Polen
Die Zwergeninvasion von Breslau
Text und Fotos: Beate Schümann
Einst galten sie als Symbol des politischen Widerstandes. Heute haben Zwerge aus Bronze die Altstadt erobert und längst auch die Herzen der Besucher
Künstler-Zwerg
Der kleine Kerl zwinkert und winkt, als wollte er fragen: „Hey, heute schon gelacht?“ Er ist nur so groß wie eine Taube, hält eine Sonnenblume in der Hand und seine Zipfelmütze ist abgegriffen. Ein Glückszwerg. Leicht ist er nicht zu finden, wie eben das Glück selbst. Man findet ihn am Glas-Brunnen des Rynek, dem mittelalterlichen Marktplatz, der von einem farbenfrohen Ensemble aus Bürgerhäusern und dem gotischen Rathaus umstellt ist.
Giebelhäuser mit Brunnen am Marktplatz Rynek
Zwerge kennt man aus dem Märchen oder aus dem Vorgarten. Es sind Wesen, die wir als relative Riesen übersehen. Und so oft begegnen wir ihnen ja auch nicht. Außer in Breslau oder polnisch: Wroclaw. In der einstigen schlesischen Hauptstadt gibt es Hunderte; sie haben sich überall auf Plätzen, in Straßen und Gassen verteilt. Und der Bestand wächst. Mal hocken sie auf dem Dach, mal klammern sie sich an einen Laternenpfahl oder lümmeln sich am Boden. In Breslau sind sie allgegenwärtig.
Zwerge in der Einkaufsstraße ulica Swidnicka (Schweidnizer Strasse)
Mit ihren Kanälen und Inseln mag die Stadt an der Oder an Venedig erinnern, die Vielzahl der Brücken an Budapest, die Oper an Mailand und die astronomische Uhr am Rathaus an Prag. Heute ist der Zwerg das Symbol der Metropole in Niederschlesien. Breslau, das mal böhmisch, mal ungarisch, mal deutsch, mal polnisch war, ist an Regimewechsel gewöhnt. Die Wichtel starteten ihren Eroberungszug vor zwanzig Jahren und nahmen die Menschen sofort für sich ein – auf ihre Weise: mit Charme und Witz.
Der Geld-Zwerg an einer Bank am Rynek
Ursprünglich kamen sie in den 1980er Jahren als Symbol des zivilen Ungehorsams auf. Damals rief die Oppositionsbewegung „Orange Alternative“ zu spontanen Aktionen und friedlichen Protesten gegen das sozialistische Regime auf. Immer mehr Demonstranten erschienen im Zwergenkostüm, um das System lächerlich zu machen. Als wollten sie sagen: Wir sind zwar klein, aber viele und nicht ohnmächtig.
Überall in der Stadt sah man plötzlich Zwerge. Wo die Miliz antikommunistische Parolen an Wänden, Mauern und Brücken übermalte, wurden lächelnde Graffiti-Kobolde aufgesprüht. Humor als Waffe gegen Unterdrückung.
Papa-Zwerg, der erste Zwerg, aufgestellt 2001 zur Erinnerung an die Revolution. Am Kulturtreff Café Barabara
Aus den Protest-Zwergen ist eine Love-Story geworden: Sie sind die Lieblinge der Einwohner und der Besucher, vor allem der Kinder. Längst haben sie sich zu einer eigenständigen Sehenswürdigkeit ausgewachsen und zur meist fotografierten Attraktion Breslaus. Die erste Bronzefigur wurde im Jahr 2001 zur Erinnerung an die Revolution von damals aufgestellt: ein korpulenter, grinsender Papa-Zwerg vor dem Kultur-Treff Barbara in der ul. Świdnicka, wo die meisten Proteste anfingen.
Rathaus am Marktplatz Rynek
Von hier aus breiteten sich die putzigen, dreißig Zentimeter großen, fein gearbeiteten Geschöpfe wie eine Armee im Stadtbild aus. Die beiden Sisyphus-Wichtel gleich um die Ecke schieben eine riesige Weltkugel aus Granit vergeblich in eine Richtung. Bei Hausnummer 2 hat der Computerzwerg seinen Laptop auf den Knien und schreibt. Eine Referenz ans digitale Zeitalter und die hohe Zahl der Studenten: ein Viertel der gut 650.000 Bewohner studieren. An der Hauswand einer Bank hebt einer bronzene Geldscheine ab, sie probieren Brillen vor einem Optiker, fahren Motorrad, Bagger und Schiebkarren oder verkünden Greenpeace-Botschaften. Die meisten finden sich in der Altstadt rund um den mittelalterlichen Markt Rynek, die im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört war und später mustergültig wiederaufgebaut wurde.
Die Sisyphus-Zwerge in der ul. Swidnicka
Anfangs ein Kunstprojekt der Universität, entwarf der Bildhauer Tomasz Moczek ab 2005 weitere Skulpturen im städtischen Auftrag. Im Jahr 2009 existierten im Stadtbild 95 Miniaturen, fünf Jahre später wurden rund 300 gezählt. Die Zwergen-Datenbank wies 2020 lediglich 360 gusseiserne Bewohner aus. Doch die Zahl lag weit höher; eine Meldepflicht gibt es nicht. Jeder kann seinen eigenen Zwerg herstellen lassen und aufstellen. Aktuell wird die Zahl auf gut 700 geschätzt. Tendenz steigend. Der Zwergen-Stadtplan, den die Tourist-Info am Rathaus verkauft, hat längst kapituliert; er zeigt den Weg zu nur hundert Glücksbringern. Inzwischen werden sie auch als Souvenir für Touristen produziert, besonders für Japaner und Amerikaner.
Das große Zwergen-Philharmonie-Orchester beim Neuen Forum für Musik am Wolnosci-Platz
Die Zwerge sind zu einer liebenswerten Spielerei geworden, ein Anstoß zum Nachdenken oder zur Freude. Viele stehen an Orten im Kontext zu bestimmten stadthistorischen Ereignissen oder Plätzen. Das Zwergenvolk erzählt Geschichten, von Berufen oder Hobbies. Hotels stellen schlafende Zwerge im Bett oder mit Koffer vor ihrer Tür auf, vor einem Schnell-Restaurant am Rynek liegt der sogenannte „Gourmet-Zwerg“ mit dickem Bauch auf einem Teller. Bei der backsteinernen Garnisonskirche erinnert die Feuerwehrtruppe mit Spritze und Leiter an die Brände im Gotteshaus; vom 130 Meter hohen Turm hat man den wohl besten Ausblick auf die Altstadt und die Flussarme. Der Professor-Zwerg empfängt die Studiosi am Eingang der 1702 gegründeten Universität. Das große Zwergen-Philharmonie-Orchester beim Neuen Forum für Musik am Wolnosci-Platz stimmt die Besucher auf Klassik, Ballett oder Jazz ein. Auf der Höhe des gründerzeitlichen Grandhotels Monopol biegt man in die Einkaufsstraße ul. Świdnicka ein, wo die Fotografin Magdalena Lasota als Zwergin auf einem Sitzstein drei noch kleinere Geschöpfe mit einem Vergrößerungsglas genauestens unter die Lupe nimmt. Im Osten der Stadt jubelt an der Jahrhunderthalle, ein Unesco-geschütztes Bauwerk von Max Berg, der Breslauer Gitarrenmusiker Leszek Cichonski und Initiator des Festivals „Thanks Jimi“, der 2019 mit dem Hendrix-Song „Hey Joe“ einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde schaffte.
Leszek Cichonski, Gitarrist und Initiator des Festivals "Thanks Jimi" jubelt vor der Jahrhunderthalle von 1913
Die Skulptur „Troszka“ am Rynek 33 geht auf eine Romanze aus dem richtigen Leben zurück. Ein unglücklich Verliebter gab die Figur mit Kamera in Auftrag, um die Angebetete, die die Kleinen so gern fotografierte, nach vielen erfolglosen Bemühungen endlich für sich zu gewinnen. Mit Blumen in der Hand macht er ihr als Winzling einen Antrag. Sie hat ihn nicht erhört. Geschichten vom Zwergenvolk müssen nicht immer glücklich enden.
Die Zwergen-Touristin fotografiert einen Zwergen, Rynek (Markt), nahe Kaufhaus Feniks. Eine der wenigen weiblichen Zwerginnen.
Informationen
Anreise
Breslau (Wroclaw Glowny) erreicht man gut mit dem Zug etwa von Berlin in ca. 5 Std. Den Flughafen von Breslau fliegen u.a. Lufthansa und Ryanair an.
Übernachtungen
Hotel Monopol, https://monopolwroclaw.hotel.com.pl/hotel-monopol-wroclaw/en/. Schickes Grandhotel von 1892 mit viel Geschichte und sehr modernen Zimmern. Gutes Restaurant.
Art Hotel, www.arthotel.pl/de. Charmantes Boutiquehotel in der Altstadt und ganz in der Nähe des Marktes Rynek.
Essen und Trinken
Pod Fredra, ul. Rynek Ratusz 1, https://podfredra.pl. Restaurant mit guter polnischer Traditionsküche.
Piwnica Swidnicka (Schweidnitzer Keller),
Polens älteste Gasststätte und eine Institution, die 2021 nach längerer Pause wieder geöffnet ist. Ausgeschenkt wird selbst produziertes Bier, aus der Küche kommen Spezialitäten.
Auskunft
Touristinfo, Rynek 14 (am Markt gegenüber vom Rathaus). Hier ist ein Zwergenstadtplan mit hundert Zwergenstandorten erhältlich.
Zwergeninformation: Sukiennice 12 (links neben dem Rathaus).
Polnisches Fremdenverkehrsamt, www.polen.travel.
Website der Autorin: www.beate-schuemann.de