Text und Fotos: Elke Sturmhoebel
In dem königsblauen Saroual, der traditionellen, in Falten gelegten Hose, und dem passenden Kittel dazu sieht Brahim aus wie ein Stammesfürst. Den Chech, das lange Tuch, hat er kunstvoll um den Kopf geschlungen. Die braunen Augen des Bergführers blitzen, wenn er den Europäern seine Geschichte erzählt, die sich auch ein Märchenerzähler in Marrakesch auf dem Platz der Gehenkten nicht besser hätte ausdenken können.
Manchmal klingt die Wirklichkeit eben unglaublich: Als Brahim ein kleiner Junge war, führte er jeden Morgen die Schafe und Ziegen seiner Familie auf die Hochweiden der Dadès-Schlucht. Eines Tages kam ein Schakal, tötete zwei Zicklein und riss zwei Mutterschafe. Das Entsetzen war groß. Brahim hatte sich als unfähig erwiesen, auf die Herde acht zu geben. Zur Strafe schickten ihn die Eltern in die Schule. Doch dort erwies sich der Junge als gelehriger Schüler. Er machte Abitur und studierte in Marrakesch Sprachwissenschaften, Englisch und Literatur. Inzwischen beherrscht er fünf Sprachen, und seine Familie ist mächtig stolz auf ihn. Die Sehnsucht nach der Natur zog ihn zurück in die Berge des Hohen Atlas.
So muss er aussehen - ein marokkanischer Bergführer!
Bei dem zehntägigen Trekking durch den Hohen Atlas tragen Maultiere das Gepäck. In Imlil, rund fünfzig Kilometer südlich von Marrakesch, treffen die Wanderer auf die Begleitmannschaft. Das Dorf auf 1740 m Höhe ist Verwaltungszentrum dieser Region im Westteil des Hohen Atlas und während der drei Sommermonate Ausgangs- und Endpunkt vieler Touren. Mulitreiber und Köche werden in Imlil rekrutiert, viele Bergführer stammen von dort, der Toubkal ist nicht weit.
Der höchste Schotterberg der Welt
Für die Mehrzahl der Trekkingtouristen ist der höchste Berg Nordafrikas der Gipfel der Glückseligkeit, entsprechend betriebsam geht es auf dem Gebirgspfad zu. Der Höhepunkt der Tour ist der Toubkal allerdings nicht. Für den 4.167 Meter hohen Koloss - den „höchsten Schotterberg der Welt“, wie Brahim sagt - benötigt man nur eine gute Kondition. Auch die Aussicht ist nicht spektakulär. Angeblich könnte man von dort oben die Wüste sehen. Doch im Sommer verschleiert die Hitze den Blick auf die Ebene, und die mächtigen 3000er ringsum erscheinen durch den Dunst wie in Watte gepackt.
Über Stock und Stein und ...
Eher sind es die kleinen Begebenheiten unterwegs, das tägliche Einerlei, das Auf und Ab des Wanderns durch eine unberührte Gegend, die diese Tour besonders werden lassen. Auf der rund 160 Kilometer langen Strecke läuft man durch Schluchten und oleandergesäumte Bachbetten, es geht über Pässe und ziegenbevölkerte Hochebenen, vorbei an knorrigen Wacholderbäumen, entlang sprudelnder Bewässerungskanäle, über Geröll und rote Erde. Wilde Minze verbreitet ihren betörenden Duft. Manchmal, zwischen erodierten Berghängen, könnte man glauben, einen Mondkrater zu durchschreiten. Dann wiederum, wenn üppig-grüne Oasengärten Bäche und Flüsse flankieren, kommt einem die Landschaft wie ein verwilderter Garten vor. Die Topographie des Hohen Atlas, der sich über achthundert Kilometer quer durch das Land von Agadir bis Algerien zieht, ist voller Kontraste.
... Pfade und Pässe und ...
Jallah, auf geht’s. Trotz schwerer Lasten auf dem Rücken laufen die Maultiere den Wanderern leichtfüßig davon. Auch die Frauen unterwegs sind oft unter ihrer Bürde kaum noch auszumachen. Von weitem wirken sie wie wandelnde Büsche. Ihre Kleidung besteht aus bunter Bluse und geknotetem Rock über der langen Unterhose. An der Art, wie das Kopftuch gebunden ist, kann man erkennen, ob sie verheiratet sind. Alte Frauen tragen manchmal noch eine Tätowierung am Kinn als Zeichen ihrer Stammeszugehörigkeit. Unermüdlich scheinen diese Frauen. Sie waschen Wäsche am Fluss, holen Wasser, sammeln Brennholz, schneiden Grünfutter für das Vieh, verrichten schwere körperliche Arbeit. Und oft singen sie dabei.
... durch karges Gebirge
Wo bleiben die Männer, um mal mit anzupacken? Ein typisches Vorurteil der Touristen sei, die marokkanischen Männer würden vor allem palavern und Wasserpfeife rauchen, verteidigt Brahim sein Geschlecht. In einem Berberdorf habe jeder seine Aufgabe. Die Männer gingen schon bei Sonnenaufgang mit den Tieren auf die Hochweiden, bewässerten in aller Herrgottsfrühe die Felder, und die Wege zu den Wochenmärkten seien oft weit.
Ein großes Tam-Tam
Am Nachmittag ist das Camp für die Wanderer am Fluss erreicht. Die Mannschaft hat das Gepäck schon abgeladen, das Gemeinschaftszelt im Schatten hoher Walnussbäume aufgebaut. Die beiden Köche empfangen die müden Wanderer mit süßem Pfefferminztee, dazu zaubern sie hauchdünne Pfannkuchen mit Süßkartoffelcreme. Mulis streifen umher, rupfen an Disteln und lassen sich die karge Kost auf der Zunge zergehen. Andere scharren schon ungeduldig mit den Hufen und geben Laut. Sechs Handvoll Gerste stehen noch aus. Jeweils morgens und abends wird ihnen ein Säckchen mit Kraftfutter über die Ohren gehängt. Die wertvollen Tiere müssen gut gepflegt werden. Ein kräftiges weibliches Muli kostet bis zu tausend Euro.
Hin und wieder mal ein Dorf
Kinder aus dem nahen Dorf Tizi-n-Ouseem haben sich eingefunden und betrachten verstohlen die Fremden und die vielen Zelte. Schüchtern wirken sie, ganz im Gegensatz zu anderen Kindern, die sich unterwegs für ein Foto anerboten - gegen Honorar natürlich. Manche fragten auch nach Bonbons oder Stiften. Schuld an der Bettelei seien die Touristen, sagt Brahim. Oft verteilten sie Süßigkeiten, Münzen und Kugelschreiber, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen.
Die typische Lehmbauweise
Die neun Mulitreiber und Brahim haben sich zum Tam-Tam aufgestellt. Zu dem Trommeln auf leeren Wasserkanistern und Tamburinen - Bendir in der Sprache der Berber - wird gesungen und getanzt. Dabei bewegen sie sich im Rhythmus aufeinander zu und wieder zurück. Man merkt, dass die Männer Spaß am eigenen Spiel haben, es ist keine Inszenierung für Touristen. Ein wenig erinnert die Musik an das nächtliche monotone Trommeln auf dem Platz Jemaa-el-Fna in Marrakesch, das nur innehält, wenn die Stimme des Muezzins ertönt. Als die Treiber im Camp aufhören, üben sich die umstehenden Dorfkinder im Gesang.
Leben ohne Polizei und Amtspersonen
Maultierpfade verbinden die Bergdörfer, die wie Schwalbennester oberhalb der Flussoasen und Terrassenfelder kleben. Die verschachtelten Häuser sind eng zusammengerückt, um Gärten auf dem fruchtbaren Boden Platz zu lassen. Bis auf 2.100 m Höhe werden hauptsächlich Hartweizen, Mais und Feldfrüchte angebaut. Die Fensterumrandungen der Lehmbauten wurden weiß geschminkt, um Insekten abzuschrecken. In den abgelegenen Berberdörfern gibt es weder Polizei noch andere Amtspersonen. Das Zusammenleben in der Gemeinschaft regelt die Ratsversammlung. Die von den Großfamilien entsandten Abgeordneten entscheiden bei Differenzen über Weiderechte und Bewässerungszeiten, beschließen den Bau einer Straße oder einer Moschee, schlichten aber auch Familien- und Ehestreitigkeiten.
Ausruhen im Dorf
Das Leben in den Dörfern habe sich mit den Trekkinggruppen verändert, sagt Brahim. Früher habe man niemals eine Frau zu Gesicht bekommen, denn die Frauen haben sich vor den Fremden versteckt. Heute kommen die Einheimischen aus dem Haus und schaut leicht bekleideten Europäerinnen hinterher. In Brahims Gruppe sind alle adrett angezogen. Seine Landsleute sollen den Wanderern mit Respekt begegnen können. Daher läuft keiner mit kurzen Hosen durch ein Dorf, er würde sich lächerlich machen.
Gastfreundschaft beim Tee
In Windeseile spricht es sich herum, wenn Touristen kommen, und schon bald begleitet eine Kinderschar die Gruppe durch das Dorf. Die Mädchen sind zumeist etwas forscher darin, Aufmerksamkeit zu erregen. Einige tragen ihr Geschwisterchen auf dem Arm. Manche bringen neuerlernte Vokabeln an. Im Jahr 2002 wurde in Marokko die siebenjährige Schulpflicht eingeführt. Brahim unterstützt dreizehn Nichten und Neffen in seinem Heimatdorf Msemrir, damit sie in die Schule gehen können. Doch viele können sich den Luxus der Bildung nicht leisten. Schulhefte und Bücher müssen selbst bezahlt werden. Und jede Familie hat im Durchschnitt fünf Kinder zu versorgen. Um vor allem Mädchen zum Schulbesuch zu animieren, hat die Regierung kostenlose schicke Schulranzen als Köder zur Verfügung gestellt. Am Nachmittag sind die Erwachsenen aufgefordert, mit Schiefertafel in die Schule zu kommen. Es gilt, die Analphabetenrate von derzeit mehr als vierzig Prozent zu senken.
Von dem 1999 verstorbenen König Hassan II. stammt der Ausspruch "Marokko ist wie ein Baum, dessen Wurzeln in Afrika verankert sind und dessen Blätterkrone bis nach Europa reicht". Tatsächlich ist das Schicksal Marokkos, des "äußersten Westens" (Maghreb al Aksa), aufs engste mit der nur 13 km breiten Straße von Gibraltar verknüpft, die Afrika und Europa einander nahe bringt.
Mehr lesen ...
Alle Fremdenführer langweilen ihre Zuhörer mit Zahlen. Doch Abid Carbi treibt es auf die Spitze: „Es gibt auf der Welt ungefähr 30.000 Buchten. An einer davon liegt Agadir.“ Hellhörig wurde unser Autor Winfried Dulisch erst wieder, als der Guide über die südmarokkanische Tourismus-Metropole am Atlantik sagte: „Agadir hat die modernste Altstadt der Welt.“
Mehr lesen ...
Zauber des Maghreb. Das klingt märchenhaft, verheißungsvoll, sinnlich. So, als wären alle Wege in Marokko mit Abenteuern, fantasiereichen Verführungen und zarten Überraschungen gepflastert. Zauber des Maghreb heißen Studienreisen zu den vier Königsstädten. Der Name weckt Bilder von märchenhaftem Reichtum, genüsslichem Palastleben der Paschas, wo man die Beine hochlegt, sich von Palmwedlern, Mundschenken und verschleierten Schönheiten verwöhnen lässt und Langeweile nie unerträglich wird. Wo man nur an der Kupferlampe reiben muss und alle Wünsche sogleich in Erfüllung gehen.
Mehr lesen ...
Marokkos drittgrößte Stadt Fes beherbergt eine der größten arabischen Altstädte der Welt: ein Gewirr aus bis zu 1000 Jahre alten Gassen auf rund sechs mal drei Kilometern. Verkehrs- und Transportmittel sind Handkarren und Lastesel. Für Autos sind die Wege zu schmal. Bewohner und Staat haben nicht genug Geld, um die baufälligen Häuser zu sanieren. Trotz Stützmauern und anderer Rettungsversuche stürzen immer wieder Gebäude ein. Die Fundamente ziehen Wasser. Die alten Dächer werden undicht. Die wahre Schönheit der Medina erschließt sich jenseits der schlichten, grau-beigefarbenen Mauern, die man von den Gassen aus sieht. Prachtvolle Innenhöfe, so genannte Rijads, verziert mit uralten Mosaiken, Brunnen und Holzschnitzereien erinnern an die Zeit, als Fes das geistige und religiöse Zentrum Marokkos war.
Mehr lesen ...