Am Fuße der Berge

Radfahren im Piemont

Text und Fotos: Judith Weibrecht

Durch die Region Piemont im Nordwesten Italiens führen um die 50 Kilometer lange Sternradtouren ab Romano Canavese zu Burgen und Seen, an den Po und nach Turin.

Klatsch! Die bunten Plastikstreifen schlagen mit einem Knall zusammen und schwingen leicht aus. Wieder hat jemand das Café mit Bar und kleinem Laden betreten, bestellt: „Un caffè!“ und knallt einen Euro auf den Tresen. Kupfernickel trifft auf Nirosta. Ein Schluck und der Espresso ist weg. Der Mann auch. Es klatscht wieder. – Die Mini-Bar steht in der Region Canavese im Piemont. Davon gibt es viele hier. Sie erfreuen durstige Radfahrer mit gut gekühlten 1 ½ Liter Wasserflaschen, kleinen Panini, Brötchen, für den Hunger zwischendurch und natürlich mit Espresso, auf Italienisch Caffè. Nicht zu vergessen sind auch die Eisdielen. Doch davon später mehr.

Piemont - Relais Villa Matilde in Romano Canavese (Hotel der Sterntouren)

"Relais Villa Matilde" in Romano Canavese

Sterntouren haben den Vorteil, dass man an denselben Ort zurückkehrt, also ohne Gepäck radeln kann. Und an diesen Ort kehrt man gerne zurück: Leise quietschend schwingt das Tor auf. Das Hotel „Relais Villa Matilde“ liegt umgeben von einem Park im kleinen gemütlichen Dorf Romano Canavese (1) und ist eine 300 Jahre alte, einst aristokratische Villa mit mondänen Aufenthaltsräumen, Ölgemälden an den Wänden und dem Restaurant „Le Scuderie“ mit Spezialitäten der Piemonteser Küche. Die hier startenden Radrouten lassen sich anhand eines Roadbooks mit Wegbeschreibungen und Kartenmaterial individuell abfahren und sind außerdem mit kleinen Pfeilen ausgeschildert, die beispielsweise an den Masten der Verkehrsschilder kleben. Die Reihenfolge der Radetappen ist dabei frei wählbar.

Piemont - Radweg nach Vische

Radweg nach Vische

Wellig und hügelig

Das Canavese ist wellig-hügeliges Land mit zahlreichen mittelalterlichen Burgen auf Anhöhen, Weinreben links und rechts der Routen, Fernsicht mit weiten Ausblicken bis zur Alpenkette hin und naturbelassenen Badeseen. Eine der Sterntouren führt teils entlang der „Strada Reale dei Vini“ – der königlichen Weinstraße zum Candia See, der in einen Naturpark eingebettet ist. Auch der Lago di Viverone mit seinen Strandbädern und der Lago di Sirio liegen am Wegesrand der Routen, so dass fast täglich für Bademöglichkeiten gesorgt ist. Und wer immer noch nicht genug hat, springt nach der Tour außerdem noch in den Pool des Hotels.

Piemont - Landschaft mit dem Castello di Pavone

Landschaft mit dem Castello di Pavone

Den Alpen entgegen, die sich genau wie die majestätischen Burgen mit ihren Zinnen gegen den azurblauen piemontesischen Himmel klar umrissen abzeichnen, beginnt meine heutige Radetappe. Es geht nach Ivrea (2), einer echten Entdeckung. Als Olivetti-Stadt wird sie oft bezeichnet, denn Olivetti war hier einst der größte Arbeitgeber. Doch das wird ihr nicht gerecht. In den Gassen um den Fluss Dora Baltea pulsiert das Leben. Man spaziert die Fußgängerzone Via Pallestra auf und ab. Links und rechts flankieren historische Gebäude die Straßen. Hoch oben thront die Kathedrale Santa Maria und wacht über die Stadt. Ein Castello mit vier Türmen liegt gleich nebenan. Berühmt ist das Städtchen auch für seine alljährlich im Karneval stattfindende, dreitägige Apfelsinenschlacht, die Battaglia delle Arance. Gegnerische Mannschaften bewerfen sich mit Mandarinen, auch Verletze soll es dabei geben. Der Brauch geht auf den Rauswurf eines Feudalherren zurück, den die Ivreer einst mit Wurfgeschossen aus der Stadt jagten: Damals allerdings mit Bohnen.

Piemont - Ivrea

In Ivrea

Hinaus geht’s aus dem hübschen Städtchen und an den überraschend schönen Lago di Sirio, der wie ein grünes Auge in der Landschaft liegt. Auf dem langen Holzsteg liegen einige wenige Sonnenhungrige, im Wasser tauchen zwei Bambini, Kinder. Nebenan im „Schwan“, im „Ristorante Il Cigno“ sitzt man unter Schatten spendenden Baumriesen und starrt aufs Wasser. Eine Weile geht es dann die Via Francigena entlang, den Franziskanerweg, der auf den Spuren des Heiligen Franz von Assisi auch durch diese Region führt. Ein Brunnen für Pilger kommt den Radfahrern zum Auffüllen der Wasserflaschen gerade recht.  

Piemont - der wunderschöne Lago di Sirio

Der wunderschöne Lago di Sirio

Paläste und Cafés

Eine andere Tour führt zunächst per Eisenbahn mit Fahrradmitnahme nach Turin (3). Die Straßen sind schnurgerade wie auf dem Reißbrett entstanden mit kilometerlangen Arkaden, unter denen sich in der Via Po hölzerne Bücherstände finden wie in Paris entlang der Seine. Gefühlt in jedem dritten Gebäude findet sich ein Café. Und was für welche: Cafés, die wie Paläste anmuten mit fein ziselierten Spiegeln, blank polierten hölzernen Tresen, rötlich funkelnden Marmorplatten auf den gusseisernen Tischgestellen und Leder bezogenen Sesseln. In zwei, drei Stunden wird man dieser Stadt nicht gerecht mit ihren vielfältigen, interessanten Museen: Museo Egizio, Ägyptisches Museum, das bedeutendste in Europa, Galleria Civica d’Arte Moderna GAM, Galerie für moderne Kunst, oder das Museo Nazionale del Cinema, Kinomuseum, um nur einige zu nennen.

Letzteres ist im Wahrzeichen der Stadt untergebracht, in der mit 167,50 Metern Höhe weithin sichtbaren Mole Antonelliana. 1863 wurde sie vom Architekten Alessandro Antonelli als Synagoge geplant, heute beherbergt sie außer dem Museum einen Turm mit Aussichtsplattform. An beeindruckenden Bauten und Plätzen herrscht in der Stadt kein Mangel: Savoyische Residenzen findet man in der einstigen Hauptstadt der Savoyer auf Schritt und Tritt. Die Piazza San Carlo ist von Barockpalästen gesäumt. Den Palazzo Madama, den Palast der beiden königlichen Damen, die nach dem Tod ihrer Ehemänner die Regierungsgeschäfte weiter führten, findet man auf der Piazza Castello genauso wie den Palazzo Reale, den Dom und die Cappella della Sindone mit dem Turiner Grabtuch. Juventus Turin heißt der legendäre Fußballclub. Die Stadt ist für vieles ein Begriff.

Piemont - Turin - Piazzo Castello (mit aufgehängtem Fahrrad)

Piazzo Castello

Ich tu’s den Turinern gleich und verziehe mich auf einen Kaffee in eines der altehrwürdigen Etablissements. „Einen Kaffee, Signora? Welchen denn? Wir haben Caffè con panna, Caffè americano, Bicerin…“. Bicerin, eine lokale Spezialität aus Kaffee, Schokolade und Sahne sollte man natürlich probiert haben. „Oder doch lieber einen Aperitivo, Signora?“ Turin gilt als Hauptstadt des Aperitivs, 1768 wurde hier der Wermut erfunden, und war auch die erste Hauptstadt Italiens. Heute ist sie immerhin die Kapitale des Piemont.

Mit einem weinenden Auge verlasse ich die Schöne den Po entlang. Der Weg führt zunächst durch städtische und vorstädtische Gebiete, mal holprig auf Feldwegen, mal glatt asphaltiert auf Radwegen oder Straßen ins schöne Örtchen Castiglione Torinese (4) und weiter nach Chivasso (5).

Piemont - Castello di Mazzè

Castello di Mazzè

Über Land fährt man nun zwischen Maisfeldern, die rascheln und sich zu bewegen scheinen bis zum Castello di Mazzè mit seinen Türmen und Zinnen mit romanischen und gotischen Details und einem angeblich beeindruckenden Park. Leider stehe ich vor verschlossenen Türen. Ein Schild besagt, man könne vorher eine Telefonnummer anrufen und eine Führung buchen. Das hätte man wissen müssen. Die Region schmückt sich mit ihren Burgen, doch für Radfahrer sind sie nicht immer leicht zu erreichen. Zum Castello di Masino (6) etwa gelangt man nur nach einer langen Auffahrt, vor dem schon das Roadbook warnt: „Nur für sportliche Radler, da sehr steiler Anstieg.“ Das Panorama von hier oben ist freilich einmalig, das Mobiliar im Innern der mehrfach wieder aufgebauten Burg original, der riesige Park im englischen Stil.

Piemont - am Aussichtspunkt von Settimo Rottaro, Blicke ins Umland und aufs Castello di Masino (im Dunst)

Am Aussichtspunkt von Settimo Rottaro, Blicke ins Umland und aufs Castello di Masino (im Dunst)

Ein Dorf voller Kunst

Die süße Belohnung folgt in der Eisdiele von Strambino namens „Il gelato in giardino“, das Eis im Garten. Auf Strambinos Piazza, gleich neben der „Bar Centrale“ wird Eis geschleckt, was das Zeug hält. Tauben umschwirren die gegenüber liegende hellgelbe Barockkirche, 1764 vom Architekten Carlo Andrea Rana geplant. Ein tiefrotes Motorrad tuckert langsam vorbei. Sonst passiert nichts. Man drückt sich in den Schatten und verspeist Eis. Schließlich ist gerade Siesta.

Piemont - Kunst an Hauswänden in Maglione, überraschend

Es sind eher die kleinen, feinen Überraschungen, die man hier suchen sollte, nicht das Spektakuläre. So fahre ich einmal völlig unvorbereitet mitten hinein in eine kleines Dorf und traue meinen Augen kaum: In Maglione (7) sind fast alle Hauswände mit moderner Kunst geschmückt. Eine Open-Air-Gallerie! In keinem der Reiseführer habe ich darüber etwas gelesen.

Piemont - Kunst an Hauswänden in Maglione, überraschend

Ein Dorf voller Kunst, Kaffeesorten ohne Ende, Burgen, interessante Orte, die in keinem Reiseführer stehen, Eisvariationen, das sind einige der „Sensationen“ dieser Region, die man mit wachen Sinnen entdecken muss. Da vorne klatscht wieder ein Plastikvorhang zusammen. Der geschulte Blick erkennt ihn nun schon von Weitem. „Sola?“, fragt der ältere Herr neben mir am Plastiktischchen. „Alleine?“ und streckt dabei einen Daumen in die Luft. Als ich bejahe, zieht er die Augenbrauen hoch und sagt zur Kellnerin: „Sie hat die Ragazzi distanziert, darum ist sie alleine hier. Bravissima!“ Stimmt nicht, ich radele ja alleine, doch das lässt sich nicht vermitteln. Was soll’s auch, man(n) macht hier gerne Komplimente.

Piemont - Blicke von Colleretto Giacosa aus

Blick von Colleretto Giacosa aus

Fazit: Eine lohnende Region für Menschen mit wachem Blick. Die Touren könnten noch ein wenig besser ausgefeilt werden. Oft ist die Streckenführung wenig interessant, teils auch mal auf holprigen Feldwegen oder stark befahrenen Straßen. Von den Burgen, mit denen man wirbt, bekommt man nur wenige zu Gesicht. Mein Tipp: Mehr Turin, mehr Ivrea, mehr Lago di Candia (8).

Reiseinformationen Piemont / Canavese

Informationen

Die beschriebene, individuelle Radreise ist inkl. Übernachtung/Frühstück im 4-Sterne Hotel Relais Villa Matilde www.relaisvillamatilde.com, Unterlagen für die Radtouren etc. buchbar bei:

Eurofun Touristik GmbH, Mühlstr. 20, 5162 Obertrum, Österreich, Tel. +43 (0)6219/ 74 44, Infohotline Deutschland (gratis) 0800 58 89 718, E-Mail: eurobike@eurobike.at, www.eurobike.at, Leihräder und Halbpension zubuchbar.

An-/Abreise

In Zügen mit Fahrradmitnahme z.B. CNL ab Frankfurt bis Venezia Mestre oder EC bis Verona, dann weiter in Regionalzügen bis Strambino, www.bahn.de

Literatur und Karten:

Von Eurobike ist eine Routenbeschreibung mit Karten im Preis inbegriffen.

Sabine Becht, Piemont & Aostatal, Michael-Müller-Verlag, ISBN 978-3-89953-630-0, Euro 19,90

Margit Knapp, Turin. Eine literarische Einladung, Verlag Wagenbach, ISBN 978-3803112323, Euro 14,90.

 

Website der Autorin: www.judith-weibrecht.de

 

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