Text: Beate Schümann
Halb Europa war im Mittelalter im Wanderfieber. Mit Sandalen, einem weiten Umhang, einer Muschel als Erkennungszeichen an Kragen oder Hut und einem langen Wanderstab als Stütze, der in Notfällen auch der Verteidigung diente, machten sich die Pilger auf den Weg in Richtung Spanien. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Gegenden des Abendlandes, aus Deutschland, der Schweiz, England, Frankreich, Polen, Griechenland, sogar aus der Türkei. Der feste Glaube an den Erlass aller Sünden am Grab des heiligen Jakobus (spanisch: Santiago), Frömmigkeit oder die Bitte um Hilfe in existentieller Not brachte Millionen auf die Beine, Bettler ebenso wie Könige.
Jakobus-Altar in Eggzurich
Der Grund dieses leidenschaftlichen Massentourismus liegt im äußersten Nordwestzipfel Spaniens. Spanische Jünger, so berichtet die Legende, hatten den Leichnam des Apostel Jakobus von Jerusalem nach Galizien gebracht und unter der Kathedrale von Santiago de Compostela begraben. Dieser Mann, der immerhin bereits im Jahr 44 in Palästina hingerichtet worden war, machte fast ein Jahrtausend später aus einem bedeutungslosen, unwirtlichen Küstenort am Rande des christlichen Einflussbereiches den nach Jerusalem und Rom größten Wallfahrtsort der Christenheit. Anfang des 9. Jahrhunderts will ein Mönch mehrmals einen Stern gesehen und das vergessene Grab an seiner heutigen Stelle wiederentdeckt haben. Das ereignete sich zu einer Zeit, da das Reich des Islam sich bis in den hohen Norden der Iberischen Halbinsel ausgedehnt hatte. In dem schwertschwingenden Jakobus schien Mohammed erstmals einen ernstzunehmenden Rivalen bekommen zu haben und die abendländische Gesellschaft einen geistig-kulturellen Zusammenhalt. Der Jakobsweg formierte sich als Trennlinie zwischen Christentum und Islam.
Nach der Überquerung der Pyrenäen vereinigten sich die Pilgerwege wie die Stäbe eines Fächers auf einen einzigen Weg. In Roncevalles erreichten die Wallfahrer den Wegstein mit der beruhigenden Entfernungsangabe: nur noch 787 Kilometer bis nach Santiago de Compostela.
Auch heute noch zieht es viele Menschen auf den Pilgerweg. Er verlor zwar an Bedeutung, als Santiago de Compostela im Zuge der Reformation als Zentrum des Katholizismus zu verblassen begann. Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert erlebte er ein Comeback - allerdings weniger aus religiösen Motiven als vielmehr aus Lust am Wandern und an der Kultur. Den wichtigsten Teil des Jakobsweges von den Pyrenäen nach Santiago erklärte 1987 der Europarat zur ersten europäischen Kulturstraße. 1993 erhob ihn die UNESCO zum Weltkulturerbe, was ihn noch stärker ins Bewusstsein rückte. Höhepunkte der Jakobspilger sind jene Jahre, in denen der Namenstag des Apostels am 25. Juli wie in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt. Dann feiert die katholische Welt ein "Heiliges Jahr". Wer nicht ganz bis nach Santiago reisen will, begnügt sich mit Teilstrecken. Einsiedeln, mit seinem Benediktinerkloster aus dem 10. Jahrhundert einer ihrer wichtigsten Schweizer Sammelpunkte, zählt jedes Jahr durchschnittlich 500.000 Pilger. In diesem Jahr rechnet die Region mit einer Verdoppelung.
Viele Pilger passierten auf ihrem Weg zur heiligen Stätte das Gebiet der heutigen Schweiz, die zu den wichtigsten Durchgangsländern gehörte. Zwischen Bodensee und Genfer See führen gut 400 Kilometer auf dem Jakobsweg durch die Eidgenossenschaft. Wenn auch nicht vergleichbar mit dem spanischen Hauptweg, so stößt man doch auch hier überall noch auf die Spuren der mittelalterlichen Pilger. Mit reichlich Wegkreuzen, Bildstöcken, Herbergen, Trinkwasserstationen, Hospitälern, Kapellen, Kirchen und Kathedralen, die im Abstand von Tagesetappen aufeinander folgten, waren die stark frequentierten Jakobsrouten ähnlich gut durchorganisiert wie heute moderne Autobahnen mit Tankstellen und Raststätten. Die Logistik lag damals fast ausschließlich in der Hand von Mönchsbrüdern, die Klöster und Hospize am Wegesrand aufbauten wie Werbestrategen heute Großplakate.
St.Gallen
Alle einflussreichen Orden postierten ihre Klöster am Jakobsweg, so die Benediktiner in St. Gallen und Einsiedeln, die Kapuziner in Rapperswil, die Franziskaner in Luzern und Lausanne, die Johanniter in Fribourg und die Kluniezenser in Rüeggisberg. Im Baueifer der Jahrhunderte ziehen sich Kulturdenkmäler in einem Stilcocktail aus Romanik, Gotik und Barock von der Ostschweiz bis nach Galizien.
Lausanne
In zahlreichen Ortschaften und Städten, vor allem in St. Gallen, Luzern, Fribourg, Lausanne und Genf, belegen die Gotteshäuser die Anwesenheit der Jakobspilger. Die St.-Nicolas-Kathedrale in Fribourg birgt allein fünf Jakobusdarstellungen, die Luzerner Franziskanerkirche vier.
Fribourg
In der St.-Pierre Kathedrale in Genf präsentiert ein Glasfenster den heiligen Jakobus gar in königlichem Purpurmantel mit Hermelinbesatz. Die Jakobsmuschel, ihr wichtigstes Erkennungszeichen, taucht unterwegs immer wieder in Kapellen und Gebäuden und an den Statuen des heiligen Jakobus auf. In der St.-Etienne-Basilika in Moudon sind Jakobsmuscheln sogar ins Chorgestühl geschnitzt.
Unter dem Jakobsweg ist jedoch keine zusammenhängende Wanderroute zu verstehen. Es gab Haupt- und Nebenstrecken, und die Route teilte sich unterwegs oft mehrmals, um später wieder zusammenzulaufen. In der Schweiz führt die Hauptroute von Konstanz am Bodensee über Rapperswil nach Einsiedeln und von dort weiter am Brienzer und Thunersee vorbei nach Rüeggisberg. In Rüeggisberg stießen die aus Luzern kommenden Pilger dazu, um dann gemeinsam mit den anderen den Weg zum Genfer See einzuschlagen.
Einsiedeln
Nach heutigen Maßstäben nahmen die damaligen Pilger unvorstellbare Strapazen in Kauf. Während den Wanderer die grandiose landschaftliche Szenerie aus sanften Appenzeller Hügeln, den Gipfeln der Glarner und Berner Alpen und den herrlichen Gebirgsseen für alles Inkommode entschädigt, stellte die Natur sich den Wallfahrern als manchmal kaum zu überwindendes Hindernis in den Weg. Steinige, steile, rutschige Pfade, Nebelbänke und Gewitter verwandelten die Fußreise im Nu in ein extremes Abenteuer. Schmerzende Gelenke, von der Feuchtigkeit aufgeweichtes Schuhwerk, an widerborstigem Gebüsch aufgerissene Kleidung, wilde Tiere, Entkräftung und Krankheiten waren unkalkulierbare Risiken - und nicht alle kamen durch.
Blick auf Luzern
Heute sind die Strecken selbst für Unsportliche bequem zu meistern, und die meisten Wege führen über komfortablen Asphalt. Wie früher können sie zu Fuß begangen werden, aber auch andere Fortbewegungsarten sind möglich, etwa das eigene Auto, Fahrrad, Bus oder Schiff. Auch bei der Wahl des Quartiers braucht der moderne Pilger sich nicht zu sorgen; er muss allenfalls rechtzeitig reservieren. Ausgeschildert waren die Routen auch damals schon, wenn auch nicht in unserem Sinne. Die Pilger folgten den Marksteinen mit einer eingemeißelten Jakobsmuschel, die am Wegesrand auftauchten. Die typische Jakobsmuschel und der Jakobusstern prangen auch auf den Wegweisern quer durch die Schweiz. Eine einheitliche Beschilderung gibt es bei den Eidgenossen jedoch nicht. In der Ostschweiz weisen braune Schilder mit weißer Schrift auf den "Jakobsweg" hin. Zu lesen ist auch "Schwabenweg", denn früher sagte man zum Bodensee "Schwäbisches Meer". In den übrigen Regionen ist die Strecke an der internationalen Beschilderung - weiße Schrift auf blauem Grund.
Das Ziel ist der Witz. Und es gibt viele Witze zwischen dem schweizerischen Biedermeierdorf Heiden und dem rund achteinhalb Kilometer entfernten Walzenhausen. Genauer gesagt etwa alle 106,5 Meter einen. Denn hier im wunderschönen Appenzeller Land verläuft hoch über dem Bodensee und dem Rheintal der 1993 eröffnete, erste und älteste Witzweg der Welt.
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Vor gut dreißig Jahren war die preisgünstige Übernachtungsalternative in Vergessenheit geraten. Doch die Anhänger der alten Idee, die dem deutschen Lehrer Richard Schirrmann 1909 auf einer Schülerwanderfahrt gekommen war und sich unter dem Motto "Gemeinschaft erleben" weltweit verbreitete, besaßen einen starken Erneuerungswillen. In der Eidgenossenschaft, wo sich der Verbund 1924 gründete, reagierten sie mit einer tiefenwirksamen Sanierungsoffensive. Unrentable Häuser wurden geschlossen, andere gründlich aufgepeppt. In den letzten zehn Jahren investierte der Verein Schweizer Jugendherbergen 80 Millionen Franken in Um- und Neubauten.
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