Tai Chi, Orakelstäbchen und Meditations-Retreats

Auf Weisheitssuche in Taiwan

Text und Fotos: Rainer Heubeck

 

Taiwan - Konfuziustempel in Taipeh

Samstagmorgen, 9 Uhr: Mit andächtigen Schritten schreiten vier Damen, die lilafarbene Seidenmäntel tragen, nacheinander in den Innenhof des Konfuziustempels. Ihre Blicke sind geradeaus gerichtet, die Finger der rechten Hand umklammern auf Hüfthöhe einen roten Holzstab, den die linke Hand etwas unterhalb der Brusthöhe abstützt. Der oberste Teil des Stabes ist mit goldfarbenem Metall verziert, daraus ragen drei lange schwarz-weiß gemusterte Federn nach oben. Die Kleiderordnung für den Ya Yue-Tanz ist genau vorgeschrieben. Denn der Tanz ist eine heilige Zeremonie, die früher nur zu besonderen Anlässen durchgeführt wurde, etwa um den Himmel oder die Vorfahren zu preisen.

Taiwan - Konfuziustempel in Taipeh

Die Zeremonie stammt ursprünglich aus dem alten China, doch in Taiwan, das nie eine Kulturrevolution durchlebte, ist diese Tradition heute besonders lebendig. Jeden Samstag- und Sonntagmorgen um neun Uhr zeigen die Tänzerinnen im Konfuziustempel in Taipeh ihre filigranen Bewegungen – und werden dabei von Musikern mit Achttonmusik begleitet. Die Positionen der Tänzer und der Musiker mit ihren Zithern, Trommeln, Glocken und Flöten sind genau festgelegt: Die Tänzerinnen auf der einen Seite des Hofes, die rot gekleideten priesterähnlich wirkenden Musiker mit ihren rituellen Instrumenten auf der anderen Seite, diese Anordnung ist eine Reminiszenz an Ying und Yang.

Taiwan - Konfuziustempel in Taipeh

Eine beeindruckende Vorstellung, zu der sich an diesem regnerischen Samstagmorgen nur wenige Besucher eingefunden haben. Was nicht heißt, dass der Konfuziustempel leer ist. In einer Vorhalle haben sich etwa ein Dutzend Menschen versammelt. Konzentriert trainieren sie langsame Bewegungen – und achten dabei auf ihre körpereigenen Energiebahnen. Ein Coach gibt Tipps zur richtigen Haltung, die Wachheit und Geistesgegenwertigkeit der Trainierenden zeigt sich in ihren Gesichtern. Tai Chi, eine Mischung aus Bewegungslehre, Religion und Kampfkunst, ist in Taiwan eine Massenbewegung, zu der sich zahlreiche Menschen jeden Morgen in Tempeln und Parks versammeln.

Taiwan - Konfuziustempel in Taipeh - Tai Chi

Ich will mehr erfahren zur konfuzianischen Tradition und begebe mich in ein kleines Kino auf dem Gelände des Konfuziustempels. Dort läuft ein Zeichentrickfilm, der drei Jugendliche zeigt, die sich mit den konfuzianischen Lehren befassen wollen. Die drei fliegen darin mit einem feuerspeienden Drachen durch die Luft und werden vom Wind hin und her geschüttelt. Auch mein Kinosessel bewegt sich, selbst künstliche Windstöße und Nebelschwaden sind die High-Tech-Vorführung eingebaut. Konfuzius scheint im 21. Jahrhundert angekommen – vielleicht ist das die taiwanesische Version von „Laptop und Lederhose“.

Taiwan - Taipeh - Longshan-Tempel im Stadtteil Wanhau

Dass Festland-Chinesen ihre Philosophie und Religion nach Taiwan mitgebracht haben, zeigt auch der Longshan-Tempel im Stadtteil Wanhau. Er wurde im Jahr 1738 von Einwanderern aus China gegründet, die ihre Tradition bewahren wollten. Der buddhistische Tempel mit taoistischen Einflüssen ist der Göttin der Barmherzigkeit gewidmet, doch insgesamt werden in ihm an die 100 verschiedene Gottheiten verehrt. Besonders stimmungsvoll ist es, diesen Tempel, der nur über das rechte Tor betreten werden sollte, am Abend zu besuchen, wenn sich der Trubel gelegt hat. Doch auch dann sind noch zahlreiche Besucher unterwegs. Sie zünden Räucherstäbchen an und befragen das Orakel zu ihrer Zukunft – und bitten die Götter um Gesundheit, wirtschaftlichen Erfolg oder Glück bei der Partnersuche.

Taiwan - Taipeh - Longshan-Tempel im Stadtteil Wanhau

Bevor die Gläubigen es wagen, den Göttern ihre Fragen zu stellen, werfen sie zwei halbmondförmige Holzklötze mit gewölbter Oberseite und flachem Boden in die Luft, die mit einer bestimmten Anordnung auf den Boden fallen müssen. Erhalten die Tempelbesucher auf diesem Weg das Go, dürfen sie aus einer Dose ein Orakelholz ziehen, um eine Antwort auf ihre Frage zu finden. Dieser Holzstab verrät eine Zahl, zu der die Gläubigen dann in einer kleinen Schublade einen Zettel finden, der die entscheidenden Hinweise gibt. Falls sie die Aussagen, die ohnehin nur in chinesischer Schrift dort zu lesen sind, nicht verstehen, können sie sich diese von Experten im Tempel interpretieren lassen – ein Service, der durchaus angenommen wird, tagsüber stehen die Leute hier Schlange. Wenn man die Zettel genau liest, wirken viele der Weisheiten jedoch ähnlich gehaltvoll wie billige Zeitungshoroskope. „Wenn es nach unten geht, kann es auch wieder nach oben gehen“, ist da beispielsweise zu lesen. „Wenn man hart arbeitet“, so heißt es auf einem anderen der Orakelzettel, „dann kommt man auch zum Erfolg.“ Wenn nicht heute, dann sicherlich morgen…

Taiwan - Taipeh - Longshan-Tempel im Stadtteil Wanhau

Im Longshan-Tempel zeigt sich buddhistische Volksreligion, gemischt mit Taoismus und Geisterglaube, zum Teil als recht simpler Hokuspokus. Viel ernster wird der Buddhismus in zahlreichen Klöstern genommen, die sich über das ganze Land verteilt finden. Sie lassen sich unterschiedlichsten buddhistischen Strömungen zuordnen. Etwa der Fo Guang-Shan Strömung, die bei Kaohsiung das größte Kloster Taiwans betreibt, dem Pure Land Buddhismus oder dem Zen- bzw. Chan-Buddhismus. Letzterer hat seinen Haupttempel in der Nähe von Puli – den Chung Tai Tempel. Das beeindruckende Gebäude ist mehr als 100 Meter hoch und kostete über 100 Millionen Dollar. Es dient als Wohnort der Mönche und Nonnen, aber auch als Versammlungs- und Meditationszentrum. Der Tempel, dem zwei Museen mit buddhistischer Kunst angegliedert sind, wurde 2001 fertiggestellt. Erbaut wurde er auf Initiative von Wei Chueh, der bis zu seinem Tod im Jahr 2016 als Abt und spiritueller Meister des Tempels fungierte. Entworfen und geplant wurde der Tempel von Chang Yong Lee. Der Stararchitekt hat auch das höchste Haus Taiwans konzipiert – den in Form eines Bambusrohrs erbauten Wolkenkratzer Taipei 101.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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