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Klatsch in der Moldawanka

Odessa, Sevastopol, Jalta - Ukrainische Städte am Schwarzen Meer

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Er meint es tatsächlich ernst. Mit Händen und Füßen, russischen und englischen Sprachbrocken versucht der junge Blondschopf die Frau zu bewegen, ihm ihren Kinderwagen zu leihen. Sie wehrt empört ab. Erst als sie endlich versteht, dass er das Gefährt nur auf eine der Plattformen stellen, und nicht wie in "Panzerkreuzer Potemkin" über die berühmten 192 Stufen hinunter poltern lassen will, ist sie einverstanden - nicht ohne vorher ihr Baby herauszunehmen. Soll der Spinner aus Europa sein Foto haben: "Kinderwagen auf der Potemkin-Treppe", 100 Jahre nachdem die Soldaten des Zaren die Aufständischen die 33 Meter nach unten getrieben haben. 80 Jahre, nachdem Sergej Eisenstein seinen grandiosen Film gedreht hat.

Ukraine - Potemkin-Treppe
Potemkin-Treppe

Odessas verborgene Schätze

Odessa steckt voller Geschichten. Manche erlebt man selbst, andere warten verborgen in den Mauern, und es bedarf einer kundigen Begleiterin, sie hervorzulocken. Lydija sitzt im Schatten und erholt sich ein wenig. Das Herz - aber gleich geht es weiter, da ist noch so viel, was die zerbrechliche ehemalige Deutschlehrerin dem Fremden zeigen muss. Durch die Puschkinstraße hatte sie ihn geführt, wie alle Nord-Süd-Straßen von Akazien gesäumt, während entlang der Ost-West-Verbindungen Platanen und Kastanien wachsen. Unter die gedrechselten Säulen, die Holzbalkone und wasserspeienden Drachen im Hof der zweiten Börse, heute die Philharmonie. Vor das Hotel, in dem Puschkin wohnte, mit seinem neuen Denkmal. Einen Tag, nachdem es aufgestellt worden war, fehlte schon der bronzene Spazierstock. Ein glühender Verehrer des Dichtergotts? "Ach was, Bronze lässt sich besonders gut verkaufen."

Ukriane - Odessa - Opernhaus
Das Opernhaus in Odessa

Die Oper, von den Architekten der Mailänder Scala entworfen, wurde in den letzten Jahren prächtig restauriert. "Odessa ist wie ein Bienenwabe, unterhöhlt von Hunderten von Gängen und Katakomben. Sechs Millionen Liter flüssiges Silikatglas hat man in den Untergrund gepresst, um die Fundamente zu stabilisieren - und jetzt, sehen Sie!" Direkt hinter der Oper wurde ein fünfstöckiges Wohnhaus mit der gleichen klassizistischen Fassade errichtet: "Wir alle zittern, wie lange der Boden das noch aushält - aber natürlich will keiner es gewesen sein." Wie so oft in Osteuropas Umbruchsjahren.

Grundsätzlich ziehen die über eine Million Einwohner von Odessa es vor, Geschäfte zu machen, statt sich um Politik zu kümmern. Geschäfte, wie sie Alexander Pawlowski so phantasievoll zu betreiben versteht. Einfacher Straßenfotograf war er, auf dem Derybas-Boulevard mitten im Zentrum. Fand nach 1991 einen schottischen Partner, der bereit war, mit ihm zusammen das "Cafe Vorontsov" aufzuziehen, in dessen Springbrunnen angeblich edel parfümiertes Wasser plätschert. "Guerlain", behauptet die Kellnerin. "Badezusatz", korrigiert Lydia. Ein "Irish Pub" kam bald dazu, andere Beteiligungen folgten. Nur der Absatz von Agfa-Filmen in einer Bude im Stadtgarten lief nicht so richtig. Kurzerhand stellte Pawlowski das Denkmal eines Mannes auf einer Parkbank auf, der einladend seinen Arm auf die Lehne legt: Kommt mit aufs Foto! Leonid Utiossow ist es, ein jüdischer Sänger, Stück vom Herzen der Stadt, dessen Lieder man in der Telefonzelle gegenüber für ein paar Kopeken auch gleich abhören konnte - bis kürzlich die Vandalen kamen.

Ukraine - Odessa - Denkmal auf Parkbank

Das Grün der Parks, die sonnengesprenkelten Tunnel der Alleen, all die zerfallenden oder schon restaurierten hochherrschaftlichen Fassaden in Cremegelb und Altrosa verleihen der Stadt etwas Leichtes, Flirrendes, Gelassenes. Selbst als der Himmel einbricht über Odessa, Regenschwaden die zerfressenen Häuser peitschen und ein brauner Urstrom sich durch die Straßen wälzt, schwindet der Zauber nicht ganz. Und Lydija drängt weiter: Einen jener Hinterhöfe in der Moldawanka, dem Arme-Leute-Viertel muss sie noch zeigen, in dessen Mitte eine Zisterne das kostbare Wasser auffing, und man von Balkon zu Balkon in vielen Sprachen Gemeinheiten austauschte und sich Zwiebeln lieh und die Journalisten mit den Lastenträgern zusammensaßen, um den neuesten Klatsch zu erfahren - ganz so wie Isaak Babel es beschrieben hat.

Ukraine - Odessa - renovierungsbedürftiges Treppenhaus
Einiges zu renovieren in der Altstadt ...

Auch dem Katakombenmuseum gilt es noch einen Besuch abzustatten. 300 Partisanen lebten hier während des 2. Weltkriegs zehn, zwanzig Meter unter der Erde, schliefen auf Schilf, druckten Flugblätter gegen die deutschen Besatzer und trockneten ihre Kleider in einer Tonne, ehe sie nach oben gingen, damit der muffige Geruch sie nicht verriet.

Heldengeschichten aus Sevastopol

Geschichten sind allgegenwärtig am Schwarzen Meer. In Sevastopol, erst seit den 90er Jahren für Touristen zugänglich, ist es Tatjana, die sie zum Leben erweckt, Tatjana, die so gerne Schauspielerin geworden wäre und doch seit langen Jahren lustlos ihr Geld als Englischlehrerin verdient.

Ukraine - Sevastopol - Wachablösung am Ehrenmal
Wachablösung am Ehrenmal des 2. Weltkriegs

Geschichten in einer "Heldenstadt" sind, versteht sich, Heldengeschichten. Am Denkmal für die Gefallenen des 2. Weltkriegs marschieren vier Schüler und zwei Schülerinnen in Matrosenuniform auf: Im Stechschritt zum ehrenvollen Gedenken der toten Vorfahren, die trotzdem nicht verhindern konnten, dass die Deutschen die Stadt zu 99 Prozent in Schutt und Asche legten. Stalin ließ sie direkt nach dem Krieg wieder aufbauen, in durchaus vorzeigbarem russischem Klassizismus, mit vielen weißen Säulen und Bögen und dazwischen Grün. Ein braungebrannter Offizier a.D. kontrolliert wohlwollend das Geschehen: Nestelt hier eine Armbinde zurecht, korrigiert da einen Griff am Gewehr und rückt ein Käppi gerade. Dann stehen die Jungen regungslos bis zur Ablösung, fast in Sichtweite jener anderen Ehrentafel, die Fotos verdienter Werktätiger des Bezirks Gagarin zeigt: Ein Verkehrsinspektor, eine Postfrau, eine Sekretärin - und der Mann, der Woody Allen ähnelt, ist ein besonders verantwortungsvoller Hausmeister. Er hat die Ehrung sicher am meisten verdient.

Noch liegt die russische Flotte im Hafen von Sevastopol, den Putin bis 2017 von der Ukraine gemietet hat. Weißbemützte sind im Straßenbild allerorten präsent. "90 Prozent unserer Einwohner sind Russen", sagt Tatjana. "Und 90 Prozent unserer Einwohner haben gegen Juschtschenko gestimmt."

Ukraine - Sevastopol - Panoramamuseum
Szene im Panoramamuseum

2000 Denkmäler weist Sevastopol auf. Und zahlreiche Friedhöfe mit Angehörigen aus aller Herren Länder. Franzosen, Engländer und Türken liegen hier seit dem Krimkrieg 1853 bis 1856. An den erinnert, in Malerei und plastischer Ausgestaltung, das Panoramamuseum. Auf einer fast 150 Meter langen Leinwand rundum, 14 Meter hoch, wehren die Russen in den Morgenstunden des 18. Juni 1855 ein letztes Mal den Ansturm der Angreifer ab, ehe sie bald darauf überrannt werden: Rauch und Feuersbrünste wabern, Kanonenkugeln schlagen ein, die Reste des getroffenen Offiziersunterstandes glühen noch - dank einer Mischung aus Farbe und Christbaumglitter -, und inmitten des großen Tohuwabohus erschöpfter, verwirrter, stürmender und sterbender Soldaten geht Feldchirurg Pirogov seiner Arbeit nach, unterstützt von "Dascha Sevastopolska, unserer russischen Florence Nightingale".

Ukraine - Sevastopol - Bucht von Balaklava
Blick auf die Bucht von Balaklava

Der viel bekanntere "Engel der Verwundeten" und ihre 38 Mitkrankenschwestern verbanden und trösteten englische Soldaten in Balaklava, ein paar Kilometer weiter. Wo wiederum, rund ein Jahrhundert später, ganz andere Helden tätig waren. In einem Berg in der Bucht befanden sich hochgeheime Docks, in denen 300 Offiziere rund um die Uhr die U-Boote der Sowjetflotte warteten. Nur ausgewählte Personen hatten Zutritt zum Ort und waren zu absolutem Schweigen verdonnert, Balaklava war auf keiner Landkarte zu finden. Heute sind die Schiffe abgezogen, die Tunnel zugänglich, alles, was nicht niet- und nagelfest war, ist längst geklaut, bis auf die 60 Zentimeter dicken Tore aus Eisen und Blei. Da bedarf es schon einer Führerin, um sich vorstellen zu können, wie in den graugestrichenen Hallen atomare Sprengköpfe montiert wurden, steril wie in einem Operationssaal, oder, bei tagheller Beleuchtung in tiefer Nacht, bis zu neun Boote in die Kanäle einliefen, während draußen die Tarnnetze wieder heruntergingen.

Ukraine - Sevastopol - Tunnel von Balaklava
In den Tunneln von Balaklava

Zivile, aber nicht weniger umworbene Helden lebten im "Observatorium der Krim" bei Bakchisaray. 1955 begann die sowjetische Regierung auf einer kleinen Hochebene eine eigene Stadt für Weltraumforscher anzulegen: Wohnhäuser, eine Post, drei Geschäfte, eine Apotheke und ein eigenes Umspannwerk auf einer Fläche von 1000 mal 500 Metern. 1500 Menschen leben noch immer dort, ein Viertel im Dienst der Wissenschaft. Nach einem Riesenteller Borschtsch und einer nicht weniger gewaltigen Portion Reis mit Lamm im Gästehaus führt die Astrophysikerin Elena Pavlenko durch ein paar der zwölf Beobachtungstürme, die sich wie weiße Pilze aus dem Grün schieben. Knarrend öffnen sich die Kuppeln, vorsichtig justiert die Frau mit dem jungenhaften Gesicht das Teleskop - endlich erscheint ein goldener Fleck in der Linse, überzogen von zwei flirrenden Streifen: Jupiter ist es, fast 800 Millionen Kilometer entfernt, der Planet, über den Zyklonenstürme jagen, und daneben seine Satelliten Jo, Kallisto, Ganymed und Europa. Gar nicht müde wird Nachtmensch Elena, von Schwarzen Löchern und Roten Zwergen zu erzählen, von Photonen, Magnetfeldern und schließlich auch von jenem ordnungsliebenden russischen General, der bei seinem Besuch auf einem der Spiegel Staub entdeckte und sich kurzentschlossen daran machte, die hochempfindliche Oberfläche mit Spucke und einem Taschentuch sauber zu reiben.

Ukraine - Sevastopol - Elena Pavlenko im Observatorium
Elena Pavlenko im Observatorium

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