Rote Roben, stilles Land
Immer mehr Touristen entdecken das Königreich Bhutan
Text und Fotos: Franz Lerchenmüller
Durch die Heimstatt der Geister jagen die Nebel. Struppige Tannen tauchen aus dem Grau, zottige Bartflechten schaukeln, und wenn die Sonne für einen Augenblick durchblitzt, leuchten die Sterne der Magnolien im kahlen Geäst, als hätte sich ein Schwarm blendendweißer Vögel niedergelassen. Erdgeister, Berggeister, Wassergeister - tibetanische Buddhisten sind mit ihnen sehr wohl vertraut. Und auch wir knüpfen, als wir endlich den Scheitel des 3.350 Meter hohen Pele-Passes erreicht haben, eine bunte Gebetsfahne an die Bäume, als Dank für die gute Reise durch die Schwarzen Berge. Und im weißen Ofen verbrennen wir ein paar Wacholderzweige. Ihr Rauch soll unsere Wünsche zu den Göttern tragen - so, wie es seit alters her Brauch ist in Bhutan.
Bhutan, das Königreich von der Größe der Schweiz mit rund 700.000 Einwohnern, liegt eingeklemmt zwischen Indien und China im östlichen Himalaja. "Bhotanta", Ende von Tibet, hatten die Inder das abgeschiedene Bergland genannt. Um Natur und Kultur vor westlichen Einflüssen zu schützen, hatte die bhutanesische Regierung die Zahl der Touristen viele Jahre auf fünf- bis sechstausend pro Jahr beschränkt. Inzwischen regelt sich der Andrang eleganter: Jeder Besucher muss über eine einheimische Agentur buchen und dabei pro Tag eine Mindestsumme ausgeben. Sie kommen wegen manchmal geradezu spektakulärer Landschaften, freundlich-gelassener Menschen, alter Tempel, bunter Feste - und der Dzongs.
Wo Mo Chu und Pho Chu, Mutter- und Vaterfluss, sich vereinigen, erhebt sich der Dzong von Punakha, der schönste und wichtigste Bhutans. Wie die meisten dieser wehrhaften, verwinkelten Klosterburgen entstand er in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wie die meisten beherbergt er heute die religiöse und staatliche Verwaltung eines Distrikts, und wie die meisten wurde er im Lauf der Geschichte durch Feuer, Hochwasser und Erdbeben arg gebeutelt. Nach der letzten zerstörerischen Überschwemmung baute man ihn ab 1996 wieder auf - 180 m lang, 72 m breit, prächtiger und reicher als je zuvor.
23 Tempel erheben sich hinter den leicht schrägen, weißen Mauern mit den aufgesetzten Holzerkern, 3000 Mönche leben zeitweise unter den roten Dächern. Die Balustraden der Gebäude um die Innenhöfe sind mit stilisierten Lotosknospen verziert, die Holzsäulen mit Blättern, bunten Wolken, Drachen und Sanskrit-Schriftzeichen bemalt - ein Farbenrausch in Gelb-, Ocker und Brauntönen.
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