Rote-Bete-Suppe, Gefängnisführungen und böse Schwiegermütter

Litauens Hauptstadt Vilnius feiert ihren 700. Geburtstag in turbulenten Zeiten (1/2)

Text und Fotos: Rainer Heubeck

 

Vinius in Litauen - Deko

Farbenfroh dekoriert

Wenn Daine Juodiskiene ausländische Besucher durch ihre Heimatstadt Vilnius führt, dann stehen natürlich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten auf dem Programm, der Domplatz, das ehemalige Jesuitenkolleg und der dreieckige Rathausplatz. Ihre Führung gibt einen Überblick über die mittlerweile 700-jährige Geschichte der litauischen Hauptstadt, die nur 35 Kilometer nordwestlich der weißrussischen Grenze liegt. Mit einer der gezeigten Sehenswürdigkeiten, die auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkt, verbindet die Fremdenführerin, die Germanistik studiert und früher als Lehrerin gearbeitet hat, sogar eine ganz persönliche Geschichte: Es ist ein Bronzelelief mit zwei Fußabdrücken, das vor der Kathedrale in den Boden eingelassen ist.

Vinius in Litauen - Daine Juodiskiene auf dem Kathedralenplatz

Daine Juodiskiene auf dem Kathedralenplatz

"Hier in Vilnius war am 23. August 1989 der Startpunkt einer Menschenkette von Litauen bis nach Tallinn. Damals gehörten wir noch zur Sowjetunion. Es gab kein Internet, nur Schnurtelefone, und es war viel logistischer Aufwand notwendig, um die Menschenkette zu bilden. Wir wussten damals nicht, wie die Staatsmacht reagieren würde. Natürlich war auch ich dabei. Ich weiß noch genau, dass ich vor Aufregung Herzklopfen hatte", erzählt Diane Juodiskiene. Litauens Unabhängigkeit, so berichtet die Reiseleiterin weiter, erreichte das Land nicht unter Gorbatschow, der noch Militäreinheiten hierher geschickt hatte, um die Selbstständigkeit des Landes zu verhindern, sondern erst unter Jelzin.

Vinius in Litauen - Fußabdrücke im Boden vor der Kathedrale

Fußabdrücke im Boden vor der Kathedrale

Seit Litauen unabhängig ist, besinnt es sich auf seine Geschichte aus der Zeit vor dem Hitler-Stalin-Pakt. Auf den Großfürsten Gediminias, der 1323, vor genau 700 Jahren, die Stadt Vilnius gründete. An Vytautas den Großen, der 1410 bei Tannenberg den Deutschen Orden besiegte, der aber nie die Königskrone erhielt. Und man erinnert sich an Barbara Radziwill, die aus einer wohlhabenden Familie stammte und in die sich Sigismund II August, der König von Polen, unsterblich verliebte – und die er schließlich heiratete, nachdem die heimliche Affäre aufgeflogen war. Bald darauf starb die junge Frau, die gegen den Widerstand der Mutter Augusts Königin geworden war, und man wusste jahrhundertelang nicht, ob Barbara krank gewesen ist oder doch eher von ihrer Schwiegermutter vergiftet worden war. "1931 hat man ihren Sarg im Keller der Kathedrale gefunden und verschiedene Untersuchungen durchgeführt, dabei stellte sich heraus, dass sie nicht vergiftet worden, sondern an Krebs gestorben war", erläutert Diani Juodiskiene. Heute erinnern nicht nur Bücher und Theaterstücke an das Liebespaar, auch ein Audioguide führt auf den Spuren von August und Barbara durch Vilnius – und ein von oben bis unten mit Blumen dekoriertes Café, das "Augustas ir Barbora love story café", erinnert tagtäglich an die tragische Liebesgeschichte.

Vinius in Litauen - Augustas ir Barbora love story café

Im "Augustas ir Barbora love story café"

Stolz sind die Litauer aber nicht nur auf die Geschichte ihres Reiches, das in seiner Blütezeit bis ans Schwarze Meer reichte, sondern auch auf ihre Küche. "Wir essen viele Kartoffeln, sehr beliebt sind Kartoffelpüree und Kartoffelpuffer, vor allem aber Zeppelinas, das sind mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße", verrät uns die Stadtführerin. Einer weiteren litauischen Spezialität, der kalten Suppe aus Roter Bete, Gurken, Buttermilch und Dill, widmet die Stadt inzwischen sogar ein spezielles Event – beim Pink Soup Festival, das jedes Jahr im Juni stattfindet, wird nicht nur Šaltibarščiai-Suppe serviert, auch zahlreiche Sehenswürdigkeiten präsentieren sich an diesem Tag ganz in Rosa.

Vinius in Litauen - der Präsidentenpalast

Blick auf die Rückseite des Präsidentenpalastes

Bei unserem Besuch in Vilnius dominieren allerdings andere Farben. Die blau-gelbe ukrainische Flagge weht vor dem Präsidentenpalast und dem Rathaus, hängt aber auch an zahlreichen Fenstern. Auf ebenfalls blau-gelben Plakaten wird die Bevölkerung aufgerufen, täglich mit Menschen in Russland zu telefonieren, um sie über die Grausamkeiten des Krieges zu informieren und so ein Gegengewicht zu den zensierten Medien in Russland zu schaffen.

Vinius in Litauen - Rathaus und Rathausplatz

Rechts im Bild das Rathaus

Auf den zahlreichen Bussen, die durch die Stadt fahren, in der es weder Straßenbahnen noch eine U-Bahn gibt, erscheint nach der Angabe des Fahrtziels regelmäßig noch eine weitere Aufschrift: Vilnius - Herzzeichen - Ukraine. Unweit der russischen Botschaft hat der Bürgermeister in großen Lettern eine klare Aussage angebracht: "Putin, The Hague is waiting for you".

Vinius in Litauen - Bus mit Ukraine-Solidarität

Solidaritätsbekundung mit der Ukraine

Trotz der Nähe zu Belarus ist der Tourismus im Land, der während der Coronazeit fast zum Erliegen gekommen war, nun wieder im Aufschwung. Eine wichtige Zielgruppe sind Urlauber aus Deutschland, von denen die meisten das Land allerdings nur für drei bis vier Tage besuchen, meist im Rahmen einer Rundreise durch das Baltikum. In der Kürze der Zeit sehen sie oft nicht allzu viel: Ein kurzer Rundgang durch Vilnius und Trakai, vielleicht noch ein Abstecher nach Kaunas und ein oder zwei Tage auf der Kurischen Nehrung. Dabei lohnt sich ein längerer Aufenthalt im Land der Wälder und Seen.

Vinius in Litauen - am Gediminas-Prospekt

Am Gediminas-Prospekt

Die Stadt Vilnius zum Beispiel war früher das Jerusalem des Nordens mit über 100 Synagogen. Die Nazis haben ab 1941 einen Großteil der jüdischen Bevölkerung in Ghettos gezwungen und später am Stadtrand erschossen. Doch in der Stadt erinnert man sich noch immer an jüdische Künstler und jüdische Traditionen – und unter den Reisenden, die Vilnius besuchen, sind nicht wenige Gäste aus Israel. Sie finden in der Stadt nicht nur jüdische Museen wie das Museum der jüdischen Gemeinde oder das Gaon-Museum und die renovierte "Choral Synagoge", sondern auch eine interessante Kunstausstellung im Samuel-Bak-Museum, das mit dem Gaon-Museum verbunden ist. Allerdings, so räumt Diane Juodiskiene ein, seien ausländische Besucher mittlerweile gelegentlich verunsichert. "Manche denken, bei uns fahren die Panzer durch die Straßen, aber das stimmt nicht, hier ist alles normal", versichert Diane Juodiskiene, die regelmäßig deutsche Gruppen bei ihren Besuchen in der 700 Jahre alten Stadt oder im ganzen Land begleitet.

Vinius in Litauen - Republik Užupis

Kunst in der Republik Užupis

Neben vielen klassischen Sehenswürdigkeiten sowie einem Genozid- und einem KGB-Museum gibt es in der Stadt auch einige Besonderheiten, etwa das Viertel über den Fluss, in dem Künstler und Individualisten die Republik Užupis gründeten, die sich sogar eine eigene Verfassung gegeben hat und die am 1. April ihren Nationalfeiertag begeht. Gleich auf der anderen Seite der Vilna liegt das Paupys-Viertel, ein ehemaliger Fabrikbezirk, in dem heute schicke Büros, Wohnhäuser und Restaurants dominieren.

Vinius in Litauen - Restaurant im Paupys-Viertel

Restaurant im Paupys-Viertel

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Kurzportrait Litauen

Wer vermutet schon Europas geographischen Mittelpunkt in diesem uns immer noch so fernen Land? Unstreitig markiert der Schnittpunkt zweier Koordinaten, die wir von den äußersten Landmarken Europas über die Karte unseres Kontinents legen, einen Ort ganz nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius. Leider haben jahrzehntelange Okkupation und Isolation dieses europäische Kernland im Bewusstsein der Europäer zu einer "terra incognita" werden lassen. So sind die Litauer für viele noch heute die unbekannten Nachbarn im Nordosten, ihre großartigen Kulturdenkmäler kaum bekannt und die landschaftlichen Schönheiten weitgehend unentdeckt.

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