Ambiorix und die Folgen

Ein Besuch in Belgiens ältesten Städten Tongeren und Tournai

Text und Fotos: Ulrich Traub

Ein Bierfestival vor einer Basilika? Ja, das gibt es. Eine Einladung zum Probieren an vielen Ständen, die man prominent vor das Portal des bedeutendsten Gotteshauses der Stadt platziert hat. Wenn man das liest, darf man eigentlich nur einmal überlegen, in welchem Land die folgende Story spielt. In Belgien natürlich.

Belgien - Tongeren in Flandern - Dem Himmel so nah: Während die Menschen in alle Richtungen zu ihren Zielen laufen, wacht der mächtige Glockenturm der Liebfrauen-Basilika über der Stadt.

Dem Himmel so nah: Während die Menschen in alle Richtungen zu ihren Zielen laufen, wacht der mächtige Glockenturm der Liebfrauen-Basilika über der Stadt

Das Festival „Ambieorix“ in der flämischen Stadt Tongeren hat sich den Namen nicht aus einem bekannten Comic geborgt, sondern vom Stadthelden Ambiorix, dessen überlebensgroße Statue mit Beil und buschigem Schnauzbart den Grote Markt gegenüber der Basilika schmückt. Der tapfere Gallier hat die Römer zwar das Fürchten gelehrt, besaß aber keinen Zaubertrank. So kam es, dass die Eroberer eine prosperierende Siedlung gründeten, die heute als älteste Stadt Belgiens gilt.

Belgien - Tongeren in Flandern - Hatte keinen Zaubertrank: Ambiorix kämpfte tapfer, letztlich aber erfolglos gegen die Römer. Sein Standbild steht auf der Grand‘ Place.

Hatte keinen Zaubertrank: Ambiorix kämpfte tapfer, letztlich aber erfolglos gegen die Römer. Sein Standbild steht auf der Grand‘ Place

Die zweite Stadt, die immer mal wieder diesen Titel beansprucht hat, liegt im wallonischen Landesteil. In Tournai ist die römische Vergangenheit jedoch weniger sichtbar als in Tongeren, wo der kühl-moderne Bau des Gallo-Römischen Museums, die jüngst eröffnete Ausgrabungsstätte unter der gotischen Basilika sowie Teile der römischen Stadtmauern Einblicke in die 2000-jährige Geschichte bieten.

Belgien - Tournai in Wallonien - Kontrast: Das neue Gallo-Römische-Museum grenzt direkt an die alten Mauern der Basilika

Kontrast: Das neue Gallo-Römische-Museum grenzt direkt an die alten Mauern der Basilika

Das Bild der Stadt an der französischen Grenze wird beherrscht von ihren historischen Türmen. Gleich fünf weist die gewaltige Kathedrale auf. Dramatisch erhebt sich zudem der gotische Hochchor über den Häusern. Ungewöhnlich, dass er die gleiche Länge aufweist wie das romanische Längsschiff. Auch der älteste Belfried Belgiens spricht mit seinen 72 Metern im Kampf um die Lufthoheit ein Wörtchen mit. Der freistehende Glockenturm, Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins, wurde um das Jahr 1200 errichtet. Beide Gebäude tragen den begehrten Titel eines Unesco-Weltkulturerbes.

Belgien - Tournai in Wallonien - Stadt der Türme: Der Belfried an der Grand‘ Place ist der älteste Glockenturm Belgiens. Er konkurriert mit den Türmen der Kathedrale (links)

Stadt der Türme: Der Belfried an der Grand‘ Place ist der älteste Glockenturm Belgiens. Er konkurriert mit den Türmen der Kathedrale (links)

Auch Tongeren kann mit Welterbe aufwarten. Das frühere Zuhause frommer, alleinstehender Frauen ist ein begehrtes Wohnviertel. Der einstige Beginenhof mit seinen Häusern, die meist aus dem 18. Jahrhundert stammen, bietet stimmungsvolle Impressionen – abgesehen von den parkenden PKW. Das früher abgetrennte Wohngebiet ist längst integriert – einschließlich des Hospizes, in dem die Beginen Kranke pflegten. Heute finden in der stilvollen Brasserie Durstige und Hungrige Labsal. Ein paar Kopfsteinpflasterschritte weiter erzählt „Beghina“ vom Leben dieser selbstbestimmten Frauen. Dieses Museum ist in einem früheren Wohnhaus eingerichtet, in dessen Keller Beginenbier ausgeschenkt wird.

Belgien - Tongeren in Flandern - Weltkulturerbe: Wo früher fromme Frauen lebten, trifft man sich heute – im Schatten der Beginenhofkirche - im Café

Weltkulturerbe: Wo früher fromme Frauen lebten, trifft man sich heute – im Schatten der Beginenhofkirche - im Café

Schon wieder Bier, dabei ist Tongeren so etwas wie das Zentrum des Weinbaus. Vor den Toren der Stadt liegt das neoklassizistische Wijnkasteel am Rande des Dorfes Genoels-Elderen, das größte Weingut des Landes mit einem herausragenden Ruf. In einer Bar oder im Schatten alter Baumriesen können Chardonnay und Pinot Noir bester Qualität verkostet werden. Weinbau in Flandern, das mag überraschen, aber schon die Römer hatten hier Reben angepflanzt. Haspengau heißt die unaufgeregte, durch unzählige Obstwiesen geprägte Landschaft um Tongeren. Sie ist charakterisiert durch Landsitze wie das riesige Wasserschloss Alden Biesen, eine Gründung des Deutschen Ritterordens, mit Gebäuden aus dem 16. und 17. Jahrhundert sowie französischen Gärten.

Belgien  - Flandern - Hinterlassenschaft des Deutschen Ritterordens: Die ehemalige Landkommandantur ist heute Ausflugsziel, Museum und Kulturzentrum – mit schönen Gärten

Hinterlassenschaft des Deutschen Ritterordens: Die ehemalige Landkommandantur ist heute Ausflugsziel, Museum und Kulturzentrum – mit schönen Gärten

Im Gegensatz zur Kleinstadt Tongeren, die es sich zwischen den Metropolen Maastricht und Lüttich bequem macht, hat das mit 70.000 Einwohnern mehr als doppelt so große Tournai nicht nur aus diesem Grunde eine deutlich größere Substanz an historischen Bauten. Wer rund um die dreieckige Grand‘ Place, an der Zunftfahnen an historischen Fassaden an alte Berufe erinnern, oder an der Schelde-Promenade spaziert, wird aber die vielen „A Louer“- und „A Vendre“-Schilder nicht übersehen können. Selbst historische und frisch restaurierte Gebäude suchen nach neuen Nutzungen. Hier Leerstand, dort kaum ein freier Stuhl. Die Menschen in den vielen Cafés und Restaurants zeigen, dass die Welt der Gastronomie noch in Ordnung zu sein scheint. Das gilt auch für Tongeren, wo sich alleine am Grote Markt nicht weniger als 15 Lokale drängen.

Belgien - Tournai in Wallonien - Historischer Hintergrund: Mit Zunftfahnen wird an den Fassaden der Grand‘ Place an alte Berufe erinnert, auch an die Teppichweber

Historischer Hintergrund: Mit Zunftfahnen wird an den Fassaden der Grand‘ Place an alte Berufe erinnert, auch an die Teppichweber

Dass Menschen verschiedenster Nationen bei Kaffee und Bier zusammensitzen, hängt auch mit einem ganz frühen Bewohner Tournais zusammen. Der Merowingerkönig Chlodwig I. leitete von dort ein Kleinfürstentum. Durch erfolgreiche Eroberungszüge und seinen Übertritt zum Christentum erreichte er etwas, das man als erste europäische Einigung einstufen könnte. Als Gründer Frankreichs besetzt er jedenfalls einen Ehrenplatz im Pariser Pantheon. Tournai hat Chlodwig zum Bischofssitz erhoben, das ist die Stadt bis heute.

Belgien - Tournai in Wallonien - Am Platz des Bischofs: Haupteingang zum romanischen Teil der Kathedrale mit einem Portalvorbau aus dem 14. Jahrhundert

Am Platz des Bischofs: Haupteingang zum romanischen Teil der Kathedrale mit einem Portalvorbau aus dem 14. Jahrhundert

Der berühmteste Sohn der Stadt ist jedoch einer der bedeutendsten Maler des Spätmittelalters, Rogier van der Weyden, der hier natürlich de la Pasture mit Nachnamen heißt. Eine wie abgestellt wirkende Skulptur an der Kathedrale, die ihn beim Porträtieren einer Muttergottes mit Kind zeigt, steigert den Wunsch, eines der acht Museen der Stadt zu besuchen, das Musée des Beaux-Arts. Der klotzige Bau des eigentlich für seinen Jugendstil bekannten Architekten Victor Horta hütet – neben Bruegels, Manets und van Goghs – den Schatz eines deutlich bewegenderen Marienbildnisses van der Weydens.

Auch das Tamat, das wallonische Zentrum für Tapisserien, ist mit der Stadtgeschichte verbunden, denn die Teppichweberei hatte im 15. Jahrhundert den Reichtum Tournais begründet. Im Tamat werden jedoch nicht nur alte, sondern auch zeitgenössische, künstlerisch gestaltete Wandteppiche ausgestellt, die im besten Fall sogar aktuelle Tendenzen der Malerei zitieren.

Belgien - Tournai in Wallonien - Symbol früheren Reichtums: In der Tuchhalle an der Grand‘ Place versammelten sich die Stoffhändler

Symbol früheren Reichtums: In der Tuchhalle an der Grand‘ Place versammelten sich die Stoffhändler

In Tongeren bleibt die Geschichte an jedem Sonntag lebendig, nein, nicht die römische. Beim größten Antiquitätenmarkt in den Benelux-Ländern reiht sich Stand an Stand. Ob historische Stadtmauer oder Tiefgarage – jeder Ort scheint als Stellplatz willkommen. Rund 40 Antikläden, die meist nur am Wochenende öffnen, gibt es noch obendrauf. Da bleiben Ambiorix und den Römern nur Nebenrollen.

Belgien - Tournai in Wallonien - Relikt der Stadtbefestigung: Pont des Trous, das ehemalige Schleusentor an der Schelde

Relikt der Stadtbefestigung: Pont des Trous, das ehemalige Schleusentor an der Schelde

 

Informationen

Tourismus Tongeren: 0032/12/800070, www.tongeren.be.

Tourismus Tournai: 0032/69/222045, www.visittournai.be.

Übernachten

„Huys van Steyns“, 3-Sterne-Hotel in einem Herrenhaus von 1892 am Rande der Altstadt von Tongeren; www.huysvansteyns.be.

„d‘Alcantara“, 3-Sterne-Hotel in zwei über 200 Jahre alten Gebäuden im Zentrum von Tournai; www.hotelalcantara.be.

 

Belgien - Ausflugsziel: Das Château von Beloeil ist seit Jahrhunderten in Privatbesitz. Gärten und Räume des Wasserschlosses aus dem 17. und 18. Jahrhundert können aber besichtigt werden.

Ausflugsziel: Das Château von Beloeil ist seit Jahrhunderten in Privatbesitz. Gärten und Räume des Wasserschlosses aus dem 17. und 18. Jahrhundert können aber besichtigt werden

 

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