Text und Fotos: Ulrich Traub
An der Strandpromenade von Middelkerke-Westende steht man plötzlich vor einem verblüffend filigranen Bagger - ohne dass eine Baustelle zu sehen ist. Ein paar Kilometer weiter, in Nieuwpoort-Bad, hat sich eine Riesenschildkröte aus Bronze im Sand niedergelassen. Ja, was ist denn hier los?
Bagger ohne Baustelle: Die Skulptur des belgischen Künstlers Wim Delvoye an der Promenade von Midelkerke-Westende ist aus gotischen Architekturelementen gefertigt
Die belgische Küste, dieser 67 Kilometer kurze Abschnitt zwischen De Panne und Knokke, wo René Magritte das berühmte Casino mit einem riesigen Wandgemälde geschmückt hat, ist zur Spielwiese der Künstler geworden. International erfolgreiche Vertreter wie der Belgier Wim Delvoye, dessen Bagger aus gotischen Architekturelementen gefertigt ist, und Jan Fabre mit seiner vom Fernweh erzählenden Schildkröte bereichern alle drei Jahre die Küstenorte mit künstlerischen Interventionen. Louise Bourgeois war schon dort, Ilya Kabakov sowie Thomas Ruff auch.
Symbol für Fernweh: die bronzene Schildkröte des Künstlers Jan Fabre am Strand von Nieuwpoort-Bad
In einer Gegend, die von der Sucht nach immer neuen Feriendomizilen geprägt zu sein scheint, würde man Kunst am allerwenigsten vermuten. Dabei hat die Küste schon früher die Künstler angezogen. Der bekannteste ist James Ensor (1860-1949), der seine Heimatstadt Ostende (1) so gut wie nie verlassen hat. „Ich liebe die Masken, und ich lebe aus dem Meer“, hat der Maler geäußert, der durch Bilder, in denen die Welt ein schriller Maskenball ist, berühmt wurde. Im Ensor-Museum im Wohnhaus des Künstlers, scheint die Zeit eingefroren zu sein. Überrascht steht man vor Masken und Schädeln und staunt über jede Menge Nippes: Objekte, die man aus den Werken des Malers kennt. Originale von James Ensor sind im Kunstmuseum in Ostende zu sehen.
Hort vieler Skurrilitäten: Wohnhaus des Malers James Ensor in Ostende – mit Originalmobiliar und Erinnerungsstücken
Wie in den „Wimmelbildern“ des Malers drängen sich die Sonnenhungrigen im Hochsommer an den Stränden. Im Künstlercafé „Beausite“ an der Promenade von Ostende hat man einen schattigen Logenplatz. Ein kurzer Spaziergang, vorbei an Fischmarkt und Fähranleger, und man erreicht die Kathedrale des Seebads, in der das Licht, das Ensor so liebte, durch neue Glasfenster des deutschen Malers Norbert Schwontkowski scheint, die den Menschen auf seiner immer währenden Wanderschaft zeigen.
Alte und neue Kunst: In der ehrwürdigen Kathedrale von Ostende strahlt das Licht durch Glasfenster des Malers Norbert Schwontkowski
Die Entdeckungsreise an der belgischen Küste kann man umweltfreundlich mit der Straßenbahn antreten, die alle Orte im schnellen Takt verbindet. So gelangt man auch nach St. Idesbald (2), wo der Surrealist Paul Delvaux (1897-1994) gelebt hat. Das Bauernhaus des Künstlers wurde zu einem Museum umgebaut, ohne seinen Charme zu verlieren. Wer sich in die scheinbar Träumen abgerungenen Bilder vertieft, in denen blutarme Damen und Eisenbahnen Hauptrollen spielen, und anschließend im Garten einen Kaffee trinkt, glaubt sich weit entfernt vom Trubel des Strandlebens.
Locus amoenus: Wohnhaus des Malers Paul Delvaux in St. Idesbald, in dem viele seiner Werke gezeigt werden – mit wunderschönem Café
Vor der Küste des kleinen Ortes haben die französischen Künstler Anne und Patrick Poirier den Grundriss der Kirche einer ehemaligen Abtei als Stahlkonstruktion in die Höhe gebaut. Folgt man der Straße von dort ins Landesinnere, entdeckt man bald rote Mönch-Figuren. Sie signalisieren den Ort, an dem die Zisterzienserabtei Unsere Liebe Frau in den Dünen lag. Ein Museum mit Ausgrabungsstätte informiert seit einigen Jahren über das Wirken der Mönche, mit denen die Besiedlung dieses Landstrichs vor rund 900 Jahren begonnen hat.
In den Seebädern sucht man die Zeugnisse der Historie meist vergeblich. Doch wer die nur wenigen Kilometer von St.Idesbald nach Veurne (3) ins Hinterland zurücklegt, tritt eine Zeitreise an. Mit seiner prächtigen Altstadt, der gewaltigen Walburga-Kirche, die viel zu groß scheint für die kleine Stadt, und dem Marktplatz mit Prunk- und Profanbauten, in denen sich Café an Kneipe reiht, besitzt Veurne eines der schönsten Stadtbilder Belgiens.
Weltkulturerbe-Kulisse: Einer der schönsten Plätze Belgiens – mit Belfried,Walburga-Kirche und Rathaus bei Nacht
Wenn am letzten Sonntag im Juli in dunkle Kutten gehüllte Gestalten schwere Kreuze durch die Stadt schleppen, dann wird in Veurne Geschichte lebendig. Die Bußprozession, die eindrucksvoll Leiden und Tod Christi ins Bild setzt, geht auf die Zeit der spanischen Herrschaft im 17. Jahrhundert zurück und sollte vor der Pest schützen. Es gehört zur belgischen Lebensart, dass die Brasserie Christophe in Veurne der Prozession ein Bier gewidmet hat: Boeteling. Wer weiß, vielleicht trägt sein Genuss ja auch dazu bei, Unheil abzuwenden.
Hier Büßer, dort Riesen. Küstenorte wie Nieuwpoort (4) und Wenduine (5)sind im Juli an einem Tag in der Hand von langen Lulatschen. Mehrere Meter hohe Figuren, die Reuzen, werden durch die Straßen getragen. Meist sind es Personen aus der Stadtgeschichte wie der grimmige Jan Turpijn, der nicht weniger als 10,60 Meter misst. Sein Vorbild war im 15. Jahrhundert Bürgermeister von Nieuwpoort. Man begegnet Garnelenfischern und Metzgern, Mönchen und römischen Soldaten, der Dullen Griet oder dem Maler Pieter Breugel – allesamt überlebensgroß dargestellt und unter erheblichem Aufwand von mehreren unter den Figuren versteckten Trägern fortbewegt. Seit 2005 gehören diese traditionsreichen Umzüge zum Weltkulturerbe.
Größter Riese Europas: Der zehneinhalb Meter hohe Jan Turpijn wird jedes Jahr im Juli durch die Straßen Nieuwpoorts getragen
Das gilt auch für die stolzen Stadttürme, die Belfriede von Veurne und Nieuwpoort, wo am Mittwochabend schweres Geläut Melodien anstimmt und das Stimmengewirr in den Cafés am Markt spürbar leiser wird. Der Reisende lernt: Glockenspieler gibt es nicht nur bei den „Sch’tis“.
Information
Flandern Tourismus: Tel. 0221/2709770, www.flandern.com, www.dekust.be
Hoteltipp
„Oxalis”, Hotel und Bed & Breakfast in Koksijde; www.hoteloxalis.com
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