.: +420 596 652 111
E-Mail: recepce.ov@harmonyclub.cz
www.harmonyclub.cz

Mercure Ostrava Center Hotel
Českobratrská 18/1742
702 00 Ostrava
Telefon: +420 595 606 600
https://all.accor.com/hotel/7051/index.de.shtml

Essen & Trinken

Hogo Fogo Bistro
Sokolská třída 871/6
702 00 Ostrava
hogofogobistro@seznam.cz
www.hogofogobistro.cz

Bolt Café
Ruská 2993
Ostrava-Vítkovice
Reservierung unter www.dolnivitkovice.cz/bolt-cafe/
Tel. +420 724 955 121

Sehenswürdigkeiten

Tatra Truck Museum
Husova 1326/13
742 21 Kopřivnice,
+ 420 737 102 330
info@muzeumtatra.cz
www.muzeumtatra.cz

Tatra Museum
Záhumenní 367/1
742 21 Kopřivnice
+420 556 808 421
recepce@tatramuseum.cz
www.tatramuseum.cz

MOTO AUTO MUSEUM - OLDTIMER
Štefánikova 220
742 21 Kopřivnice
Tel.: +420 733 373 797
info@automotomuzeum.cz
www.automotomuzeum.cz

Burgruine Štramberk
Kopec 77
742 66 Štramberk
+420 731 134 125
truba@stramberk.cz
www.stramberska-truba.info

Kulturdenkmal Witkowitz: Návštěvnické centrum Dolní Vítkovice
Ruská 2993/20
703 00 Vítkovice
+420 724 955 121
nkp@dolnivitkovice.cz
www.dolnivitkovice.cz

Festivals

Beats for Love
www.b4l.cz

Colours of Ostrava
https://www.colours.cz
informace@colours.cz

Weitere Auskünfte

www.northmoravia.travel, www.ourworldlyregion.com, www.visitostrava.eu, www.czechtourism.com

 

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