Text und Fotos: Thomas Bauer
"Itadakimasu*", sagt Herr Matsugami und lächelt unergründlich. Erfolglos suche ich im Gesicht meines Gastgebers nach einem Hinweis, wie ich mich verhalten soll. Hat er gerade einen Witz gemacht? Soll ich lachen oder wäre das unangebracht? Ich probiere es mit einem freundlichen Augenaufschlag und senke gleich darauf den Blick auf das vor mir stehende Tablett. Herr Matsugami hat Köstlichkeiten der japanischen Küche zu einem Gesamtkunstwerk komponiert. Schälchen mit rohem und gebratenem Fisch grenzen an andere mit Reis und Algen. In der Mitte steht eine dampfende Schüssel Miso-Suppe, auf der zwei hölzerne Essstäbchen liegen.
Was ist das nun wieder? Will man herausfinden, ob der ausländische Gast dumm genug ist, zu versuchen, eine Suppe mit Stäbchen zu essen? Herr Matsugami bietet mir keine Anhaltspunkte, wie ich Suppe und Besteck kombinieren könnte, da er in einer Sprache, die er für Englisch hält, auf mich einspricht, während er mit seinen Stäbchen beiläufig einen Fisch entgrätet. Da kommt der Sohn des Hauses in den Frühstücksraum der Pension. Lässig schöpft er sich zwei Löffel Suppe, fläzt sich auf seinen Platz und schlürft die Schüssel aus. So macht man das also.
Im Folgenden sollte Japan seine besten Trümpfe ausspielen. Danach hatte es zu Beginn nicht ausgesehen: Immer wenn ich nach Asien reisen wollte, hatte ich eines meiner Organe verloren. Wenige Tage vor meinem Abflug nach Vietnam war ich den Blinddarm losgeworden. Meine Reise nach Japan hatte ich zweimal verschieben müssen. Zuerst hatte mich eine Grippe ans Bett gefesselt, dann hatte man mir die Gallenblase aus dem Bauch geholt. Vielleicht sollte ich seltener nach Asien aufbrechen: Eine Niere könnte ich noch hergeben, dann wird es wirklich eng.
Facepainting
Indem ich nach Osaka geflogen war, hatte ich mich ins Zentrum der weltweiten Entwicklung begeben. Hier bin ich die deutsche Landpomeranze, die sich in der Großstadt zurechtfinden muss. Wohin ich mich wende, überall fließen Menschen aus Läden und Restaurants. An Querstraßen bleiben sie wie auf Knopfdruck stehen. In vier Minuten können Hunderte, manchmal Tausende zusammenkommen. Wenn die Fußgängerampel auf grün springt, setzen sie sich so synchron in Bewegung, als seien sie Teile einer unsichtbaren Maschine, an der jemand einen Hebel umgelegt hat. Niemand beachtet mich, keiner sieht mich an. Ich verstehe gar nichts, und es ist schlichtweg egal, ob ich hier bin oder nicht.
Im Zentrum dieses Wahnsinns hat man in einem "Kapselhotel" Röhren wabenförmig aufeinandergestapelt. Man klettert eine Leiter empor, legt sich in eine sterile Box und zieht eine Jalousie herab. Natürlich hat man einen Fernseher in den Raum integriert. Er ist so hypermodern, dass ich ihn nicht einmal anbekomme. Auch die Sauna ein Stockwerk höher kann ich nicht nutzen. Der Anblick meiner Tätowierungen sei anderen Gästen nicht zumutbar, erklärt man mir.
Japan, das ist in erster Linie eine kühne Behauptung: jene nämlich, dass man 6500 Inseln zu einer Kultur zusammenfassen kann. Da gerade einmal 400 dieser Inseln bewohnt sind, ballen sich die Einwohner in einem für Europäer schwer vorstellbaren Ausmaß an den schmalen Küstenstreifen. Einen Monat lang möchte ich ihr Leben teilen: Auf einem der ältesten Pilgerwege der Welt will ich die japanische Insel Shikoku umrunden und ins Gespräch kommen mit Pilgern, Passanten und Pensionsbesitzern. Und einige meiner Vorurteile loswerden: Arbeiten wirklich alle Japaner bis zum Umfallen? Sind sie so angepasst, wie sie tun? In Deutschland wären sie doch alle Mitglieder der Jungen Union; die Klassenbesten, die niemand mag.
Der Autor wie ein Pilger gekleidet
Im ersten von 88 buddhistischen Tempeln verwandelt mich die Angestellte in einen o-henro, einen Pilger. Als ich den Laden verlasse, trage ich einen mit Plastik überzogenen Hut, einen verzierten Pilgerstab und ein kimono-ähnliches Baumwollhemd. All das ist weiß, die Farbe des Todes, verstanden als Überwindung der Begierden und Übertritt zum Nirwana.
Bis ich dort ankomme, muss ich einige Hürden überwinden. "Gesutohausu", sagt ein junger Mann und blickt mich fragend an. Zum Glück zeigt er dabei auf eine kleine Straße. Ja doch, nicke ich, dort gebe es ein "guesthouse". Das Japanische zerlegt jedes Wort in Silben, und die bestehen aus einem Konsonanten, dem ein Vokal folgt. Ich kenne mehr japanische Wörter, als ich gedacht habe. Sushi und Wasabi, Taifun und Tsunami. Karaoke und Kamikaze. Sogar einige Begriffe aus dem Deutschen gibt es. Anzailen sagt man hier, die "Berghütte" heißt hyutte. Besonders schön finde ich den kontorabasu, den "Kontrabass" also, und natürlich den orugasumusu – Sie wissen schon … Schwierig wird es, wenn sich in anderen Sprachen Konsonanten aneinanderreihen. Da wird das "Restaurant" zu resutolan und das Geschenk ("present") zu palesentu.
Winkekatze
Abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten gleiten meine japanischen Mitpilger zielstrebig wie Billardkugeln voran. Nie pausieren sie zwischen zwei Tempeln, auch wenn diese 20 Kilometer auseinanderliegen. Viele haben sich blecherne Glöckchen um den Stock gebunden: Das Klingeln hält ihre Gedanken auf den Weg gerichtet. Nirgendwo sonst habe ich so ernsthafte Pilger gesehen. Verglichen mit diesen Wegprofis tapse ich voran wie ein unsicherer Hundewelpe.
Ruhender Buddha
Warum muss es regnen, frage ich mich, warum führt der Weg so nah an der Straße entlang, und bin ich hier überhaupt richtig? Erst ein Junge gibt mir etwas mehr Gelassenheit. Natürlich läuft die gegenseitige Vorstellung erst einmal gründlich schief. Als er bei der vierten Silbe seines Namens ankommt, habe ich die ersten beiden schon wieder vergessen. Er komme von Hokkaido, vertraut er mir an, ganz im Norden Japans.
"Und willst du den ganzen Pilgerweg gehen?"
"Klar, er ist der Höhepunkt meiner Wanderung."
"Der Höhepunkt?"
"Ja. Wie gesagt, ich komme aus Hokkaido."
"Oh, zu Fuß?"
"Ja, ich bin einmal längs durch Japan gezogen. Der Shikoku-Pilgerweg markiert die Halbzeit. Dann geht es wieder zurück."
"Du gehst also 6000 Kilometer zu Fuß, zeltest bei Wind und Wetter draußen und kochst dir dein Abendessen selbst?"
"So kann man das zusammenfassen."
Wünsche am Pilgerweg
Ein Deutscher hätte diese Information vermutlich, als flotter Spruch zusammengefasst, auf einem T-Shirt herumgetragen. Dem Jungen hingegen muss ich die Neuigkeit erst aus der Nase ziehen. "Tüchtige Falken verstecken ihre Krallen", behauptet der Bushido, der Ehrenkodex der Samurai, die in Japan 700 Jahre lang das Ideal männlicher Tatmenschen dargestellt haben.
Als sich unsere Wege trennen, wünsche ich dem Jungen einen schönen Abend und verbeugte mich linkisch. Daraufhin neigt er sich formvollendet zur Erde, weitaus tiefer, als ich es getan habe. Jetzt verbeuge ich mich so tief, dass der Rucksack beinahe meinen Rücken hinauf zum Hals rutscht. Das nutzt mir indessen gar nichts, da sich mein Gegenüber sofort noch tiefer verbeugt. Seine Pose erinnert inzwischen an komplizierte Haltungen aus dem Ashtanga-Yoga. Da gebe ich auf und bleibe einfach stehen. Ich fühle mich unwohl dabei; er offenbar auch. Er dreht sich zu mir um, geht fünf Meter rückwärts, auf denen er sich ständig verneigt, droht kurz zu stolpern, fängt sich aber gleich wieder und zieht endlich winkend von dannen.
Singender Mönch
Drei Wochen sollte es dauern, bis ich mich in diesem Land halbwegs zurechtfinde. Aber selbst dann noch verstehe ich dauernd alles falsch. "Shabu- shabu", sagt ein Mitpilger, als wir vor einer Art Feuertopf sitzen, und noch bevor ich mir ausmalen kann, ob das vielleicht das japanische Pendant zum Boogie-Woogie ist und er ein Tänzchen von mir verlangt, zeigt er auf eine silberne Schüssel. Shabu- shabu bedeutet, dass man Fleischstückchen und Gemüse in siedendes Wasser wirft und anschließend versucht, das Gewünschte mit langen, besonders unhandlichen Stäbchen wieder herauszuangeln. Man könnte meinen, dass es nur erfunden worden ist, um ausländischen Japanbesuchern Gelegenheit zu geben, sich zu blamieren.
"Lonpari", sagt mein Gegenüber unvermittelt.
"Bitte was?"
"Na, der Mann, der dir gegenübersitzt. Fällt dir was an ihm auf?"
"Ja, er schielt."
"Eben, er ist ein lonpari. Mit einem Auge schaut er nach London, mit dem anderen nach Paris."
Mein Mitpilger krümmt sich vor Lachen. Das habe ich unterwegs oft erlebt: Hinter dem normierten Auftreten steckt nicht selten ein eigenwilliger Geschmack, eine unerwartete Vorliebe oder ein abstruses Hobby. Wahrscheinlich können sich viele Japaner so uniform geben, eben weil sie tief in ihrem Inneren um ihre Einzigartigkeit wissen. In seinen Geschichten von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer lässt Michael Ende einen Scheinriesen auftreten, der kleiner wird, je näher man ihm kommt. Mit Japan verhält es sich genau umgekehrt: Auf den ersten Blick wirkt es ordentlich und spießig. Bestenfalls kann man ein paar Verrücktheiten aufzählen, auf die man hier trifft. Was wirklich in Japan steckt, gibt es erst preis, wenn man sich näher damit beschäftigt. Mein braver Mitpilger zum Beispiel ist in Wahrheit gar nicht so brav. Grinsend hält er mir wieder und wieder eine Flasche hin.
"Von hundert Arzneien ist Sake die beste", behauptet er. "Kanpai!"
Am höchsten Punkt des Pilgerweges
Erst am Schluss hat der Pilgerweg von Shikoku es mir gestattet, ein Stück weit anzukommen in Japan. Das hätte ich auch einfacher haben können. Ich hätte mir zum Beispiel für 1500 Euro einen Agenten kaufen können, der die Tour für mich übernommen hätte. Am schönsten finde ich die Offerte einer Reiseagentur aus Kyoto: Sie bietet an, dass man, statt selbst die Insel zu umrunden, sein Kuscheltier auf den Weg schickt. Die Teddys und Plüschlöwen werden unterwegs fotografiert und schreiben Grußbotschaften in den sozialen Netzwerken.
Stattdessen bin ich vier Wochen lang in diesem herrlich undurchschaubaren, künstlich verkomplizierten und ästhetisch verklausulierten Land unterwegs gewesen. Auf den letzten Kilometern geht es mir richtig gut. Ki ni iru, sagen die Japaner, "das gibt mir ein gutes ki". Damit meinen sie, dass alles im Lot ist, dass man bei sich ankommt und merkt, dass es dort eigentlich ganz okay ist. Mein ki schlägt Purzelbäume, als ich den 88. Tempel erreiche. Japan verlangt den langen Blick.
Sie glauben mir nicht? Dann probieren Sie es einfach aus! Machen Sie sich selbst auf den Weg – und bitte: Ki o tsukete – passen Sie dabei auf Ihr ki auf.
Übrigens: Itadakimasu bedeutet »Guten Appetit«
Japan, das sich selbst Nippon, das ”Land, in dem die Sonne ihre Wurzeln hat”, nennt, ist ein äußerst anspruchsvolles Reiseland. Seine vier Hauptinseln, von Norden nach Süden Hokkaido, Honshu, Shikoku und Kyushu, sind von Gebirgszügen übersät, die beträchtliche Höhen erreichen. Der höchste Berg wird der ehrfürchtig Fuji-san genannt, misst 3776 Meter und liegt etwa 50 km südwestlich der Hauptstadt Tokyo. Wie die meisten seiner Kollegen ist auch er ein Vulkan, ein Kegel von äußerst gleichmäßiger Formation, der dem japanischen Anspruch an Ästhetik durchaus entgegenkommt. Doch die zahlreichen Vulkane haben dem Land auch schon viel Leid gebracht, da sie ganze Städte in Schutthalden verwandelten, so 1923 Tokyo und Yokohama und 1995 Kobe.
Mehr lesen ...
Manager im feinen Zwirn und Angestellte aus dem nahe gelegenen Finanzdistrikt sind hier ebenso zu finden, wie freakige Jugendliche im flippigen Tokio-Hotel-Look und Touristen aus allen Teilen der Welt. Wo tagsüber Spaziergänger flanieren, zieht mit Einbruch der Dunkelheit die wohl berühmteste Fressmeile Japans die Besuchermassen in ihren Bann. Rund 180 Imbissstände, sogenannte Yatais, sind in der japanischen Millionenmetropole Fukuoka zu finden..
Mehr lesen ...
Am ersten Morgen in Kyoto ziehen wir unsere Fahrradschuhe an. Natürlich in Kyoto, denn dies ist die Radfahrstadt Japans schlechthin. Hier herrscht Linksverkehr, das mag einen schrecken. Jedoch: Linksverkehr? Lachhaft! Vielleicht gilt er für Motorisierte, aber Myriaden von Radfahrern fahren, wie es ihnen beliebt, und außerdem gibt es hier sogar Radwege!
Mehr lesen ...
Der Oyamazumi-Schreins auf der Insel Omishima ist einer der ältesten und bedeutsamsten Shinto-Schreine und damit ein Ausdruck der ursprünglichen Religion Japans, die durch den ab dem sechsten Jahrhundert importierten Buddhismus zum Teil abgelöst, zum Teil aber auch ergänzt und transformiert wurde. Und da man bei zwei Religionen ja nie so genau weiß, welche davon die richtige ist, stellen sich viele Japaner vorsichtshalber gleich mit beiden gut – für die Probleme im Diesseits empfiehlt sich der Shinto-Glaube, wenn es ums Paradies und ums Jenseits geht, dann hilft der Buddhismus weiter…
Mehr lesen ...