Liegt hier der wahre Jakob?

Mythen und Passionen in Santiago de Compostela

Text: Beate Schümann / Fotos: Dirk Renckhoff

Passionen bestimmen ein Leben. Jedenfalls das von Julián Barrio. Er ist ein fideler, weißhaariger Mann, Erzbischof von Santiago de Compostela und ein glühender Verehrer des Heiligen Jakobus. Mit dieser Begeisterung steht er nicht allein: Jedes Jahr pilgern Hunderttausende von Menschen auf dem Jakobsweg zum Grab des Apostels in Barrios Kathedrale. Passionen bestimmen auch das Leben einer Stadt.

Spanien Santiago de Compostela Kathedrale bei Nacht

Santiago de Compostela ist eine europäische Stadt des 21. Jahrhunderts und doch wie kaum eine andere vom Mittelalter geprägt. Im engmaschigen historischen Quadrat der Altstadt deutet alles auf gepflegte Vergangenheit hin. Selbst das Moos, das wie Patina auf den Gebäuden liegt, scheint gewollt zu sein. Alles dreht sich um den Jakobuskult, der vor mehr als tausend Jahren im ganzen Abendland eine rege Wandertätigkeit auslöste. Aus den Nischen der Fassaden blinzelt der Erlöser einem zu, von Plakaten grüßt er als Pilger mit Muschel-Emblem. Hier steht er aus Granit, dort aus Ton oder Plastik. Cafés bieten sogar Jakobustorte an. Die rund 94.000 Compostelanos leben damit, dass ihre Stadt von Mai bis Oktober, zur besten Reisezeit, aus den Nähten platzt.

Spanien Santiago de Compostela Priester

Fromme Männer im Gespräch

Alle fünf, sieben oder elf Jahre, wenn der Jakobstag am 25. Juli auf einen Sonntag fällt, ist hier der Teufel los. Dann ist ein Heiliges Jahr, ein Höhepunkt im Leben gläubiger Katholiken. Der Auftakt zum oberhirtlichen Glücksgefühl findet jeweils am letzten Tag des letzten Jahres statt. Mit einem silbernen Hämmerchen schlägt Monseñor Julián die zugemauerte Tür des Vergebens, die „Heilige Pforte“ auf und ruft damit das Heilige Jahr aus.

Spanien Santiago de Compostela Jakobus

Der Heilige persönlich

Über Besuchermangel kann der Erzbischof nicht klagen. Auch im Winter nicht; schließlich ist Jakobus Spaniens Nationalheld. Dennoch ist der Botafumeiro, der silberne Weihrauchkessel, der eigentlich nur an hohen Festtagen wie Ostern oder Weihnachten durch die Kathedrale pendelt und das Harz zerstäubt, ein absolut aufregendes Spektakel, jetzt auch an Werktagen buchbar geworden - für die kleine Gabe von 240 Euro. Was zu denken geben könnte. Im Heiligen Jahr wird es im engen Geflecht der Gassen und Plätze garantiert richtig voll. Rund zwölf Millionen Besucher erwartet die galizische Hauptstadt. Dann schwingt der Botafumeiro sogar täglich und gratis.

Unterwegs auf dem Jakobsweg

Das meernahe Santiago de Compostela ist die Endstation der Wallfahrt. Genauer gesagt: die Kathedrale. Hierher kommen alle: die Fußpilger, Radler, Reiter, Autofahrer und Busreisende, gläubige Katholiken, Esoteriker, Kulturinteressierte, Abenteuerlustige, Sich-Selbst-Suchende und See-Europe-in-a-Week-Reisende, Reiche und Arme. Der Weg ist keine verstaubte Nummer für Mirakelgläubige. Über alle Verschiedenheit und Interessen vereint er Menschen aus allen Teilen Europas, die von der unbestimmten Sehnsucht bewegt werden, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Der Camino Francés, der spanische Hauptweg, führt ohne Umschweife zum Ziel, von den Pyrenäen geradenwegs an der Biscaya-Küste entlang bis kurz vor dem Ende der bewohnten Welt, finis terrae, wie das Küstenkap hinter Santiago seit dem Mittelalter heißt.

Spanien Santiago de Compostela müder Pilger

Ein müder Pilger am Ziel seiner Wünsche?

Wie der Stern über dem Stall von Bethlehem leuchtet die Kathedrale den Ankömmlingen schon von Weitem. Vor dem Glorie-Portal, ein Meisterwerk romanischer Kunst, fädeln sich die Massen in eine Reihe ein. Zu der marmornen Mittelsäule streben die Pilgerhände, suchen die Vertiefung, in der, wie es heißt, Jesus Christus seinen Händedruck hinterlassen hat. Alle greifen nach der „Hand des Erlösers“, sodass der Granit dem Ansturm der millionenfachen Berührung langsam weicht. Der Pilgerstrom zieht durch das Hauptschiff, hinter den Hochaltar, wo die Gläubigen die lebensgroße Jakobusfigur umarmen - nur kurz, denn die Schlange auf der Treppe drängt unaufhaltsam nach - und schließlich hinab zur Krypta, wo die Reliquien des Apostels in einer Silberurne ruhen.

Spanien Santiago de Compostela Angekommen

Angekommen!

Der Legende nach soll Jakobus (spanisch: Santiago) in Galizien das Evangelium gepredigt haben, lange bevor er im Jahr 44 n. Chr. in Jerusalem den Märtyrertod starb. Seine Jünger brachten den Leichnam nach Compostela und begruben ihn. Doch der Ort geriet in Vergessenheit. Erst 813 wurde das Grab wiederentdeckt, zu einer Zeit, als das auf ein winziges Fürstentum geschrumpfte Spanien die Vertreibung der Mauren vorbereitete, für die es einen starken christlichen Beschützer gut gebrauchen konnte. Die Christen siegten, Jakobus erhielt den Beinamen „Maurentöter“. Dass der Kampf gegen den Islam parallel zur Legendenbildung begann und womöglich kein Zufall war, zerstört noch keine Passion. Denn ob im Apostelgrab der wahre Jakob liegt, spielt keine große Rolle. Wäre es in der Mitte Europas gefunden worden, etwa im Taunus, wäre es ohne Mühen aufzusuchen gewesen, hätte der Ort diesen magischen Mythos vermutlich nie entwickelt.

Schönheit macht fromm

Die Kathedrale entstand ab 1075 über dem Grab. Ihr Anfang mag Legende sein. Doch an der Praza del Obradoiro steht sie wahrhaftig vor einem. Erschöpft von einer langen Fahrt bevölkern Pilger auf ihren Rucksäcken den Platz. Erschöpft, aber glücklich, diese Kathedrale zu sehen, in Größe und Prunk zu Harmonie verschmolzen, die sich vor ihren Jüngern wie ein Altar erhebt. Von einem doppelläufigen Treppenaufgang wächst die barocke Granitfassade über ein verzweigtes System von Emporen, Balustraden und Fenstern, fein ziseliert, bis zur Heiligenfigur in den Himmel hinein. Auch Schönheit macht fromm.

Spanien Santiago de Compostela Türme der Kathedrale

Die Kathedrale aus der Ferne und ...

Überhaupt ist Frömmigkeit in der Altstadt so präsent wie Weihwasser. Jeder zweite Laden ist auf Priesterbedarf, Jakobusfiguren in allen Größen und Pilgermuscheln in allen Variationen spezialisiert. Unter den Arkaden liegen zwischen Cafés und Bars, Sisley, Benetton, Ledermoden- und Dessous-Shops jene mit schicken Priestergewändern, Monstranzen, Messkelchen, Hostienbehältern und Krankensalbungssets für unterwegs. Selbst wer als absoluter Atheist in diese Stadt kommt, gibt seinen Atheismus spätestens nach ein paar Tagen auf. Niemand kann auf die Dauer gegen die Realität existieren.

Spanien Santiago de Compostela Fassade der Kathedrale

... aus der Nähe

Sogar Regen kann in Santiago barocke Formen annehmen. Bei Regen, und es kann himmlischen Dauerregen geben, wirkt ihr Grau noch mystischer. Praktisch alle Gebäude sind aus dem düsteren, regenerprobten galizischen Granit, in dessen Quarzkristallen die Sonne ihr Licht herrlich sanft brechen kann: rund fünfzig Gotteshäuser und Klöster, Hospize, Paläste, Bürgerhäuser, die Universität, Arkaden, Treppen, Brunnen und 114 Glockentürme, ein verschachteltes Gesamtkunstwerk aus Romanik, Gotik, Barock und Renaissance. Dass es heute von einem düsteren Industriezentrum umrahmt wird, ist schnell vergessen.

Spanien Santiago de Compostela Butafumeiro

Hier pendelt er, der Butafumeiro

Als es zu regnen beginnt, rücken die Rucksacktouristen flugs unter den Arkaden vom Raxoi-Palast zusammen. Der Dudelsackpfeifer, der galizische Weisen spielte, ist verschwunden. Auch der Atheist sucht in der Kathedrale Schutz. Gerade, als die braun bekutteten Tirabuleiros wieder das dicke Tau des Botafumeiro von der Säule lösen. Der 80 Kilogramm schwere Weihrauchwerfer hängt einen Meter über dem Boden und wird nur kurz angestoßen. Sofort ziehen die Tirabuleiros das Tau an, beschleunigen ihn mit einer besonderen Schwingtechnik, sodass der Kessel mit einer Geschwindigkeit von 68 Stundenkilometern bis unter das zwanzig Meter hohe Gewölbe der beiden Seitenschiffe saust und eine einlullende Qualmsäule hinterlässt. So pendelt der Botafumeiro seit dem 16. Jahrhundert, einst zur Desinfektion, später als Symbol für die aufsteigende Seele. Selbst der letzte Zweifler ist beeindruckt.

 

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