Armes Land, reiches Land

Seen, Vulkane und Kolonialstädte in Nicaragua

Text und Fotos: Rainer Heubeck

Nicaragua Rundfahrt Schulkinder

Es sind Liebesgeschichten der besonderen Art, die dieses Land zu erzählen weiß. Einst, so berichten die Nachfahren der indigenen Ureinwohner Nicaraguas, lebten in dem Land zwei verfeindete Indianerstämme. Eines Tages verliebte sich eine schöne Häuptlingstochter in einen tapferen Krieger aus dem gegnerischen Stamm. Eine verbotene Leidenschaft, von der niemand wissen durfte. Schließlich beschlossen die beiden, gemeinsam zu fliehen. Doch der Häuptling, dessen Tochter mit dem stattlichen Kämpfer vom anderen Stamm von dannen gegangen war, schickte alle seine Krieger los, um die beiden zu verfolgen. Als sie die Liebenden eingeholt hatten, nahmen sie Pfeil und Bogen zur Hand und erschossen den Krieger des verfeindeten Stammes. Die Häuptlingstochter war untröstlich, als sie ihren Geliebten tot am Boden liegen sah, nahm seinen Dolch und erstach sich.

Nicaragua Rundfahrt ReiterDas Blut, das aus den beiden toten Körpern rann, bildete schließlich den Nicaraguasee. Aus dem am Boden liegenden Leichnam des Kriegers formte sich die Insel Zapatera. Und aus den Brüsten der toten Häuptlingstochter, die wuchsen und wuchsen, entstanden die beiden Vulkane Madera und Concepción auf der Insel Ometepe. Die beiden verfeindeten Stämme freilich ertranken in dem Meer aus Blut. Aus ihren Überresten bildeten sich kleine Inselchen: das Solentiname-Archipel im Süden des Nicaraguasees und die Isletas nahe der Stadt Granada am nördlichen Seeufer.

Sinn für Romantik und Poesie, den haben die Bewohner Nicaraguas auch heute noch. Der Tourismus im Lande freilich steckt bislang noch in den Kinderschuhen. Der 164 Kilometer lange und 72 Kilometer breite Nicaragua-See und die Kolonialstadt Granada sind Ziele, die vornehmlich von entdeckungslustigen Individualreisenden erkundet werden – doch die Nachfragte steigt. Vor allem bei Badeurlaubern aus Costa Rica sind Exkursionen in das nördliche Nachbarland derzeit gefragt. Denn Nicaragua, das Land der Seen und Vulkane, bietet nicht nur unbeschwerten Naturgenuss – sei es bei Vulkanbesteigungen oder bei Kajaktouren durch die Isletas – sondern auch die Begegnung mit offenen und freundlichen Menschen, die in Besuchern noch nicht den wandelnden Geldbeutel sehen.

Durchgerüttelt auf der Erdpiste

Nachdem die Tourismus-Angebote auf der Insel Ometepe, der größten Insel im Nicaraguasee und der zehntgrößten Binnenseeinsel der Welt, lange nur auf Rucksackreisende ausgerichtet waren, finden sich mittlerweile auch Mittelklasseangebote. Das Interesse an Nicaragua ist in Europa seit der Solidaritätsbewegung mit der sandinistischen Revolution in den 80er Jahren nie ganz erloschen. Der Schauspieler Dietmar Schönherr startete 1985 ein noch heute lebendiges Nicaragua–Solidaritäts-Projekt. Und auch Monika und Michael Höhn, zwei Deutsche aus Wiehl, die im Jahr 1983 die Insel Ometepe erstmals besuchten, begannen damit, ein Gesundheits- und Bildungsprojekt aufzubauen. Ein Sozialprojekt, das Besuchern des Hotels „Villa Paraíso“ am Strand von Santo Domingo auf Wunsch gerne vorgestellt wird.

Nicaragua Rundfahrt Seeblick

Ihre Bungalows, die zu etwa vierzig Prozent von Gästen aus dem deutschsprachigen Raum frequentiert werden, befinden sich gleich neben dem Schulungsgebäude des Ometepe-Alemania-Projekts. „Viele unserer Gäste“, so beteuert die Managerin, „bleiben nur zwei oder drei Tage, aber sie merken dann, dass sie eigentlich mehr Zeit bräuchten, um die Insel kennen zu lernen. Besser ist es fünf Tage zu bleiben, dann hat man genügend Zeit für Aktivitäten und man kann sich von der recht mühsamen Anreise auch besser erholen. Was ich auf jeden Fall empfehle ist ein Aufstieg zum 1610 Meter hohen Vulkan Concepción, denn dieser Ort hat wirklich etwas Magisches.“

Nicaragua Rundfahrt Boote

Doch das Abenteuer beginnt bei einem Ometepe-Besuch schon lange vor dem Anstieg zu einem der beiden Vulkane. Die Fähren und Passagierboote, die von Rivas aus in etwa eineinhalb Stunden zur Insel fahren, sind bereits mehrere Jahrzehnte alt. Die Straßen auf der Insel sind schlecht, auf dem Weg zum Hotel Villa Paraíso werden die Besucher zum Schluss auf einer mit Schlaglöchern übersäten Erdpiste kräftig durchgerüttelt. Längst nicht alles klappt hier wie am Schnürchen. „Nicaragua ist ein wunderschönes Reiseland, aber man braucht ein bisschen Entdeckergeist und Abenteuerlust dafür“, berichtet Carlos Mejía Kornfeld, ein Nicaraguaner, der 1971 in Wien geboren wurde und teils in Europa, teil in Nicaragua aufgewachsen ist.

Blick in den Schlund des Vulkans

Auch er hat beeindruckende Geschichten zu erzählen, einige davon sind eher beklemmend als romantisch. Beispielsweise, wenn er von dem Massaker berichtet, das die Nationalgarde des 1979 gestürzten Diktators Somoza ganz in der Nähe seines Elternhauses durchgeführt hat. Oder wenn er von Bombenangriffen berichtet, die der von den USA unterstützte Diktator in den 70er Jahren gegen sein eigenes Volk fliegen ließ. Erinnerungen, die nicht nur beim Besuch der nicaraguanischen Hauptstadt Managua lebendig werden, sondern auch beim Besuch des Vulkans Masaya.

Nicaragua Rundfahrt Blick in den Vulkan

Der aktive Vulkan liegt in einem Naturschutzgebiet und zieht zahlreiche Besucher in seinen Bann – denn um den Vulkankrater zu erreichen, ist kein mühsamer Fußmarsch notwendig. Eine gut ausgebaute Straße führt fast bis zum Kraterrand hinauf – vorbei an Feldern mit erkalteter Lava, die von verschiedenen Eruptionen stammt.

Nicaragua Rundfahrt Vulkankrater

Die stark schwefelhaltige Luft, die der Wind Besuchern ganz oben zuweilen entgegen bläst, brennt in den Augen und sticht in der Lunge – doch der Blick in den Schlund des Vulkans ist überwältigend. Für die indigenen Ureinwohner war dieser Vulkan einst ein heiliger Ort, später nannte ihn die Bevölkerung den Mund des Teufels. „Der Diktator Somoza hat politische Gefangene früher per Hubschrauber zum Vulkan geflogen und lebendig in den Krater geworfen“, berichtet Carlos Mejía Kornfeld.

Nicaragua Rundfahrt Blick auf den Vulkan

Zeiten, die in Nicaragua mittlerweile gottlob vorbei sein. Doch das Verhältnis zu den USA, die Somoza gestützt und die Revolutionsregierung der Sandinisten mit einem Bürgerkrieg überzogen hat, ist noch immer reserviert – zumindest, wenn es um deren Lateinamerika-Politik geht. Begonnen hat das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals gab es noch keinen Panama-Kanal. Der US-Eisenbahnmillionär Cornelius Vanderbilt nutzte deshalb den Rio San Juan in Nicaragua, um während des kalifornischen Goldrausches Gold, Güter und Menschen zwischen Pazifik und Atlantik hin und her zu transportieren. William Walker, ein US-Amerikanischer Freischärler, der für Vanderbilt die Transportwege sichern sollte, erklärte sich 1856 kurzerhand zum Präsidenten Nicaraguas, wurde aber bald darauf wieder gestürzt. „Walker machte Nicaragua zum 52. Bundesstaat der USA – mit dem Dollar als Währung mit Englisch als Landessprache“, berichtet Carlos Kornfeld.

Die koloniale Perle

William Walker hinterließ seine Spuren auch in der Stadt Granada, der kolonialen Perle Nicaraguas, die mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Die 1524 gegründete Ansiedlung ist eine der ältesten Städte des Landes. An der barocken Außenfassade der Kirche La Merced finden sich heute noch Brandflecken aus dem Jahr 1856, als William Walker große Teile der Stadt in Brand setzte. Glücklicherweise ist in Granada dennoch vieles erhalten. Besonders sehenswert sind die Kirchen „La Merced“, die 1783 vollendet wurde, und San Francisco. In dem im 16. Jahrhundert errichteten San Francisco-Klosterkomplex, der in leuchtendem Blau getüncht ist, findet sich auch ein Museum, in dem präkolumbianische Götzen ausgestellt werden, die zum Teil von der Zapatera-Insel im Nicaragua-See stammen.

Nicaragua Rundfahrt Granada

Die magische Insel Ometepe, der brodelnde Krater des Vulkans Masaya, die von bunt getünchten Kolonialhäusern und altehrwürdigen Stadtpalästen geprägte Bilderbuch-Stadt Granada und die Kajakfahrt durch die Isletas gehören sicherlich zu den Highlights eines Nicaragua-Besuchs. Doch auch die von Kolonialarchitektur geprägte ehemalige nicaraguanische Hauptstadt León sowie die Städte Estelí und Matagalpa im gebirgigen Norden des Landes lohnen einen Abstecher. Und in der Nähe von San Juan del Sur entpuppt sich Nicaragua gar als ein pazifisches Strandparadies

Nicaragua Rundfahrt  Kolonialgebäude

Touristisch noch weitgehend unerschlossen ist die Karibikseite des Landes. Dabei liegen hier, im Osten Nicaraguas, möglicherweise sogar die Wurzeln des Namens „Amerika“. Denn als die spanischen Seefahrer Cristóbal Cólon und Alberico (bzw. Alberigo) Vespucci in der neuen Welt auf ein goldreiches Gebiet im Osten Nicaraguas stießen, merkten sie schnell, dass die Einheimischen das neu entdeckte Goldland „Amerrique“ bezeichneten, was in der Indiosprache so viel bedeutete wie „Land des Windes“. Der französische Geograph Jules Marcou vermutete, dass die neu entdeckten Reichtümer die spanischen Seefahrer so beeindruckt hatten, dass Alberico Vespucci seinen Namen kurz darauf in „Amerigo“ ändern ließ – und genau dieser Name wurde später zum Synonym für die neue Welt.

Reiseinformationen zu Nicaragua

Nicaragua Rundfahrt MädchenAnreise: Aus Europa gibt es derzeit keine Direktflüge in die nicaraguanische Hauptstadt Managua. Die Anreise erfolgt deshalb meist über die USA oder über andere zentralamerikanische Hauptstädte.

Gesundheit: Malariaprophylaxe ratsam

Sprache: Landessprache ist Spanisch

Einreise: Europäer brauchen für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten nur einen Reisepass, der noch mindestens sechs Monate gültig sein muss.

Klima: Die Tagestemperaturen schwanken zwischen 25 und 25 Grad. Regenzeit ist von Mai bis November mit häufig wolkenbruchartigen Regenfällen. Beste Reisezeit ist von Dezember bis April, sowie im Juli und August (einer Art Zwischen-Trockenzeit).

Auskunft: Nicaraguanisches Institut für Tourismus, Telefon 00505/254-5191, www.visit-nicaragua.com
Arbeitsgemeinschaft Lateinamerika, Domenecker Str. 19, D-74219 Möckmühl
Tel: 062 98/929277, www.lateinamerika.org

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

Das könnte Sie auch interessieren

.

Kurzportrait Nicaragua

Nicaraguas vorteilhafte Lage auf der zentralamerikanischen Landenge weckte schon früh die Begehrlichkeiten der europäischen Großmächte. Nach den Konquistadoren der spanischen Krone, die sich 1522 an der Pazifikküste festgesetzt hatten, brandschatzten englische Filibuster mit Rückendeckung durch die königlichen Majestäten in London die karibischen Küsten des Landes und drangen marodierend über die Flussläufe ins Innere vor.

Nicaragua

Mehr lesen ...

Sandboarding auf Vulkanasche – der größte Kick in Nicaragua

Plötzlich ist er da, der Abgrund, die westliche Flanke von Nicaraguas „Schwarzem Berg“, dem Cerro Negro. Hier soll’s gleich in Schussfahrt über Vulkanasche runtergehen? „Wartet auf meine letzten Instruktionen“, sagt Tourbegleiterin Marjiory, die mit ihrer Prognose Recht behalten hatte: „Wenn ihr nach unserem Aufstieg oben steht, wird es euch steil vorkommen, extrem steil. Zu Beginn sind’s 40, später 45 Grad.“ Angesichts der Neigungswinkel, die einer stattlichen Dachschräge zur Ehre gereichen, hatte Marjiory allerdings beschwichtigt: „Ihr werdet euch dran gewöhnen. So schlimm ist es im Grunde gar nicht.“

Nicaragua

Mehr lesen ...

 

 

Zu Besuch bei Bauern und Künstlern auf den Inseln des Nicaragua-Sees

Still ruht Cocibolca, das "Heilige Wasser", der Nicaragua-See. Die steinernen Krokodile schlafen, und das ist gut so. Denn wenn sie plötzlich aufschnellen, Feuer spucken, zupacken, dann verschlingen sie die Menschen. Dann bebt die Erde und die 36 Inseln im Archipel von Solentiname versinken im See. So glaubten jedenfalls die Ureinwohner Nicaraguas, die aus Nord- und Südamerika kommend sich hier trafen und niederließen.

Nicaragua-See

Mehr lesen ...