Rote-Bete-Suppe, Gefängnisführungen und böse Schwiegermütter

Litauens Hauptstadt Vilnius feiert ihren 700. Geburtstag in turbulenten Zeiten (2/2)

 

Ebenfalls sehenswert: das Lukiškės-Gefängnis, über hundert Jahre lang das Zentralgefängnis der Stadt und heute ein Kulturzentrum. Nachdem wir das Tor durchschritten haben, an dem noch immer ein Wachmann sitzt und das mit Stacheldraht gesichert ist, treffen wir Emilija Raišylė, genannt Ema, deren Mutter hier einst als Gefängnispsychologin gearbeitet hat. Die junge Litauerin führt mittlerweile Besuchergruppen durch die meist leer stehenden Gefängnisbauten.

Vinius in Litauen - Lukiškės-Gefängnis

Im Aufnahmeraum

Nicht Daten und Fakten, sondern das sinnliche Erleben der einstigen Haftbedingungen steht im Mittelpunkt des Rundgangs. Deshalb beginnen die Führungen im Aufnahmeraum. Hier wurden den Menschen, die entweder zur Untersuchungshaft oder zur Strafverbüßung eingeliefert wurden, zunächst ihre persönlichen Gegenstände abgenommen. Dafür wurden sie akribisch durchsucht. "Viele nutzten ihren Hintern als eine Art Tresor, das wussten die Inspektoren natürlich", erläutert Ema. Sie gingen auf eine einfache Art und Weise dagegen vor: Jeder, der ins Gefängnis aufgenommen wurde, musste in die Hocke gehen und kräftig husten.

Vinius in Litauen - Lukiškės-Gefängnis

Im Lukiškės-Gefängnis

Das Lukiškės-Gefängnis, das 1904 in Betrieb ging, wurde insgesamt 115 Jahre lang als Haftanstalt genutzt. Ursprünglich war es für 800 Insassen ausgelegt, doch 1945 waren hier 9.000 Menschen eingesperrt. Auch im Jahr 2004, als Litauen der EU beitrat, war das Gefängnis mit fast 1300 Häftlingen noch überfüllt. "Mit dem Eintritt in die EU wurden die Menschenrechte hier zum ersten Mal zum Thema – es war ein ziemlicher Schock für die Wärter, die Gefangenen nun als Menschen behandeln zu müssen", berichtet Ema mit leicht sarkastischem Unterton. Beim Rundgang durch das Gefängnis besuchen wir die Arrestzellen, die oft in einem sehr schlechten Zustand waren. Im Gegensatz zu den Zellen für der lebenslänglich Inhaftierten, die sich die Insassen oft schön und wohnlich gestaltet haben, fühlte sich für die Arrestzellen niemand verantwortlich. Gewalt und Erniedrigung, so berichtet Ema, gehörten zum Alltag der Insassen. Im Jugendgefängnis gab es ein sogenanntes Fliegerspiel, bei dem sich die Jugendlichen vom Hochbett aus auf den Boden stürzen mussten. Dabei kam es oft zu schweren Verletzungen, aber die Jugendlichen mussten in der Regel weiterspielen.

Vinius in Litauen - Lukiškės-Gefängnis

Ehemalige Gefängniskapelle

Neben den Zellen des Gefängnisses umfasst der Rundgang auch zwei ehemalige Gefängniskapellen, von denen eine zeitweise auch als Nachtclub für Anwohner aus der Umgebung genutzt wurde. Die andere befindet sich in einem Raum,der ganz nach dem Vorbild des Panoptikums aufgebaut war – hier ging es darum, die Gefangenen perfekt zu überwachen. "Unter den Gefangenen hier war auch ein Kannibale", berichtet Ema, vor dem die Häftlinge in den Nachbarzellen große Angst hatten. Heute sind die Zellen fast alle ungenutzte Museumsräume. Nur in einer einzigen erblicken wir hinter den Gitterstäben noch eine Person – es ist eine lebensgroße Pappfigur von Wladimir Putin. Nach knapp zwei Stunden ist der Rundgang durch das Gefängnis vorbei. Bevor wir in den Hof gehen, in dem Foodtrucks stehen und eine Kinoleinwand aufgespannt ist, gibt uns Ema noch einen Rat mit auf den Weg: Freiheit ist etwas Kostbares und nichts, was man für selbstverständlich nehmen sollte.

Vinius in Litauen - Lukiškės-Gefängnis

Kontrast: neues Leben vor dem Lukiškės-Gefängnis

Ein besonderes Gefühl der Freiheit erlebt man, wenn man sich in Vilnius oder in der Umgebung der Stadt in die Lüfte erhebt. Eine Gruppe meist ehrenamtlicher Enthusiasten bietet Ballonfahrten an – entweder direkt über der Altstadt oder über den Seen und Sehenswürdigkeiten in der Umgebung, insbesondere im Raum Trakai, wo auf einer Insel ein rekonstruiertes Schloss an einen früheren Herrschaftssitz erinnert. Bevor wir abheben können, unternehmen wir eine Rundfahrt in einem Kleinbus, die fast wie eine Art Schnitzeljagd anmutet. Denn Heißluftballonpilot Deividas Nekrasius hat eine Wolke im Blick, die ihn etwas beunruhigt. "Solche Wolken saugen einen entweder hinein oder sie treiben den Ballon vor sich her", erzählt er später, aber wohlweislich erst, nachdem wir holprig, aber sicher wieder gelandet sind. Nach gut einer guten Stunde Suche hat er endlich einen geeigneten Startplatz gefunden und füllt den gigantischen Ballon langsam mit erwärmter Luft. Zügig klettern wir in den Korb, wobei uns im Vorab bereits mitgeteilt worden ist, in welcher Ecke wir uns später bei der Landung festhalten sollen. Sanft hebt sich der Ballon in die Lüfte – und schon bald darauf treibt uns der Wind mit rund dreißig Stundenkilometern über Dörfer, Wälder und Seen. Von unten ist das Kläffen von Hunden zu hören. Eine typische Reaktion der Tiere auf das Geräusch des Gasbrenners, verrät Deividas. Im Gegensatz zu den Ballonfahrten direkt über der Altstadt, die aus Flugsicherheitsgründen in eineinhalb Kilometern Höhe durchgeführt werden, fliegen wir nur rund 500 Meter über dem Boden und haben einen guten Blick auf das, was unten passiert. Natürlich lässt sich ein Ballon nicht wirklich steuern, wir fliegen genau dorthin, wohin der Wind uns treibt. Da ein großes Waldstück vor uns auftaucht, entschließt sich Deividas nach etwa vierzig Minuten etwas abrupt zur Landung, wobei der Korb zweimal auf dem Boden aufkommt und noch einmal leicht abhebt, bevor wir zum Stillstand kommen.

Vinius in Litauen - Kneipe

Nachtleben

Eigentlich sollte zur Feier der geglungenen Heißluftballon-Premiere gleich eine Flasche Sekt geöffnet werden, aber da wir uns auf einem eingezäunten Privatgelände befinden, helfen wir beim Zusammenrollen und Verpacken des Ballons und fahren mit dem Kleinbus zurück Richtung Vilnius. Bevor wir die Stadt erreichen, erfolgt noch ein kurzer Halt für die Ballonfahrertaufe. Danach lockt die verwinkelte Altstadt, in der sich das Nachtleben seit der Corona-Zeit stark auf die Straße verlagert hat. In den meisten Bars gibt es Cocktails und Craft Beer, in den Restaurants finden wir asiatische und italienische Küche, aber natürlich auch Zeppelinas und Rote-Bete-Suppe.

Vinius in Litauen - Bier-Werbung

Wer bei dem Anblick keine Lust auf ein frisch gezapftes Craft Beer bekommt ...

 

Informationen

Anreise

Ein Lufthansa-Direktflug von Frankfurt nach Vilnius dauert etwas über zwei Stunden. Von Wizzair werden Direktflüge ab Dortmund angeboten. Ryanair hat Direktflüge ab Nürnberg, Frankfurt/Hahn, Berlin und Bremen im Angebot, Air Baltic ab Berlin und Hamburg.

Unterkunft

Ein komfortables Business-Hotel in der Innenstadt ist das Congress Avenue Hotel, Gedimino ave. 12, Tel. +37052121716, E-Mail info@congressavenue.lt, www.congressavenue.lt

Ein beliebtes Boutiquehotel mit außergewöhnlicher Gestaltung in einem historischen Gebäude ist das Artagonist Art Hotel, Pilies g. 34, Tel. +370 5 243 0000, E-Mail hotel@artagonist.lt, www.artagonist.lt

Essen & Trinken

Vinius in Litauen - Restaurant im Paupys-Viertel

In einem Restaurant im Paupys-Viertel

Stebuklai, L. Stuokos Gucevičiaus g. 1, Tel. +370 694 98978, E-Mail info@stebuklai.com, https://www.facebook.com/stebuklai.restoranas, gehobene Küche, geöffnet von 11 bis 23 Uhr

Alaus Biblioteka/Beer Library, Trakų g. 4, Tel. +370 645 69782, E-Mail: info@alausbiblioteka.lt, https://www.facebook.com/alausbiblioteka, umfassende Craftbier-Auswahl, geöffnet ab 17 Uhr

Augustas ir Barbora love story café, Stiklių g. 7, Tel. +370 665 29499, E-Mail
augustasirbarboracafe@gmail.com, https://www.facebook.com/augustasirbarbora, blumengeschmücktes Themencafe direkt in der Altstadt

Attraktionen und Aktivitäten

Erlebnistouren durch das Lukiskes-Gefängnis bucht man auf der Website www.lukiskiukalejimas.lt oder über die E-Mail-Adresse tours@lukiskiukalejimas.lt

Heißluftballonfahrten über die Altstadt von Vilnius oder die Seenlandschaft rund um die Burg Trakai organisiert Ballooning.LT, Tel. +370 625 00510, E-Mail info@ballooning.lt, Website www.ballooning.lt

Stadtführungen

Vinius in Litauen - Kirche

Eine der Kirchen der Stadt

Deutschsprachige Führungen für Einzelreisende und Gruppen bietet Daine Juodiskienet, Tel. +37060416993, E-Mail: j.daine@gmail.com, Web: www.djt.lt

Englischsprachige Stadtrundgänge auf Trinkgeldbasis bietet Vilnius Free Tour, Tel. +37069227491, Online www.vilniusfreetour.lt

Einen Stadtspaziergang durch Vilnius auf den Spuren von Sigismund Augustus und Barbara Radvilaitė ermöglicht der Audoguide Secret Love, https://slaptameile.lt/en

Auskunft

Lithuania Travel, Gedimino Allee 38, Vilnius 01104, Tel. +370 698 03509, www.lithuania.travel

 

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