Wo Wolf und Biber sich 'Gute Nacht' sagen
Winterliche Begegnungen in Polens wildem Nordosten
Text und Fotos: Norbert Suchanek
Schnee und bittere Kälte haben unseren Autor nicht daran gehindert, sich auf die Spur von Wölfen, Elchen, Bibern und Schneehasen zu begeben. Doch nach aufregenden Begegnungen in der Wildnis des polnischen Biebrza-Nationalparks war auch er am Ende froh über Wodka und Zitronentee am Kachelofen.
Der Himmel ist blau wie Stahl. Eiskalter Wind fegt über die weiten Schneeflächen, treibt die weißen Schneekristalle über das Eis der zugefrorenen Seitenarme und Tümpel. Es ist Winter im Nordosten Polens, und das Urstromtal der Biebrza erscheint wie eine schier endlose, weiße Wüste.
Winterlandschaft im weiten Tal der Biebrza
Doch am Rand der Eisflächen, wo sich der Winterwind im hellgelben Schilf verfängt, wölbt sich der Hügel einer Biberburg empor. Kleine Spuren im Schnee und frische, abgenagte Äste verraten, dass bei Bibers selbst im Winter noch gearbeitet wird.
Deutlich sichtbar sind die Hügel der Biebrza-Biber im Frühjahr
Neue Heimat für schwarze Biber
Die Biebrza ist einer der letzten unverbauten Flüsse Europas. Sie schlängelt sich wie seit Urzeiten über hundertfünfzig Kilometer quer durch den Nordosten Polens und bildet eine 100.000 Hektar große Sumpflandschaft. Mehr als die Hälfte davon steht als Polens größter Nationalpark unter Naturschutz. Im Frühling und Sommer ist er ein Blütenmeer und Vogelparadies, das in Europa seinesgleichen sucht. Polnische Ornithologen haben dort nicht weniger als 269 Vogelarten gezählt, von denen 186 auch in der Region brüten. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs suchen deshalb jährlich Hunderte von Vogelkundlern aus aller Welt die Biebrza-Sümpfe auf. Weniger bekannt indes ist ihr Reichtum an Orchideen. Der Biologe und Orchideenspezialist Cezary Werpachowski aus Bialystok hat im Biebrza-Feuchtgebiet über ein Dutzend verschiedene Orchideenarten gezählt und so ganz nebenbei Europas größten Bestand des Frauenschuhs entdeckt.
Im Winter freilich hat das Gebiet andere Reize, die beinahe noch aufregender sind als bunte Blumen und brütende Vögel. Die Burgen und Spuren der Biber zum Beispiel. Nicht umsonst wurde die Biebrza nach diesem Nager benannt. Allerdings stamme die heutige Biber-Population in diesem Gebiet aus einem Wiederansiedelungs-Projekt mit russischen schwarzen Bibern, erläutert Werpachowski, der vor zwei Jahren seine Professur an der Universität Bialystok an den Nagel hängte, um nun im Biebrza-Nationalpark zu arbeiten. "Der ursprünglich hier heimische braune Biber", so der Biologe, "wurde nämlich ebenso im Biebrza-Tal wie an vielen anderen Flüssen Mitteleuropas bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ausgerottet."
Auf den Spuren der Wölfe
In den verschneiten Wiesen und zugefrorenen Sümpfen finden sich aber nicht nur Biberspuren. Noch zahlreiche andere Tierarten tummeln sich im verschneiten Urstromtal. Fischotter, Wildschweine, Marderhund, Fuchs und Dachs zum Beispiel. Und im oberen Tal der Biebrza hat der selten gewordene Schneehase ein letztes Zuhause.
Spuren im Schnee zeigen, dass nicht nur die Biebrza-Biber auch im Winter aktiv sind
Wegen Meister Lampe allein hat mich diesmal Werpachowski, dick eingemummt gegen die kontinentale Kälte, nicht auf einen seiner winterlichen Streifzüge durch den Nationalpark mitgenommen. Der Biologe deutet auf eine Spur, die sich geradlinig wie ein Strich über einen zugefrorenen Tümpel zieht. "Ein Wolf", sagt er, "er sucht vielleicht sein Rudel." Werpachowski meint, dass zur Zeit mehrere Wolfsrudel durch das Gebiet der Biebrza streifen.
Im Sommer sind die scheuen Raubtiere praktisch unsichtbar. Jetzt im Winter sehen wir zumindest ihre Spuren im Schnee. Wir beschließen, der Fährte des einsamen Wolfes zu folgen. Vielleicht bringt er uns ja zu seinen Artgenossen. Nach etwa einer Stunde biegt die Spur in einen Kiefernwald am Rand des vereisten Sumpflands ab. Im lichten Wald verlieren wir dann aber die Wolfsfährte. Dennoch flüstert plötzlich mein Begleiter durch den vor den Mund gebundenen Schal: "Wir haben Glück, Alces Alces."
Wir stolpern über Elche
"Wie bitte?", frage ich ungläubig zurück. "Elche", antwortet er leise und deutet auf eine Baumgruppe vor mir. Nun entdecke auch ich sie und kann's kaum glauben. Ich wäre buchstäblich über die zwei Meter hohen und 500 bis 800 Kilogramm schweren Tiere mit den großen Schaufelgeweihen gestolpert. Es ist, als wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Ich hatte nur auf den Boden geschaut und die langen Beine des europäischen Elchs, der wissenschaftlich Alces Alces genannt wird, für die Stämme junger Bäume gehalten. Dabei hatte mich Werpachowski bereits vorgewarnt. Denn das Biebrzatal ist das größte Elchgebiet Polens mit einem Bestand von etwa tausend Elchen.
Wir umgehen vorsichtig die Gruppe der mächtigen Tiere und verlassen den Kiefernwald wieder. Es ist bereits Spätnachmittag. Die Sonne beginnt sich goldgelb über dem Tal zu senken und lässt nun die Kiefernstämme am Waldrand hellorange leuchten.
Sonnenuntergang über dem weiten Tal der Biebrza
Ohne die Sonne wird die Kälte schnell in unsere Glieder kriechen. Wir brechen deshalb unsere Wolfssuche ab und kehren zurück nach Sosnia, wo Werpachowski ein altes Bauernhaus hat.
Dörfer und Häuser am Rand des Biebrza-Nationalparks
So schön und aufregend die Winterlandschaft im Biebrza-Tal auch ist, so freuen wir uns doch auf den warmen Kachelofen in unserer Unterkunft, auf einen heißen Zitronentee und einen Schluck polnischen Wodka.
In den alten Bauernhäusern Ostpolens dienen oft noch traditionelle Kachelöfen als Küche und wärmen das ganze Haus