Land auf Normalnull

Radeln in Ostfriesland (1/3)

Text und Fotos: Beate Schümann

„Moin!“ Kaum sitzt man im Sattel und radelt durch den Ort Richtung Wiesen und Felder, kommt dieses freundliche „Moin!“ Jeder Einheimische grüßt. Jeder! Auch die Fremden. Denn sofort grüßt man zurück: „Moin“. Ein einfaches Moin genügt, und man spricht es wie ‚meun‘ aus – kurz, knapp und ohne ‚j‘.

"Moin!"

Das Land ist platt bis zum Horizont. Es liegt auf Normallnull, dem Meeresspiegel, mal auf ihm, mal darunter. Menschen sind hier die höchsten Erhebungen, sagen die Leute. Friedlich grasen Schafe am Deich, die Gefleckten ruhen im fetten Gras. Bäume heißen Windlooper, wenn sie sich windschnittig zur Erde beugen. Schnurgerade ziehen sich die Entwässerungsgräben durch das Marschenland. Von der Nordsee, den Flüssen Ems und Dollart im Westen und dem Jadebusen im Osten umschlossen, liegen die historischen Landkreise Ostfriesland und Friesland wie auf einer Halbinsel.

Gräben und Kanäle dienen in Ostfriesland nicht nur der Entwässerung, sondern sind teilweise auch Wasserwirtschaftswege

Die Gegend ist ein kleines unauffälliges Universum, in dem es Naturerlebnisse im Überfluss gibt. Für manche ist die Weite, in der der Blick an nichts haften bleibt, blanke Monotonie. Andere halten sie für die pure Freiheit. Radler sind für die Hügellosigkeit oft dankbar. Zumal es bei Nordwest an der sportlicher Herausforderung nicht mangelt.

Wiesmoor liegt im Zentrum dieser Halbinsel, ein idealer Ausgangspunkt für Sternfahrten. Allenthalben in der „Blumenstadt“ fährt man an mächtigen Rhododendren vorbei, die von Mai bis Juni in voller Blüte stehen. In ostfriesischen Orten sind die langen Straßen beidseitig von Einfamilienhäusern im Bungalowstil gesäumt, davor tipptopp gepflegte Gärten mit Grasflächen auf Golfniveau. Rasenmähen ist eine regionale Leidenschaft.

Boote und Schiffe am Ufer der Leda, einem Nebenfluss der Ems entlang der Altstadt von Leer

Die erste Tour führt nach Leer an der Ems. Das Wetter ist regnerisch, weshalb wir uns für die kürzeste Strecke auf der B 436 entscheiden. Links und rechts ein Flickenteppich aus Feldern und Wiesen, alte Alleenbäume, wenig Verkehr – und es gibt Fahrradwege.

Leer ist ein kleines Städtchen, aber bis unter die Giebelspitze voller Bürgerstolz. Die Nähe zu Holland spiegelt sich in der Architektur wider, etwa im riesigen Backsteinrathaus, dem Wahrzeichen der Stadt, in echt niederländischer Renaissance. Wir schieben die Räder weiter zu „Haus Samson“, ein denkmalgeschützte Handelshaus, das wohl am besten ausdrückt, wie die Kaufleute ihr Standesbewusstsein in niederländischen Barock übersetzten.

"Wind ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben", steht an der Willy-Brandt-Brücke in Leer

Im Hafen lernen wir eine ostfriesische Weisheit: „Wind ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben“. Mit ein paar süßen Schafen garniert, ist der Spruch auf die Willy-Brandt-Brücke gesprayt. Die Ostfriesen haben Humor. Langsam zeigt die Sonne sich wieder, und als wir am Café „Arte Dolce“ vorbeikommen, greifen wir zu. „Wir verarbeiten nur hochwertige Rohstoffe“, erklärt der Eisverkäufer – Milch, Eier, Nüsse, Vanille aus Madagaskar, belgische Kuvertüre und echte Früchte! Farbstoffe seien tabu. Deshalb sieht seine Pistazie wie Haselnuss aus. „Echtes Pistazieneis kann nie grün sein“, erklärt er.

Bürgerhäuser in Leer an der Ems

Natürlich steuern wir das Teemuseum von Bünting an. Im winzigen historischen Ladengeschäft stapeln sich die Dosen mit Tee auf allen Regalen. Im Museum nebenan ist alles über Anbau, Sorten, Porzellan und Samowaren zu erfahren. Im gemütlichen Antik-Café bestellen wir Tee. Die Kellnerin gießt ein Tässchen ein, ein Schluck Sahne kommt hinzu. Als wir zum Löffel greifen, sagt sie: „Um Himmels willen, nicht rühren!“ Die Sahne müsse den Tee marmorieren. Wenn sich dann die Kandis-Kluntjes knackend lösen, stellt sich Zufriedenheit ein. Schnell wird klar, dass Tee nicht nur ein Getränk, sondern eine Lebensphilosophie ist.

"Teetied" in Leer, in Leer wie überall in Ostfriesland gibt es viele Cafés, um Tee zu trinken

Auf dem Rückweg machen wir einen Abstecher zu Schloss Evenburg. Nicht alles, wo Schloss drauf steht, sieht auch so aus. Evenburg erscheint eher wie ein Herrenhaus im üppigen neogotischen Stil mit englischem Park. Der breite Burggraben macht das Schlossareal zur Insel. Unter dem Dach alter Kastanien bietet ein Café Kuchen und Wohlfühlklima.

Schloss Evenburg im neogotischen Stil, umgeben von großzügigem Parkgelände, am südöstlichen Ortsrand von Leer

„Das Land bei uns ist so flach, dass wir montags schon sehen können, wer mittwochs zum Tee kommt“, hörten wir Teemuseum jemanden sagen. Auf der Rad up Pad-Route nach Krummhörn können wir uns in natura ein Bild davon machen. Und doch offenbart die Landschaft ihre Highlights: die Windmühlen oder die Gulfhöfe in Ständerbauweise, die Kathedralen der reichen Bauern aus dem 16. Jahrhundert. Krummhörn ist eine Gemeinde aus neunzehn historischen Dörfern, in der sich die Besonderheiten auf einer Fläche von knapp 160 Quadratkilometern wie unter dem Brennglas versammeln.

Romano-gotische Ausstattung der Uttumer Kirche mit bedeutender Orgel von 1660

Deshalb wollen wir uns nicht zu viel vornehmen und setzen uns erst in Uttum auf die Räder, ein beschauliches Dorf inmitten von Feldern. Fast im Kilometertakt fahren wir an hübschen Dorfkirchen aus vorreformatorischer Zeit vorbei wie die Backsteinkirche von Grimersum und die von Eilsum, in der die original erhaltene Ausmalung noch zu sehen ist. Schlüssel im Pfarramt!

Grimersumer Kirche, bedeutende Backsteinkirche im romano-gotischen Stil

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