Reiseführer Danzig (Gdansk)
Die Solidarnosc
Ob wohl auch nur einer der Streikenden im August 1980 in der Danziger Leninwerft ahnte, dass er dabei war Weltgeschichte zu schreiben? Erst im Rückblick wird klar, dass die Gründung der freien Gewerkschaft Solidarnosc der Anfang vom Ende des Ostblocks war. Ursächlich für die damalige Streikbewegung war die katastrophale Wirtschaftsentwicklung in Polen, in Verbindung mit einem faktischen Staatsbankrott. Allein 40 % des polnischen Staatshaushaltes wurde für die Subventionierung der Lebensmittelpreise verwandt. Die damalige Regierung Gierek versuchte sich finanziellen Spielraum durch das Anheben der Preise für Grundnahrungsmittel zu verschaffen, was eine landesweite Protest- und Streikwelle auslöste. In der Danziger Leninwerft traten die Arbeiter am 8.August 1980 in den Streik. Anlass war neben der Preiserhöhung die Entlassung der Werftarbeiterin und Dissidentin Anna Walentynowicz am 7. August 1980 und wenig später die von Lech Walesa. Anna Walentynowicz fehlten zu diesem Zeitpunkt nur noch fünf Monate zur Pensionierung.
Anders als bei früheren Preiserhöhungsversuchen, bei denen die Proteste sowohl 1956 als auch 1970 in Blutbädern endeten, wählten die Arbeiter der Leninwerft diesmal eine andere Taktik. Sie gingen nicht auf die Straße, sondern verbarrikadierten sich auf dem Werftgelände. Die Bilder des blumengeschmückten Werfttores, durch das den Arbeitern Lebensmittel gereicht wurden, gingen durch die Welt. Mit dem Elektriker Lech Walesa war ein charismatischer Führer gefunden, der von einem breiten Spektrum vom Klerus bis hin zu den Reformsozialisten unterstützt wurde. Der Instinktpolitiker Lech Walesaerkannte damals mit fast traumwandlerisch sicherem Gespür die Möglichkeiten und riss das ganze Land mit in die Vision eines freien Polen, denn sehr schnell ging es nicht mehr nur um die Rücknahme der Preiserhöhungen.
Nach teilweise zermürbend zähen Verhandlungen kam es am 31. August 1980 zum Danziger Abkommen. Erstmals im Ostblock wurde eine unabhängige, selbst verwaltete Gewerkschaft zugelassen. Zwar wurden die politischen Machtverhältnisse noch nicht angetastet, aber die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft war in Gang gebracht.
Das Erfolgsgeheimnis der Solidarnosc war das in Polen erstmals gelungene Bündnis von Arbeitern und Intelligenz. Wichtige Partner beim Sieg der Solidarnosc waren das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter KOR mit den führenden Köpfen Jacek Kuron und Adam Michnik sowie katholische Oppositionelle wie Tadeusz Mazowiecki.
Vollends zum Mythos wurde die Solidarnosc im Untergrund, nachdem Ministerpräsident Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt hatte. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Lech Walesaim Jahre 1983 und die dadurch ausgelöste Euphorie im Lande sowie der Machtantritt Gorbatschows 1985 waren weitere Schritte der Systemerweichung. Nachdem es 1988 in Polen wegen einer Preiserhöhung wiederum zu einer das Land lahm legenden Streikwelle kam, war die Regierung Jaruzelski am Ende. Es kam zu den Verhandlungen am Runden Tisch, die das Machtmonopol der Partei beendeten.
Tadeusz Mazowieckiwurde 1989 erster frei gewählter und nicht kommunistischer Ministerpräsident im Ostblock, Lech Walesa1991 erster frei gewählter Staatspräsident Nachkriegspolens – die Solidarnosc war auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung.
Später zeigten sich die Strukturen der Solidarnosc, die nun sowohl Gewerkschaft und Massenbewegung einerseits, als auch Partei andererseits war, als genauso überlebt wie ihre Führerfiguren. Die Solidarnosc zerfiel in rivalisierende Gruppen. Lech Walesa, der als Präsident nicht immer die glücklichste Hand hatte, ist heute eine politisch relativ bedeutungslose Figur. Doch hat er sich in seiner Opposition zur Kaczynski-Regierung wieder große Anerkennung verdient.