Naturidyll an der polnisch-ukrainischen Grenze

Mit Kutsche, Boot und Schmalspurbahn durch die Waldkarpaten im Südosten Polens

Text und Fotos: Rainer Heubeck

Seit 1993 lebt und arbeitet Ryszard Predki bereits im äußersten Südosten Polens, im Bieszczady-Nationalpark, dem drittgrößten Naturpark Polens. Eine von Wäldern und von den Ausläufern der Karpaten geprägte Landschaft, in der die Natur noch Natur sein kann – denn die polnischen Waldkarpaten sind ausgesprochen dünn besiedelt. Bären, Wölfe, Luchse, Adler und Hirsche gibt es im Bieszczady-Nationalpark, doch Mensch und Tier gehen sich meist aus dem Weg.

Polen - Waldkarpaten

 „Ich bin seit Jahren viel in der Natur unterwegs, aber bisher habe ich kein einziges Mal einen Bären in freier Wildbahn gesehen, diese Tiere kenne ich nur aus dem Zoo“, beteuert Ryszard Predki, der inzwischen als Chef in der Nationalparkbehörde tätig ist. Dass die Waldkarpaten ein Rückzugsgebiet für verschiedene Tierarten ist, liegt auch daran, dass die Region extrem dünn besiedelt ist – vor allem, seit 1947 fast die gesamte ukrainische Bevölkerung inklusive der Lemken und Bojken aus der Region deportiert worden ist. Für die Menschen waren diese Zwangsumsiedlungen ein Drama, für die Natur jedoch ergab sich daraus eine Chance. „Es hat immer schon Wölfe in dieser Gegend hier gegeben, aber vor dem Zweiten Weltkrieg waren es viel weniger, weil das Gebiet stark besiedelt war. Nach den Umsiedlungen wurden es deutlich mehr, denn die Bieszczady-Region war bis in die 70er Jahre fast menschenleer“, berichtet Ryszard Predki. Der langsam aufkommende Tourismus ist für die Nationalpark-Region bislang keine Bedrohung, sondern eine Chance – wobei die Kernzone des Nationalparks für Besucher tabu bleibt.

Polen - Waldkarpaten

Doch da der Nationalpark ohnehin nur etwa zehn Prozent der Fläche des Bieszczady -Gebirges umfasst, bleibt genug Raum für Wanderer, Pilzesucher, Radfahrer und Reiter. Die finden in den Beskiden, so ein weiterer Name des Gebirges, ein Land der offenen Fernen – im Gegensatz zu den bayerischen Alpen liegt die Baumgrenze hier nicht bei 1700, sondern nur bei 1100 Metern. Die Landschaft wird geprägt von Buchen-, Tannen und Erlenwäldern und von der Polonina, einer mit Gras bewachsenen Freifläche, die früher zum Teil als Hochweide genutzt wurde. Höchster Berg der Region ist der sattelförmige Tarnica, der nahe an der ukrainischen Grenze gelegen ist und aus zwei Gipfeln besteht, die 1339 bzw. 1346 Meter hoch sind.

Zu Fuß und Pferd unterwegs

Polen - Waldkarpaten - Kutsche

Wanderungen entlang der Gebirgsketten gehören zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten in den Biskaden. Wer will, kann die Region jedoch auch auf dem Rücken eines Pferdes oder von den Holzbänken einer Kutsche aus entdecken. Im Ort Wolosate (1), nicht weit von der ukrainischen Grenze entfernt, betreibt die Nationalparkverwaltung eine eigene Pferdezucht. Ziel der Einrichtung, die derzeit über 74 Tiere verfügt, ist es, die Rasse der Huzulenpferde, von denen es weltweit nur noch wenige hundert Tiere gibt, am Leben zu halten. Die instinktsicheren und nervenstarken Huzulenpferde sind zäh, flink und trittsicher und an die harten Bedingungen in den Karpaten angepasst. Die relativ kleinen Tiere sind ausgeglichen und gutmütig – deshalb sind sie nicht nur für die Zucht und für den Tourismus wichtig, sondern sie werden auch für den therapeutischen Einsatz genutzt. Wer von den Stallanlagen beim Dorf Wolosate aus einen Kutschausflug mit einem Nationalpark-Mitarbeiter unternimmt, hat nicht nur beste Ausblicke auf die baumlosen Berggipfel, sondern kann bis auf etwa einhundert Meter an die ukrainisch-polnische Grenze heranfahren, die durch einen weiß-roten und einen blau-gelben Grenzpfosten gekennzeichnet ist. Bei der Rückfahrt durch das Wolosty-Tal passiert die Kutsche einen kleinen Friedhof – das einzige Überbleibsel des Bojkendorfes Wolosate, das einst über 1000 Einwohner hatte, aber nach dem zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurde.

Polen - Waldkarpaten - Grabkreuz

Am Solina-Stausee

Die Waldkarpaten im Dreiländereck Polen, Ukraine und Slowakei sind ein unentdecktes Stück Europa, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. So lässt sich die Gegend durchaus beschreiben – und doch ist das nur eine Facette der Region, die im Sommer und Herbst mit einer Fülle an Pilzen sowie mit Blaubeeren, Himbeeren und Brombeeren lockt. Nur ein Stück entfernt, am Ufer des bis zu sechzig Meter tiefen Solina-Stausees (2), der 1968 geflutet wurde, zeigen die Waldkarpaten ein anderes Gesicht: Der größte Stausee Polens, der unter anderem zum Betrieb eines Wasserkraftwerks genutzt wird, ist ein beliebtes Ausflugsziel. Am Ufer des 2200 Hektar großen Sees finden sich Hotels, Ferienanlagen, Campingplätze, Souvenirstände, Restaurants und Karussells.

Polen - Waldkarpaten - Solina-Stausee

Zu den beliebtesten Aktivitäten gehören Rundfahrten über den See, beispielsweise mit Kapitän Tadeusz Gurgul, der seit 15 Jahren in der Region lebt. „Ich habe die Berge und den See gesehen und mich total in diese Landschaft verliebt, deshalb bin ich hier geblieben“, berichtet Gurgul, der von sich behauptet, die interessanteste Bootsfahrt auf dem Solina-Stausee anzubieten. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Jan Zajda lebt Gurgul in einem Holzhaus am Seeufer – und denkt manchmal wehmütig an die gute alte Zeit zurück. „Früher gab es kaum Häuser mit Strom hier, da sah man nachts nur kleine Feuer an den Ufern, jetzt ist es kommerzieller geworden, es gibt eine Menge Souvenirstände, an denen Sachen verkauft werden, die kein Mensch braucht“, berichtet der 65-jährige.

Polen - Solina-Stausee - Kapitän Tadeusz Gurgul

Neben dem Solina-Stausee gibt es in den Waldkarpaten noch eine weitere Touristenattraktion – die Waldbahn, eine Schmalspurbahn, die in den Sommermonaten täglich auf der elf Kilometer langen Strecke von Majdan (3) nach Przyslup (4) über die Gleise holpert. Die Bahn, die Ende des vorletzten Jahrhunderts vorwiegend für den Holztransport gebaut wurde, ist seit dem Jahr 1997 wieder aktiviert. Die Fahrt mit dem Bummelzug, die auf einer kurvigen Strecke durch unberührte Natur führt, ist überaus beliebt, empfehlenswert ist es, sich gleich im Vorab ein Fahrkarte zu reservieren.

Polen - Solina-Stausee - Schmalspurbahn

Bei der Zugfahrt von Majdan nach Przyslup, der Bootsfahrt auf dem Solina-Stausee und bei der Kutschfahrt durchs Wolosty-Tal sind die Biskaden vor allem als Naturidyll erlebbar. Doch auch Kulturinteressierten hat die Region viel zu bieten – vor allem in der Umgebung von Sanok (5), einer 40.000 Einwohner-Stadt am Ufer des Flusses San. Im Sanoker Schloss befinden sich Himmel und Hölle gewissermaßen unter einem Dach – das Schlossmuseum beherbergt nicht nur eine der größten Ikonensammlung Polens, in der rund 1200 Ikonen sowie Altar- und Prozessionskreuze gezeigt werden, sondern auch eine Ausstellung mit Bildern des 2005 verstorbenen polnischen Malers Zdzislaw Beksinski, dessen düster-futuristische Werke oftmals Weltuntergangsstimmung ausstrahlen, aber dennoch – oder vielleicht deshalb – ästhetisch fesseln. Sanok ist zudem Ausgangspunkt einer siebzig Kilometer langen Ikonenroute, die zu Fuß, mit dem Auto oder dem Fahrrad zurückgelegt werden kann.

Polen - Ikone im Schlossmuseum in Sanok

Viele der Kirchen in der Region sind vor den Zwangsumsiedlungen im Jahr 1947 als griechisch-katholische Kirchen genutzt wurden. Diese Konfession hatte eine orthodoxe Kirchenarchitektur und Liturgie mit einer Anerkennung des Papstes verbunden. Kulturellen Einfluss hat die Kirche, die inzwischen römisch-katholisch und nicht mehr griechisch-katholisch ist, in Sanok auch weiterhin – so setzten sich Gläubige dafür ein, dass eine Schwejk-Figur, die in der 3-Maja-Straße in Sanuk auf einer Bank sitzt, offiziell nicht als Denkmal anerkannt wird. Denn im historischen Roman, dem man inzwischen auf einer Schwejk-Route, die auch durch Sanok führt, nachreisen kann, holt Schwejk in Sanok seinen Vorgesetzten des nachts aus einem Bordell – und aus diesem Grund ist ein Denkmal für die Romanfigur aus klerikaler Sicht tabu. Beliebt ist der Sanoker Schwejk dennoch – denn wenn man ihm an die Nase fasst, soll das Glück bringen.

Polen - Sanok - Schwejk-Figur

Doch nicht nur die Schwejk-Figur in Sanok ist umstritten – auch die Arbeiten des Künstlers und Ikonenschnitzers Zdzisława Pękalskiego polarisieren: Denn Zdzisława Pękalskiego verfolgt seinen Anspruch, tote Bäume in eine Kapelle zu verwandeln, zum Teil auf recht skurrile Art und Weise – beispielsweise platzierte er eine Heiligenfigur in einen hölzernen Schweinetrog. Und obgleich Pękalskiego beteuert, dass ein Priester in seiner Galerie bereits die Messe gelesen habe – fasziniert ist der charismatische Künstler nicht nur von Heiligen, sondern auch von Teufeln. Und davon, so versichert er, gibt es gerade in den Waldkarpaten besonders viele. Allerdings seien diese Teufel nicht unsterblich, wie in anderen Regionen – sondern sie müssten gelegentlich das Zeitliche segnen. Und das kann der ehemalige Lehrer, Schauspieler, Kabarettist und Gedichtsautor, der im Jahr 1941 in Lemberg geboren wurde, sogar beweisen – denn er persönlich hat, so versicherte er, im Wald ein Grab gefunden, in dem ein toter Teufel bestattet gewesen ist. Den Totenschädel, aus dem zwei Hörner ragen, hat er selbstverständlich gleich mitgenommen – und er stellt ihn als Beweisstück nun in seiner Galerie aus.

Auf den Spuren der Ölindustrie

Der Südosten Polens ist mehr als ein Rückzugsort für Naturfreunde und für Menschen, die gern unkonventionell und ungestört leben – er ist auch eine Region, in der europäische Industriegeschichte geschrieben wurde. In der Nähe von Krosno (6) wurde vor mehr als 150 Jahren die erste Erdölförderanlage der Welt in Betrieb genommen – ergänzt um einige Raffinerien und Destillerien, die so bedeutsam waren, dass selbst der 23 Jahre alte John D. Rockefeller, später einer der Gründer der Standard Oil Company, aus den USA anreiste, um die Ölwirtschaft in der Region zu studieren.

Heute erinnert ein liebevoll eingerichtetes Freilichtmuseum an die Zeit, in der die Waldkarpaten ein europäisches Texas waren – und in der der Chemiker und Apotheker Jan Józef Ignacy Łukasiewicz eine Lampe entwickelte, die nicht mit Walöl, sondern mit Petroleum betrieben wurde. Eine Entwicklung, die bereits 1853 – im Jahr ihrer Erfindung - bei einer nächtlichen Blinddarmoperation im Lemberger Piaristenkrankenhaus erfolgreich eingesetzt wurde. Anfangs stammte das Öl für die neuen Lampen aus seichten Sickergruben, doch schon im Jahr 1854 eröffnete Lukasiewicz zusammen mit zwei Partnern das erste „Ölbergwerk“ der Welt. Dort ragten die Bohrschächte dreißig bis fünfzig Meter in die Erde, später waren sie sogar bis zu 150 Meter tief. Zwischen 1854 und 1880 entstanden rund sechzig Bohreinrichtungen, die es ermöglichten, jeden Tag mehrere Tausend Liter Öl zu gewinnen. Etliche davon sind im Museum der der Öl- und Gasindustrie in Bóbrka noch heute zu bestaunen. Glaubt man den Mitarbeitern des Freilichtmuseums, könnte es sogar sein, dass die Ölgewinnung in Südostpolen in den nächsten Jahren wieder zum Leben erweckt wird. „Es gibt Pläne, künftig tiefer zu bohren und dann könnte es wieder wirtschaftlich sein, hier Öl zu gewinnen“, beteuert der Museumsführer Tadeusz Szopa, der mit seiner Arbeit eine Familientradition fortführt – auch sein Vater und sein Großvater waren in der galizischen Ölindustrie tätig.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Reiseveranstalter Polen bei schwarzaufweiss

 

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