Geschichten vom Balkan

Wiederentdeckungen am Ohrid-See in Mazedonien

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Im Dreiländereck von Mazedonien, Griechenland und Albanien liegen Ohrid-See und Prespa-See. Während der Balkankriege gerieten sie in Vergessenheit. Jetzt sollen die Touristen zurückkehren.

Mazedonien Ohrid Steg

Der "kleine Imbiss" entpuppt sich als richtiges Gelage. Nach dem Salat und dem hausgemachten Käse stellt Frau Gogovski einen großen, runden, mit Eiern gefüllten Blätterteigkuchen auf den Tisch, den Mlecnik, und gerade als ihre Gäste anfangen, sich wohlig satt zu fühlen, trägt ihre Tochter die Teller mit dem Hauptgang herein: Lukanci, schwarze, dünne Würstchen aus Hack, Lauch und Paprika, dazu einen Berg Kartoffelsalat und - sage keiner, er wäre nicht satt geworden in Brajcino! - ein Stück gebratenes Huhn. "Sie muss sich das abgewöhnen!", schüttelt Miguel Misteli in komischer Verzweiflung den Kopf. Und meint damit die grenzenlose Gastfreundschaft des Balkan. Denn die verträgt sich nun einmal nicht mit nüchtern kalkuliertem Gastgewerbe. "Sie muss endlich rechnen lernen." So lautet die widersinnige Logik des Tourismus. Und genau die will die Schweizerin den Frauen des 150-Seelen-Örtchens beibringen.

Mazedonien Ohrid Kirche am See

Über dem See in Ohrid

"Verträglicher Dorftourismus" heißt das erklärte Ziel der helvetischen Hilfsorganisation "ProNatura". Und Brajcino mit seinen alten Feldsteinhäusern, den überhängenden Holzerkern und den bunten Gärten bietet durchaus eine geeignete Kulisse dafür. Aber noch sind die Ergebnisse eher bescheiden: Schilder für einen Wanderweg wurden aufgestellt, erste Seminare in Sachen Fremdenbetreuung abgehalten, in der Ruine des alten Klosters haben Männer aus dem Dorf zwei Zimmer instandgesetzt. Noch fehlen die Klos, aber in wenigen Wochen sollen die ersten Probeschläfer anreisen.

Mazedonien Ohrid Uferpromenade

Die Uferpromenade in Ohrid

Brajcino liegt in Mazedonien, ein paar Kilometer östlich des Prespa-Sees. Hier, im Südwesten des Landes, das einst als das rückständigste Jugoslawiens galt, stoßen Albanien, Griechenland und Mazedonien aneinander. 2000 Meter hoch erheben sich die Berge des Galicica-Nationalparks, in dem Wölfe, Bären und Luchse zuhause sind. Östlich und westlich des Parks liegen die beiden Seen Ohrid und Prespa. Mit 358 qkm umfasst der erste immerhin zwei Drittel der Fläche des Bodensees, ist bis zu 289 m tief und um die vier Millionen Jahre alt. Der Prespa-See, nur fünf Kilometer Luftlinie entfernt, fällt mit 329 qkm und 52 m Tiefe etwas bescheidener aus und liegt 155 m höher. Sein Wasser tropft und rinnt durch den Kalkstein und füllt, 695 m über dem Meeresspiegel, den größeren Bruder Ohrid auf.

Ein Platz auf der touristischen Weltkarte?

Ohrid, Struga, Resen - welchem Mitteleuropäer wären diese Namen heute ein Begriff? Bis vor dreizehn, vierzehn Jahren war das noch anders: Da landeten in Ohrid täglich die Chartermaschinen aus Düsseldorf und Amsterdam, in den Straßencafes erklang Sächsisch und Schwäbisch, und die Kellner flitzten, um hungrige Tschechen und Ungarn mit Cevapcici, Zigeunerspieß und Ohrider Forelle zu versorgen.

Mazedonien Ohrid Fußgängerzone

Langsam erwacht das Leben in der Stadt ...

Doch dann zerfiel Jugoslawien, Kriege brachen aus, der Boykott gegen Serbien schnitt das 1991 unabhängig gewordene Mazedonien von Mitteleuropa ab. Als der Kosovo brannte, nahm das Land 360.000 Flüchtlinge auf. Keine Kämpfe, keine Tote innerhalb der eigenen Grenzen - nach außen aber klebte fett und unübersehbar das Etikett "Balkan" auf allen Versuchen, Normalzustand zu signalisieren und das Land auf die touristische Weltkarte zurückzubringen.

Mazedonien Ohrid Landstraße

... und auf dem Land

Als man zu Beginn des neuen Jahrtausends glaubte, endlich aufatmen zu können, wurde plötzlich auch in Mazedonien geschossen: Die Albaner, je nach Sichtweise zwischen 18 und 25 Prozent der Bevölkerung, mit denen die slawische Mehrheit bis dahin friedlich zusammengelebt hatte, entdeckten ihr Bedürfnis nach Anerkennung als Nation in der Nation - oder wurden von Kosovo-Albanern und "dem Westen" mit großalbanischen Ideen infiziert und mit Waffen versorgt, wie viele Mazedonier argwöhnen. An die 50 mazedonische Soldaten und eine unbekannte Anzahl albanischer Bewaffneter starben. 2001 entschloss sich die Nato, Soldaten zu stationieren. Ruhe kehrte ein - und nun soll es endlich aufwärts gehen. Aufwärts vor allem mit dem Tourismus, der dieser industrieschwachen Region am ehesten schnell Einkommen bringen könnte. Aufwärts auch dank der Unterstützung zahlreicher ausländischer Hilfsorganisationen.

Vorbild Griechenland

Gute Straßen und saubere Dörfer - die Gelder der EU zeigen in Griechenland schon eine Zeitlang Wirkung. Agios Germanos, nahe des Großen Prespa-Sees, der vom Kleinen durch eine Landzunge geteilt ist, hat an diesem Morgen weiß-blau geflaggt. Der 250-Seelen-Ort feiert das Fest seines Patrons. Den Kirchenbesuch haben die Menschen hinter sich, jetzt dudeln im Festzelt die Klarinetten. Salat, Ouzo und die berühmten weißen Prespa-Bohnen, die der Gegend einigen Wohlstand gebracht haben, stehen auf den langen Tischen, dampfende Platten mit gekochtem Lamm kommen dazu.

Mazedonien Ohrid griechisches Ufer

Am griechischen Ufer

Eine Gruppe Mädchen in bestickten Kleidern tanzt gekonnt, das Dorf ist begeistert. Alles trinkt und isst und lacht, und auch die Geistlichkeit in Gestalt dreier wohlbeleibter Herrn in Schwarz lässt sich nicht zweimal bitten. Touristen, die meist in der Frauenkooperative oder dem gepflegten Hotel Ariadne im Nachbarort Lemos übernachtet haben, setzen sich dazu, ohne dass groß Aufhebens davon gemacht würde. Sie sind keine Rarität: Die Mitarbeiter der "Gesellschaft zum Schutz des Prespa-Sees" veranstalten schon seit Jahren naturkundliche Führungen.

Mazedonien Ohrid Wasserbüffel

Wasserbüffel tauchen auf

Zitternd teilt sich das Schilf, und mit wohligem Prusten und Schnauben tauchen drei schwarze, gehörnte Kolosse aus dem Schlamm. "Unsere Wasserbüffel", sagt Fontini, die 26-jährige mit den ungebärdigen Locken und dem klassischen Profil, so stolz, als hätte sie jeden persönlich mit der Flasche hochgepäppelt. In den achtziger Jahren wurden immer größere Teile der Feuchtwiesen am See trockengelegt, um Bohnen anzubauen. Land, das den Vögeln fehlte. Als sich nach Jahren die Erkenntnis durchsetzte, dass auch Natur Kapital sein kann, holte man aus Südgriechenland die Büffel. Sie fressen das Schilf, das den See umgibt, und ermöglichen so, dass wieder Wasser auf Wiesen dahinter schwappt. Ein neuer, grüner, sumpfiger Gürtel hat sich gebildet.

Mazedonien Ohrid griechischer Ort

In Griechenland sind sie schon weiter

Die Vögel lieben den Prespa-See. 270 Arten gibt es: Gänse, Reiher, kleine und große Kormorane. Der Ibis verschwand erst 1991, zusammen mit den Feuchtgebieten. Am auffälligsten aber sind die Pelikane. 800 Paare brüten am See, und natürlich kennt Fontini die Stellen, von denen aus sich mit dem Teleskop das Schnäbeln und Flügelspreizen, das Füttern der Jungen und das Gerangel mit den Nestnachbarn am besten beobachten lässt.

Über die Grenze nach Albanien

Etwas weitläufig führt die Straße um den See herum zum albanischen Ufer. Der Grenzübertritt geht dank des deutschen Nummernschildes am Auto ohne Probleme vor sich, das Visum für zehn Euro wird direkt in den Pass gestempelt. Viel entsteht, viel vergeht im heutigen Albanien, überall ragen die Beton-Skelette werdender oder zerfallender Häuser hoch. Männer, die im Ausland arbeiten, legen ihr Geld in einem Neubau an. Wenn wieder ein Batzen angespart ist, ziehen sie die nächste Wand hoch. Reichlich gebaut wurde freilich auch schon zu Enver Hodschas Zeiten.

Mazedonien Ohrid Champignons

Die "Champignons" des Enver Hodscha

Und die Ergebnisse haben bis heute überdauert. Auf Bergrücken und in Wiesen, am Strand oder neben Kapellen - wo der Besucher fährt und geht, sprießt einer jener grauen Champignons aus der Erde: Eine halbe Million Kleinbunker hat der "Comandante" seinem Volk hinterlassen, verteilt nach einem System, dessen Logik sich angeblich auch Militärs nicht ohne weiteres erschließt. Viel zu teuer wäre es, sie zu beseitigen. Bleibt nur, sie als eines der modernen Wahrzeichen des Landes hinzunehmen. Das andere sind all die altehrwürdigen Mercedes-Limousinen, die, liebevoll gepflegt, über die zerfurchten Straßen holpern. Klammheimlich müssen Albaner die gesamte Stuttgarter Produktion bis etwa 1990 aufgekauft haben.

Mazedonien Ohrid Prespa-See

Auf dem Großen Prespa-See

Auch im Großen Prespa-See schwimmen große weiße Vögel und steigen ungelenk auf, als sich das Boot nähert. Am Fuß der schneegesprenkelten Malii Thate Berge schmiegen sich zwei, drei Dörfer in die grau-grüne Landschaft, weit voraus ragt die Insel Golem Grad kreisrund wie ein Heidelbeerkuchen aus dem Wasser. "Schwimmen mit Pelikanen, Tauchen im türkisen Wasser, Sonnenbaden auf den weißen Kieseln - ist das nicht großartig?", fragt voller Stolz Spase Shumka. Im Hauptberuf ist er Biologe, Fachrichtung Süßwasser, und entdeckt deshalb auch sofort eine ungewöhnliche Bewegung in den Wellen: Eine Wasserschlange hat einen silbernen Fisch geschnappt, der noch kräftig zappelt. "Es gibt drei Arten ", sagt der Experte. "Sie flüchten alle vor den Menschen. Und giftig sind sie auch nicht."

Tourismus mit Doppelgesicht

Mazedonien Ohrid Ufer des Prespa-SeesRund um den See haben vor 600, 700 Jahren, als die Osmanen das Land beherrschten, Christen ihre Kirchen in den Schutz von Höhlen gebaut. Noch davor, im 11. Jahrhundert, hat schräg gegenüber der Insel Mal Grad ein Eremit seine Behausung in eine Felsspalte geschlagen. Eine brüchige Leiter führt hoch in die Höhle, die einst die Kirche St. Evangelismo war. Darüber, nur über Felsen kraxelnd zu erreichen, lag die Wohnung des freiwillig Vereinsamten, und noch einmal höher, 30 Meter über dem Strand, seine Vorratsräume - näher mein Gott zu dir.

Berühmt ist der Prespa-See (Foto rechts) für seine Karpfen. Folgerichtig serviert Frau Miscello in Gorica den Dicken erst in Stücken, frittiert, dann in der Tonschüssel, mit dem Rogen, viel Lorbeer und einer säuerlichen Soße überbacken. Die Pension der Miscellos ist ziemlich neu. Die sauberen Zimmer sind mit Sofakissen und Nippes verziert, halb persönlich, als hätten die eigenen Kinder hier ihr Reich. "So ganz ausschließen können wir das am Ende nicht", knurrt Spase.

Der Tourismus in Albanien zeigt ein eigenartiges Doppelgesicht: Hier ein paar nagelneue, hochmoderne Ferienanlagen, dort die Mehrzahl der einfachen und einfachsten Pensionen und Hotels. Die Zimmer im größten Hotel von Pogradez haben Fernseher - aber abends dauert es eine ganze Weile, bis der Mitarbeiter aufgetrieben wird, der Englisch spricht.

Mazedonien Ohrid Terrasse

Idyllische Terrasse am See

365 Kirchen rund um den See

Mazedonien dagegen versucht entschlossen an die einstige Hochzeit des Tourismus anzuknüpfen. Zwar bedürfen die Hotelklötze der 70er und 80er Jahre in Struga, wo die Badestrände des Ohrid-Sees liegen, dringend einer Auffrischung. Ohrid aber hat etwa mit dem "Sofia" und dem "Millenium" schon zwei hervorragend ausgestattete Hotels, deren freundliches Personal so manches mitteleuropäische Haus aufwerten würde.

Mazdeonien Ohrid hafen

Im Hafen von Ohrid

Ohrid ist, neben Pogradez auf albanischer Seite, so etwas wie ein Oberzentrum am See. Sanft zieht sich das Städtchen um seine Bucht und den Hügel hoch, wo es vom Fort St. Samuel gekrönt wird. Zar Samuel, der mutige Bulgare, erhob sich einst gegen die Osmanen, wurde aber von Feldherr Vasil vernichtend geschlagen. Nur jeder zehnte seiner Männer durfte ein Auge behalten - um die anderen neun, geblendeten Kameraden nachhause zu führen. So avancierte Vasil zum "Bulgarenschlächter" - Geschichten, wie sie der Balkan liebt.

Mazedonien Ohrid Pantalejmon

Sveti Pantalejmon in Ohrid

Ansonsten ist dies ein frommes Gebiet: 365 Kirchen soll es um den Ohrid-See einst gegeben haben. Die am schönsten gelegene ist zweifellos Sveti Jovan Bogoslov auf einer vorgelagerten Felsnase über der Stadt. Klein, kompakt, die Mauerziegel zu schönen Mustern geordnet, thront sie über dem blauen See, auf dem zwei Fischerboote dahingleiten. Zypressen zieren den Hügel, es duftet nach Rosmarin, Eidechsen huschen über den Fels. "13, 17, 18" steht untereinander auf einem Zettel, den die Dame hinter dem Postkartenstand ausländischen Besuchern zeigt. Nein, es ist kein Lottotip - im 13., 17. und 18. Jahrhundert entstanden die Fresken an den Wänden, stellt sich heraus. Als der Besucher zwei Kerzen entzündet, taucht wie von Zauberhand eine Flasche Rakjia auf und das Glas kreist - nicht die schlechteste Art, den Besucher für eine Stadt einzunehmen.

Auf dem Corso des Südens

mazedonien Ohrid BooteÜberall wird in Ohrid gebaut, in alt und in neu. Stein für Stein, Zinne um Zinne wurde die Außenmauer des Kastells wieder errichtet. Im neu erstandenen römischen Theater singen jeden Sommer Balkan-Barden um die Wette, in der jüngst fertiggestellten Kirche St. Pantelejmon heiraten Paare in fast zu perfektem neu-mittelalterlichem Ambiente. Kaum zu glauben, dass an dieser Stelle vor kurzem noch eine alte Ruine stand.

Banken, Boutiquen und Burgerbrater bestimmen das Bild der Innenstadt - und passen durchaus: Alle sind in kleiner, lokal angepasster Ausführung gehalten. Auf dem Markt türmen sich Tomaten, Frösche quaken liebestoll an der Promenade, Schüler marschieren Hand in Hand unter den alten Torbögen hindurch.

Dann wird es Abend, und die Stadt lebt auf. Samstagnacht bebt Ohrid vor Musik und Gelächter, die Fußgängerzone platzt aus den Nähten, man mag kaum glauben, dass ein Ort von 45.000 Einwohnern so viele junge Männer und Frauen aufzubieten vermag. Sie schlendern, telefonieren, flirten, posieren - es ist der Corso, dieses ewige Sehen und Gesehenwerden des Südens. Die jungen Leute von Ohrid sind unterwegs. Wäre schön, es ginge einer erfreulichen Zukunft entgegen. Und der Tourismus trüge einmal seinen Teil dazu bei.

 

Reiseinformationen

Anreise:
Mazedonian Airlines verbindet mehrmals die Woche Skopje mit Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Köln, Hamburg, Hannover, München, Nürnberg und Zürich.
Wer im Gebiet herumreisen will, ist mit dem eigenen PKW besser bedient: Wagen mit deutschem Kennzeichen haben erfahrungsgemäß an den Grenzen die wenigsten Scherereien.

Einreise:
Für Mazedonien und Griechenland genügt der Reisepass. Das Visum für Albanien wird an der Grenze direkt in den Pass gestempelt.

Veranstalter:
Schulz aktiv reisen
Bautzner Str. 39
01099 Dresden-Neustadt
Tel.: 0351 - 266255
Fax: 0351 - 266256
Internet: www.schulz-aktiv-reisen.de

 

Website des Autors: http://www.franz-lerchenmueller.de

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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