Im unentdeckten Paradies

Wandern am Ötscher in Niederösterreich

Text und Fotos: Christoph Wendt

Einsamkeit kann man nicht steigern. Oder doch? Dann könnte die Steigerungsform Gösing (1) heißen. In Gösing ist die Welt zu Ende, jedenfalls für den Autofahrer. Das von Puchenstuben, dem nächsten größeren Ort, her kommende Sträßchen endet bei den wenigen Häusern des Weilers im Wald, einer Gutsverwaltung, einem Bauernhof, einem Waldhotel, das den Komfort eines modernen Viersternehauses mit dem Charme der Jahrhundertwende verbindet, einem einstigen Kurhaus und dem kleinen Bahnhof der Mariazellerbahn.

Niederösterreich - Blick auf den Ötscher

Blick auf den Ötscher

Fuchs und Hase sagen sich hier zwar nicht gute Nacht, dafür aber Hirsch und Gams. Wo diese Idylle der Einsamkeit liegt? Gösing liegt im Naturpark Ötscher-Tormäuer, halbwegs zwischen Linz und Wien, im äußersten Winkel Niederösterreichs an der Grenze zur Steiermark. Mit einer Höhe von knapp 2000 Metern ist der Ötscher der höchste Berg Niederösterreichs. Sein Name soll eine Verbalhornung des slawischen Wortes „oċan“ sein, das Vaterberg, aber auch Herrscher bedeutet. Und wie ein Herrscher erhebt sich dieser pyramidenförmige, hochalpine Berg über die umliegenden Hügel, Buckel und Berge.

Ötscher - Waldhotel Gösing

Hotel Gösing

Davon allerdings sehen wir nichts, als wir am Abend das ganz in Holz gestaltete Zimmer des Waldhotels beziehen. Der Ötscher ist nicht zu sehen, obschon wir ein Zimmer mit Ötscherblick haben. Der Herrscher empfängt eben nicht jederzeit zur Audienz, er hat den Wolkenvorhang zugezogen.

Aufstieg auf den „Herrscher“

Dafür steht er am nächsten Morgen regelrecht strahlend über dem mit Morgennebel gefüllten Tal und scheint uns aufzufordern, die Chance des wolkenlosen Tages zu nutzen und ihn zu besuchen. Von Lackenhof (2) am Nordfuß des „Herrschers“ bringt uns eine Sesselbahn in die Höhe zum Ötscherhaus, einem alpinem Schutzhaus. Zwei Bergwanderer kommen bereits vom Gipfel herunter, sie müssen in aller Frühe schon vom Schutzhaus aufgebrochen sein. Anderthalb Stunden gibt der gelbe Wegweiser an für den Aufstieg auf den „Herrscher“. Aber wir sollten ruhig zwei Stunden einkalkulieren, raten uns die beiden, die den Gipfel gerade hinter sich haben. Nicht weil der Weg schwierig sei, sagen sie, sondern weil die Fülle der Bergblumen, die ringsum in voller Blüte stehen, es einfach nicht zuließen, dass man nur vorbeigehe.

Niederösterreich Pupurenzian

Purpurenzian

Wir danken für den Tipp und beginnen zu steigen. Und tatsächlich, was wir dann fast zwei Stunden lang erleben, ist wie ein Gang durch einen Steingarten. Truppweise stehen die eindrucksvollen Blütengestalten des Purpurenzians, daneben die gelben des Wolfseisenhutes. Wie weiße Sterne leuchten am Boden die Blüten des Sumpfherzblattes, blauer Schwalbenschwanzenzian, zartrosa Nelken und orangefarbenes Habichtskraut bescheren immer wieder leuchtende Blütenerlebnisse.

Niederösterreich - Alm am Erlauftal

Alm am Erlauftal

Dann sind wir oben, stehen am Gipfelkreuz, 1893 Meter hoch und glauben fast bei diesem klaren Wetter das ganze Bundesland Niederösterreich und auch noch einen Teil der Steiermark überschauen zu können. Es ist belegt, dass im 17. Jahrhundert auf diesem Gipfel Warnfeuer entzündet wurden, wenn die Gefahr von Türkeneinfällen bestand. Ringsum unter uns wogen die Bergkuppen und Gipfel, sie alle sind bewaldet, nur der „Herrscher“ ragt mit einem nackten Haupt empor. Das heißt, so nackt ist das auch nicht, auf dem rasigen Boden strahlen uns zahlreiche bunte Polsterblumen entgegen. Der Blick geht nach Osten bis in die Niederung, durch die die Donau auf Wien zu fließt, dahinter baut sich die Hügellandschaft des Weinviertels auf. Zur anderen Seite blicken wir auf den Hochschwab, erkennen die Berge um das Gesäuse und ahnen allerdings mehr, als dass wir sie erkennten, die Hohen Tauern. Durch die Täler zu unseren Füßen fließen die beiden wichtigsten Wasserläufe des Ötschergebietes, die Erlauf und der Ötscherbach. Die Erlauf fließt durch eine liebliche Landschaft, an Almen vorbei, auf denen kleine Herden schokoladenbrauner oder braun-weiß gefleckter Kühe weiden.

Durch den Grand Canyon Österreichs

Niederösterreich - Im Ötschergraben

Im Ötschergraben

Den Gipfel des Ötscher zu besteigen biete ein großartiges Erlebnis, meint Michael Gansch, der junge Führer, der uns durch das in Deutschland noch kaum dem Namen nach bekannte Bergland des Ötscher begleitet. Aber vielleicht seien wir von einer Wanderung durch die Ötschergräben, die vom Ötscherbach durchflossen werden, noch mehr begeistert. Immerhin trügen sie den Beinamen „Grand Canyon Österreichs“.

Am nächsten Morgen lassen wir uns von der Mariazeller Bahn, einer Schmalspurbahn, die bereits 1902 als erste Eisenbahn Österreichs elektrifiziert wurde und von St. Pölten an der Donau ins Gebirge herauf kommt und nach Mariazell rattert, zum kleinen Bahnhof Wienerbruck (3) am Eingang zu den Ötschergräben bringen. Dass wir hier ein Eintrittsgeld von zwei Euro für das Betreten des Naturparks zahlen müssen, kommt uns zunächst eigenartig vor, doch sehr bald schon erkennen wir, wie berechtigt das ist angesichts der umfangreichen Sicherungsmaßnahmen, die hier das Wandern überhaupt erst ermöglichen.

Niederösterreich - Gefahrlos Wandern auch für Kinder

Gefahrlos wandern auch für Kinder

Ist das noch Niederösterreich, dieses tief zwischen den bizarr geformten Kalkbergen eingeschnittene Tal? Oder sind wir versehentlich auf einen versicherten Felsensteig in den Dolomiten geraten? Mal wandern wir unmittelbar am Wasser des Ötscherbaches entlang, dann wieder heißt es steigen und wir haben den kristallklaren Bach jetzt tief unter uns. Und plötzlich zwingen die Felswände den Pfad und damit auch uns wieder in engen Windungen hinab ans Wasser. Wir müssen auf schwankenden, aber recht stabilen Brückchen immer wieder das Wildwasser überqueren, kommen vorbei an schmalen Wasserfällen, die wie silberne Adern aus dem dunklen Wald herausschießen. In diesem Wald sind die Hänge stellenweise von wilden Alpenveilchen bedeckt.

Ötscher - Wasserfälle wie silberne Adern

Wasserfälle wie silberne Adern

Plötzlich vor dem Weg auftauchende Schluchten können wir ebenso wie den Bach auf soliden Brückchen überqueren. Stahlseile, an die Felsen gespannt, geben Halt an schwierigen Partien. Und manchmal sind wir so tief auf dem Grund dieses „Grand Canyons Österreichs“, dass wir zwischen den steil aufragenden Kalkfelsen kaum den blauen Himmel erkennen können, der sich über dieser wilden Szenerie spannt. Dass in solcher Landschaft, in derart unzugänglichen Gebirgsregionen, Braunbären sich wohl fühlen würden, können wir uns vorstellen. Doch Michael winkt ab. Der Ötscher werde zwar immer noch als letzte Heimstatt wildlebender Braunbären in Österreich genannt, doch tatsächlich gebe es derzeit nur noch „anderthalb“ Braunbären hier. Einer sei sicher als Standwild festgestellt, ein zweiter streune nur gelegentlich hier umher.

Ötscher - Niederöstereich

Als wir abends auf der Terrasse des Hotels sitzen sehen wir den Vollmond, der wie ein I-Tüpfelchen genau auf dem Gipfel des Ötschers thront. Tief unten rauscht der Angerbach der Erlauf entgegen, und hundert Meter weiter oben im Berg pfeift die Mariazeller Bahn in den Tunnel hinein, in den sie gen St. Pölten entschwindet. Da wissen wir, dass es uns schwer fallen wird, den Ötscher, dieses unentdeckte Paradies, wieder zu verlassen.

 

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