Text und Fotos: Thomas Bauer
Drei Wochen begleitete Reisebuchautor Thomas Bauer einen Grönländer auf seinen Jagdzügen durch die Eiswüste der größten Insel der Erde.
„Awwuuuii“, ruft Inuuta mit mächtigem Bass und lässt die Peitsche über den Köpfen seiner dreizehn pechschwarzen Hunde knallen. Und nochmals: „Awwuuuii“, als ich auf den Schlitten steige und auf einem Bärenfell Platz nehme. Selbst durch die Gläser der Sonnenbrille hindurch schmerzt das gleißende Weiß die Augen. Reglos liegt die gigantische Ebene der Walrossbucht vor meinen Blicken: ein endloses Blatt unbeschriebenes Papier, das jemand um den Erdball gewickelt hat.
Einmal im Leben wollte ich mich den vielleicht extremsten Bedingungen aussetzen, die unser Planet zu bieten hat und eintauchen in den Alltag von Menschen, deren Leben ganz anders verläuft als unseres: den Inuit-Jägern, einer in Grönland lebenden Volksgruppe. Von München flog ich über Reykjavík und Nerlerit Inaat bis nach Ittoqqortoormiit, den „Ort, an dem die großen Häuser stehen“. Mit knapp 500 Einwohnern ist dies der größte Ort an der grönländischen Ostküste, über achthundert Kilometer entfernt von der nächstgelegenen Siedlung. Seit er 1925 von siebzig Wagemutigen gegründet wurde, ist er die Heimat von Jägern geblieben.
„Ready?“ – „Bereit?“ fragt mich Inuuta. Als ich nicke, ruft er etwas nach vorn, das wie »geck« klingt. Im selben Moment staubt überall um uns herum Schnee auf. Dreizehn Energiebündel stemmen sich mit vollem Körpergewicht in die Riemen. Eisdurchzogene Luft prasselt gegen meine Wangen, nistet in Nase und Mund. Hastig stülpe ich eine Skimaske über das Gesicht, dabei muss ich aufpassen, dass ich nicht seitwärts vom Schlitten falle.
Alle halbe Stunde dreht sich Inuuta zu mir um, als wolle er sich vergewissern, dass ich noch immer hinter ihm sitze. Der Himmel ist weißgrau, und weißgrau ist auch die Erde, auf der wir uns bewegen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mag ich das einseitige Menü, das uns die Arktis auftischt. Ich habe drei Spezialunterwäschen an, darüber eine wattierte Hose, zwei Fleece-Oberteile, zwei windabweisende Jacken und über alldem noch einen gefütterten Winteranzug. Das Erstaunliche ist, dass ich trotzdem noch friere.
Die Hunde sind Inuutas Lebensgrundlage, denn sie führen ihn zu den besten Jagdstellen. Sie warnen ihn nachts vor Eisbären - dann heulen sie nicht wie sonst, sondern stoßen dunkle Warnlaute aus. Sie leisten ihm Gesellschaft im allumfassenden Eis, und sie verteidigen ihn ohne zu zögern, wenn das Gespann von einem Eisbären oder einem Moschusochsen angegriffen wird. Zwischen seinen Hunden und ihm besteht eine sehr enge Verbindung. Er kennt sie seit ihrer Geburt, kennt ihre Stärken und Schwächen vermutlich besser als diese selbst. Er sorgt für sie, gibt ihnen täglich Kraftfutter, untersucht ihre Pfoten und achtet darauf, dass sie auch sonst gesund bleiben. Aber er ist nicht ihr „bester Freund“ und spielt nicht mit ihnen herum. Er ist ihr Anführer, und er erwartet von seinen Schützlingen, dass sie die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen. Besonders in einer Gefahrensituation, wenn das Eis aufbricht oder die Kontur eines Eisbären sich aus dem Schnee schält, muss allen klar sein, was zu tun ist. Das Gespann muss dann wie eine Einheit handeln. Würden die Hunde auch nur kurz zögern, wenn Inuuta das Kommando „nach rechts“ gibt, wären alle in Gefahr.
In allen Himmelsrichtungen liegen bis zum Horizont Eis und Schnee, eine unbegreifliche Weite und die Ahnung, dass dieses Land uns nicht bei sich haben will. Immerhin setzt Inuuta der Unwirtlichkeit der Landschaft etwas Luxus entgegen. Während einer Pause entzündet er einen Petroleumkocher, auf dem wir „arktischen Toast“ zubereiten. Dafür rammen wir tiefgefrorenen Toastscheiben ein Messer in die Seite, halten sie über die Flamme und belegen sie anschließend mit halbgefrorenem Dosenfleisch, dessen Haltbarkeitsdatum auf Zeiten verweist, in denen Gerhard Schröder Kanzler war.
Die Schlittenleine ist bis kurz vor dem Zerreißen gespannt, als wir unsere Fahrt fortsetzen. Mit jeder Faser ihres Körpers verkörpern die Hunde, woraufhin ihre Rasse in einem über zweitausendjährigen Auswahlprozess getrimmt wurde: unglaubliche Lasten bei brutaler Kälte durch eine lebensfeindliche Einöde ohne festen Boden zu ziehen. An die Grönlandhunde darf nichts Weiches, nichts Zögerndes kommen. Sie legen sich abends bei minus 40 Grad in den Schnee, am nächsten Morgen ist ihr Fell mit einer Eisschicht überzogen. Sie schütteln sich kurz und freuen sich aufs Weiterziehen.
Zwar gibt es in Nord- und Ostgrönland auch Motorschlitten, aber (noch) werden dort vor allem Schlittenhunde verwendet. Motorschlitten haben den Vorteil, dass sie auf kurzen Strecken schneller und wendiger sind und nichts fressen, sprich: kosten, wenn sie nicht im Einsatz sind. Aber sie sind teuer in der Anschaffung und im Gebrauch und im Sommer auf brüchigem Eis unbrauchbar, während die Hunde noch immer kleinere Schlitten ziehen können. Aber es ist auch eine Generationenfrage. Inuuta ist Ende vierzig, sein Sohn möchte lieber einen Motorschlitten statt eines Hundeschlittens haben.
Wenn die Jäger aus Ittoqqortoormiit nicht unterwegs sind, leben die Hunde mit am Haus. Manchmal sind sie angeleint, manchmal lässt man sie durch die Siedlung streichen. Eigentlich hört man immer von irgendwoher das Heulen eines Hundes. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, für sie ist es so selbstverständlich wie die Geräusche des Windes.
Drei Wochen lang bin ich mit Inuuta unterwegs. Die ersten Tage, als wir bei minus 42 Grad direkt neben dem Meereis zelten, sind die härtesten. In der letzten Woche hat es an einem Tag „nur“ etwa minus zwei Grad, und ich frage Inuuta, warum er so schlecht gelaunt ist. „Ich kann diese verdammte Hitze einfach nicht aushalten“, lautet seine Antwort. Er scheint beinahe so gut an die eisigen Temperaturen angepasst zu sein wie seine Hunde.
Sein Gespann besteht aus zwölf Rüden und einer Hündin, die in der Hierarchie direkt hinter dem Leithund steht. Sie heißt schlicht „Nina“, während der Leithund einen schrecklich kompliziert auszusprechenden ostgrönländischen Namen hat, der übersetzt „der sich im Kreis dreht“ bedeutet. Das hat er in seiner Welpenzeit wohl ausgiebig getan.
Am Anfang durchschaue ich ihre Hierarchie noch nicht. Hund ist für mich gleich Hund. Erst nach einigen Tagen wird mir langsam der individuelle Charakter jedes Tieres bewusst. Inuutas Leithund beispielsweise, ein zotteliges Muskelpaket, signalisiert seine Herrschaft durch die Körperhaltung.
„Er sieht zwar wild aus“, gibt Inuuta bei einer Pause zu, „doch eigentlich kann er richtig zutraulich sein. Überzeug dich selbst!“
Der Leithund sträubt die Haare und lässt ein grollendes Gurgeln hören, als ich mich ihm nähere. Vorsichtig lege ich ihm meine Hand auf den Rücken. Gewaltige Muskeln arbeiten direkt unter seiner Haut. Als er die Pfote hebt, um sie mir in die Hand zu legen, wölbt sich der Bizeps nach außen, und als er sich spielerisch an meinen Beinen reibt, muss ich mein Gewicht fest in den Boden stemmen, um nicht zur Seite geschoben zu werden.
Als die Hunde merken, dass wir die Pause beenden, stimmen sie ein melodiöses Jodeln an. Aufrecht stehen Inuuta und ich auf dem Schlitten, wie ein Surfbrett wollen wir ihn heute über das Eismeer jagen: vorneweg die schwarze Wolke aus Hunden und dahinter wir, aufrecht wie die Wikinger. Inuuta blickt mich an, und zum ersten Mal meine ich etwas wie Anerkennung in seinem Gesicht zu erkennen. Er nickt mir kaum merklich zu. Ich ziehe die Mütze tief ins Gesicht und drücke meine Schneebrille fest auf die Augen. „Geck“, rufe ich dann nach vorn.
Mit einem hellen Vibrieren spannt sich das Seil. Überall um uns herum staubt Schnee auf. Der Schlitten tanzt über das Eis, und wir sind wieder unterwegs, werfen uns neuen grandiosen Abenteuern entgegen.
Thomas Bauer ist Reisebuchautor. Er lebt in Stuttgart und München und hat über sein Grönland-Abenteuer ein Buch geschrieben. Mush! Grönland per Hundeschlitten, Wiesenburg Verlag, ISBN 978-3-943528-80-0, 24,80 €
INFORMATIONEN
Allgemeine Auskünfte über Ostgrönland, Ittoqqortoormiit und Hundeschlittentouren erteilt das
Tourismusbüro in Nuuk
Hans Egedesvej 29
3900 Nuuk
Grønland
Telefon: (+299) 34 28 20
Fax: (+299) 32 28 77
E-Mail: info@greenland.com
Website (dt./engl): http://www.greenland.com
Hundeschlittentouren in Ostgrönland bietet der Veranstalter Nanu Travel in Ittoqqortoormiit an: http://www.nanutravel.dk/ (engl.). Ideale Reisezeit hierfür ist März/April, wenn die Tage lang und sonnenreich sind, das Eis aber dennoch flächendeckend trägt.
Anreise: Flug mit AirBerlin oder Icelandair nach Reykjavik, Weiterflug mit Air Greenland nach Nerlerit Inaat (Flughafen Ittoqqortoormiit), von dort per Helikopter nach Ittoqqortoormiit. Die Anreise ist spektakulär und beschwerlich. Kosten je nach Jahreszeit, Auslastung der Flugrouten und Buchungstermin zwischen 700 und 1.600 Euro.
Übernachtet wird in Zelten und in spartanisch eingerichteten Jagdhütten. Man ist umgeben von Hundegebell und Nordlicht.
Essen & Trinken: Moschusochsenherzen, fermentierte Narwalhaut und rohes Robbenfleisch: Wer in Ostgrönland das Leben der Jäger teilt, tut gut daran, kulinarisch flexibel zu sein. Am Ende hat man etwas zu erzählen und wird sich darüber bewusst, dass ein Eisbärsteak auch nicht viel anders schmeckt als ein Rinderschmorbraten.
Hintergrundinformationen: Immer wieder lesenswert ist Peter Hoegs Klassiker „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“. Kim Leine beschreibt in „Die Untreue der Grönländer“ auf amüsante Art den Alltag in Ostgrönland. Anna Kims literarische Reportage „Invasionen des Privaten“ geht auf Identitätsprobleme heutiger Inuit ein. Kurzgeschichten und Essays präsentiert das von Freddy Langer herausgegebene Lesebuch „Grönland“.
Reise-Literatur: Vom Autor dieses Beitrags ist das Buch „Mush! Grönland per Hundeschlitten“ erschienen. Gebundene Ausgabe, 236 Seiten, Wiesenburg Verlag (2013), ISBN 978-3943528800, Preis: 24,80 Euro.
Reiseveranstalter Grönland bei schwarzaufweiss
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Grönland macht süchtig. Süchtig nach klarer Luft, blauem Himmel, bunten Häusern und Eisbergen . Denjenigen, der die Faszination von Eisbergen in der Mitternachtssonne erlebt hat, zieht es immer wieder hierher. Grönland im Sommer - das ist auch heute im Zeichen des Klimawandels der Traum von der Arktis.
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„Bei Sonne wirst Du Nuuk lieben“ – An diese Worte des dänischen Kapitäns meines Kreuzfahrtschiffes werde ich mich wohl ewig erinnern. Ich bin froh, dass ich wieder festen Boden unter den Füssen habe. Vor Kap Farvel an Grönlands Südspitze hatte das Schiff gegen Windstärke 12 zu kämpfen, in dieser Passage selbst im Frühsommer nichts Ungewöhnliches. Dafür entschädigten die Eisberge entlang der Küste, die mit dem Ostgrönlandstrom hier herunter driften.
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