Alte Bögen, neues Leben

Der Gürtel: Wiens Peripherie inmitten der Stadt erlebt eine Renaissance

Text und Fotos: Volker Mehnert

Österreich Wien renovierte Bögen

Niemals, sagte der fremde Herr, der da neben mir an der Theke sein Bier trank, niemals hätte er sich mit dem Gedanken an diese Stadt anfreunden können. An diesen überholten feudalen Pomp aus Hofburg und Hofreitschule, aus Stephansdom und Schönbrunn, aus Walzertakt und Fiakerfahrten. Nie hätte er die Konditorenattacken aus Sachertorten, Mozartkugeln und Mannerschnitten ertragen können, mal ganz abgesehen von dem Schmus um Sissi und Franz-Josef. Und dann erst die versüßlichte Präsentation der Skandalbilder von Gustav Klimt und Egon Schiele im Belvedere - einfach skandalös! Nicht einmal grantelnde Keller hätte er als typisch oder gar witzig genießen können. - Nun wäre er aber doch hier, unterbrach ich seine abfällige Rede. „Hier am Gürtel, ja, das ist schließlich etwas anderes“, entgegnete er.

Wir waren die einzigen Nachmittagsgäste im „Gürtelbräu“, einem Lokal unter den Hochbahnbögen am Wiener Gürtel, jener dreizehn Kilometer langen Verkehrsader, die sich im Westen der Stadt in einem lässigen Schwung um die Innenstadt legt. Zwei vierspurige Ringstraßen haben den einstigen Boulevard zur urbanen Blechpassage gemacht und den breiten Grünstreifen in seiner Mitte verwaisen lassen. Zwischen den Straßen verläuft außerdem der markante Strang der Stadtbahntrasse, ein architektonisches Meisterwerk des Jugendstilbaumeisters Otto Wagner, das Kaiser Franz-Josef auf dem Linienwall, Wiens ehemaliger Zoll- und Verwaltungsgrenze, in Auftrag gegeben hatte. Wagner, zusammen mit Gustav Klimt Begründer der Wiener Secession, plante den Bahnkörper und seine Stationen als Gesamtkunstwerk, das neben den großflächig gestalteten Fassaden auch Details wie Lampen, Geländer und Aufschriften einschloss.

Österreich Wien Bahnlinie

Unterwegs auf dem Gürtel

Im Mai 1898 würde die Gürtellinie mit großem Pomp eröffnet. Die soliden Gewölbe aus Ziegelsteinen tragen seit mehr als hundert Jahren die Bahnschienen, über die jetzt alle paar Minuten die antiquierten Waggons der U-Bahn-Linie 6 rumpeln. In der Zwischenkriegszeit hatte die Sozialdemokratie versucht, durch angrenzende Gemeindebauten den Gürtel zu einem „Boulevard des Proletariats“ auszubauen, doch nach dem Zweiten Weltkrieg lenkten die Stadtväter den wachsenden Autoverkehr über den Gürtel, der so zu einem der meist befahrenen und lautesten Verkehrswege Wiens wurde. Seither sind die Gewölbe unter der Hochbahn stetig heruntergekommen, die Trasse wurde zur vernachlässigten Peripherie inmitten der Stadt.

Österreich Wien Stil unter den Bögen

Stilvoll unter den alten Bögen

Doch jetzt ist eine Kehrtwende eingeleitet. Im Rahmen eines städtischen Plans zur Belebung des Gürtels und zur Erneuerung eines bislang übel beleumundeten Stadtviertels, unterstützt mit Mitteln der Europäischen Union, wurden viele Bögen auf beiden Seiten der Trasse mit einheitlichen großen Panoramaverglasungen versehen, die sich harmonisch in die strenge Geometrie des Viadukts einfügen. Zugesperrte, mit Brettern vernagelte Verliese, das kann man jetzt im akuten Stadium der Veränderung beobachten, verwandeln sich Bogen für Bogen in lichte, einladende Lokale. Was der Hochbahntrasse tagsüber eine schwebende Leichtigkeit verleiht, befreit sie nach Einbruch der Nacht durch die Beleuchtung von der bislang vorherrschenden bedrohlichen Dunkelheit. So kommt auch der ursprüngliche Entwurf Otto Wagners wieder zum Vorschein, der die Bögen bereits als transparent und damit weniger wuchtig geplant hatte.

Ein urbaner Angelpunkt

Im Innern der aufgelassenen, gewissermaßen befreiten Gewölbe toben sich jetzt die Designer aus: von der futuristisch modellierten Kantine über den poppigen Musikschuppen bis hin zum originellen Drive-Through einer Fast-Food-Kette, der sich gleich über fünf Hochbahnbögen erstreckt. In vielen Räumen hat man die architektonische Substanz der alten Backsteingewölbe sichtbar in die moderne Ausstattung integriert. Und eines ist allen Etablissements gemeinsam: Das Rumpeln der U-Bahn, die hier für ein paar Kilometer auf den Viadukt geklettert ist, versetzt die Räume darunter regelmäßig in kräftige Vibrationen.

Österreich Wien Straßencafé

Im Straßencafé vor den Gürtelbögen

Das wichtigste Signal der Stadterneuerung am Gürtel geht aus vom U-Bahnhof Burggasse. Dort hat die Architektin Silja Tillner einen ehemals vollkommen verwahrlosten Vorplatz durch ein ungewöhnliches Zeltdach in einen Ort des Verweilens umgewandelt, wo Fußgänger auf den Bürgersteigen und in den Wartebereichen vor Wind und Wetter geschützt sind. Dahinter erhebt sich, wie zu einer Pyramide hinauf, eine steile Treppe auf das Dach der neuen Wiener Hauptbibliothek. Das Gebäude überspannt die Stadtbahnlinie, und von einem riesigen Dachgarten mit Bänken und Café hat man nicht nur einen Blick auf die Altstadt und bis hinüber nach Grinzing, sondern auch auf die Züge der Linie 6, die hier aus dem Tunnel unter dem Gebäude herausfahren, sich zunächst in einem tiefgelegten Einschnitt bewegen, um dann auf die Wagnerschen Bögen hinaufzurattern. An dieser Stelle hat sich der Gürtel bereits von einer Barriere zwischen den inneren und äußeren Bezirken Wiens zu einem urbanen Angelpunkt gewandelt, dessen Dynamik sich aus beiden Seiten der Stadt speist.

Österreich Wien Buchbinderei

Auch Traditionelles ist noch vorhanden

Rund um die Bahnhöfe Thaliastraße und Josefstädter Straße, Währinger Straße und Nussdorfer Straße sind viele Bögen zu einem neuen, anderen Leben erwacht. Hier trifft sich in Bars und Musikkneipen wie dem „Chelsea“ und dem „rhiz“, dem „B72“ und dem „Babu“ eine Wiener Szene, die dem altstädtischen Barock den Rücken kehrt und dem schon verloren geglaubten Boulevard eine Renaissance verschafft.

Österreich Wien Brunnenmarkt

Multikulti - Brunnenmarkt

Nur eine Parallelstraße weiter taucht man endgültig in ein Wien ein, das jede Erinnerung an das barocke Touristenziel verblassen lässt. Der Brunnenmarkt in Ottakring - entlang der Brunnengasse und vier, fünf Seitenstraßen - ist einer der letzten Straßenmärkte der Stadt. Ihn mit multikulturell zu bezeichnen, wäre eine lahme Beschreibung. Der Markt ist ein Mikrokosmos für sich: Wien zeigt sich hier als Konzentrat der ganzen Welt, und die weite Welt spielt Wiener Provinz. Zwischen den Fassaden trostloser Mietskasernen schäumen Handel und Trubel über und beleben die grauen Gassen mit schillernden Farbtupfern und exotischer Ausstrahlung. Improvisierte Marktstände auf den Bürgersteigen verwachsen an manchen Stellen mit langjährig ansässigen Geschäften, grenzen sich anderswo bewusst von ihnen ab und bilden manchmal absurde Kontraste zueinander. Der Schödl Ernst, Marktfahrer, und der Hofbauer Leopold, Produzent, Claudia´s Würstel Bar und Austria Tabak, Modewaren Kriwanek und Ferschl, Innereien, stehen Seite an Seite mit Chinaläden und Dönerbuden.

Österreich Wien Marktgasse

Wien und die Welt auf einem Fleck

Ein Wäschegeschäft hat vor der eigenen Ladentür einen zusätzlichen Stand errichtet, wo Unterwäsche und Dessous feilgeboten werden, die vor einem halben Jahrhundert Mode gewesen sein mögen. Ein türkischer Gemüsehändler hat sich vor einer blinkenden Spielhalle aufgebaut, Textilien und Ramsch werden neben hölzernen Containern mit Äpfeln verhökert. Ein Schild verspricht „Gutes vom Bauernhof“. Nebenan gibt es Heurigen aus dem Glas und Grünen Veltliner in Doppelliterflaschen, russische Gurken und ukrainische Würste, Blumen und Honig aus der Steiermark, frisches Spanferkel und junges Lamm, kiloweise knackige Radieschen und Säcke getrockneter Bohnen, Pakete mit Mokka und Tee aus Anatolien. Pakistanis und Türken unterhalten sich im Wiener Dialekt und verstehen sich bestens mit der alteingesessen Oma im Brunnen-Beisl. Und das alles gerade einmal fünf Straßenbahnstationen von der noblen Herrengasse und der Hofburg entfernt.

Wien bläst zum Aufbruch

Dieses Ambiente hatte offenbar auch mein Gegenüber im „Gürtelbräu“ hierher gebracht. „Soll ich etwa in verstaubten und jetzt touristisch aufgemöbelten Kaffeehäusern sitzen“, fragte er, „nur weil dort früher Alfred Polgar, Arthur Schnitzler oder Karl Kraus ihren Kaffee getrunken haben? Lieber schaue ich mich dort um, wo die drei herumlungern würden, wenn sie heute lebten, und wo vielleicht die Schnitzlers von morgen sitzen mögen, falls es solche Leute denn überhaupt noch gibt.“ Irgendwie kommt er mir selbst vor, wie eine Reinkarnation von Alfred Polgar, der sich auch schon über sein statisch-barockes Wien mokierte: „Wien bleibt Wien“, schrieb er, „und das ist wohl das Schlimmste, was man über diese Stadt sagen kann.“

Österreich Wien integrierte Bögen

Die alten Bögen integriert in moderne Architektur

Nun, hier am Gürtel jedenfalls hat Wien zum Aufbruch geblasen. Unter den Hochbahnbögen dröhnen nicht nur die bekannten Lokale einer alternativen Musikszene, die als „Wiener Sound“ und „Wiener Elektronik“ gehandelt wird. Man findet auch experimentierfreudige Lounges und schrille Clubs, in denen neben Live-Auftritten Filme und Videos präsentiert werden. In der neuen Gürtel-Gastronomie treffen sich auch die Motorrad-Frauen und die bretonische Tanzsession, und es gibt regelmäßige Komponisten- und Autorenstammtische - vielleicht wirklich mit den Polgars und Schnitzlers von morgen.

Österreich Wien Gürtelbräu

Schon fast romantisch

Zu späterer Stunde mögen sie auftauchen, am Nachmittag aber herrscht hier noch eine urbane Beschaulichkeit, sieht man einmal vom immerwährenden Straßenlärm ab. „Wie wär´s mit einem gemeinsamen Bummel durch die Musikszene heute Abend?“ fragte ich schließlich den kritischen alten Herrn neben mir. „Gehen Sie“, winkte er ab, „gehen Sie nur allein. Für mich ist das nichts mehr, diese Musik.“ - „Und was halten Sie morgen von einem Frühstück im Café Central? Dorthin hat immerhin Alfred Polgar zeitweilig seine Postadresse verlegt.“ „Hören Sie auf, das liegt doch innerhalb der Gürtellinie, da bringen Sie mich nicht hin“, wehrte er ab. Dann bezahlte er rasch und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Niemandsland zwischen Sissi und Wiener Sound.

 

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