Wir entziffern das „Rad des Lebens“
Vor allem aber stellt die erst 2003 wieder eröffnete Versammlungshalle alle anderen ihrer Art in den Schatten: 54 vergoldete Säulen gliedern den weiten Raum. Vor den sieben, acht Meter hohen Statuen von Siddharte Gautama, dem historischen Buddha, Padmasambhava, der Bhutan im 8. Jahrhundert zum Buddhismus bekehrte, und Shabdrung Ngawang Namgyal, der es im 17. Jh. vereinigte, stehen Schalen mit Wasser und Rosen aus Plastik. Räucherstäbchen glühen und Wandmalereien erzählen in starken Farben und klaren Formen Szenen aus dem Leben Buddhas, vom verwöhnten Prinzen bis zum erleuchteten Religionsgründer, der mit 80 ins Nirwana geht.
Rundum Gold, Brokat, leuchtend bunte Stoffe - überall Glanz, Funkeln, Pracht. Zwischen den Statuen aber drücken sich Kinder in roten Roben herum, mit ungewöhnlich ernsten Gesichtern. Noch immer geben Eltern schon Drei-, Vierjährige ins Kloster - was zwar die Aussichten der Familie für künftige Wiedergeburten verbessert, nicht unbedingt aber das Lebensglück der Kleinen in der Gegenwart. Kein Wunder, dass die Zahl der Aussteiger wächst.
Eine Reise durch Bhutan ist eine Reise durch den tibetanischen Buddhismus. Und bald schon setzen auch wir unsere ersten Schritte in diese fremde Welt: Wir erfahren, dass die Haine mit den schmalen Gebetsfahnen an Verstorbene erinnern, begrüßen an den Tempeleingängen die "Vier Freunde" Elefant, Affe, Hase und Goldfasan wie alte Bekannte, und fast unwillkürlich geht die Hand irgendwann zu den Gebetstrommeln und setzt sie in Bewegung. Der Baum der Erkenntnis hat ebenso seine Bedeutung im buddhistischen System wie Donnerkeile, Geisterfallen und Mandalas, die geometrischen Meditationshilfen für Mönche.
Wir lernen, das "Rad des Lebens" zu entziffern, das Buddhas Idee vom Kreislauf des Daseins in einem einzigen Bild erklärt, und warten gespannt auf die nächste deftige Geschichte von Drupka Kunley, dem verrückten Bekehrer mit dem ausschweifenden Liebesleben: Wie er etwa den Naturgott Ödöpa in der Haut seines Penis einnähte und erst wieder freiließ, als der sich dem Buddhismus unterwarf. Weshalb heute noch von den Ecken der Dächer geschnitzte Holzphalli hängen, als Schutz gegen die bösen Geister.
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