Bibliotheken statt Bomben

Medellin: Von der gefährlichsten zur innovativsten Stadt der Welt

Text und Fotos: Rainer Heubeck

Kolumbien - Medellin

Es ist mein zweiter Abend in Medellín, und schon ist es passiert: die Mündung einer Pistole zielt aus etwa eineinhalb Meter Entfernung direkt auf mein Gesicht. Was nun? Ich öffne den Mund, und aus der Öffnung des Gewehrs schießt ein lang andauernder Strahl mit transparenter Flüssigkeit direkt in meinen Mund. Die Flüssigkeit, die aus einer voluminösen gelb-grünen Plastikspritzpistole kommt, sieht aus wie Wasser, ist aber Aguardiente, ein leichter kolumbianischer Schnaps aus Anis und Zuckerrohr, der heute in der Discothek Blue im Stadtviertel Poblado mit Spritzpistolen an die Gäste verteilt wird. „Abre la boca“, öffne den Mund, so lautet der Name des Spektakels. Ich hatte eigentlich vermutet, es wäre der Name einer Liveband, egal, die Stimmung passt.

Kolumbien - Medellin

Wer Medellín, die Hauptstadt des kolumbianischen Bundesstaats Antioquia, besuchen will, sollte tunlichst ein Wochenende in der Metropole mit einplanen. Denn dann zeigt sich, dass die Paisas, so nennt man die Bewohner der Region, überaus lebenslustig, ja zum Teil regelrecht feierwütig sind. Vielleicht, weil es in ihrer Natur liegt, vielleicht auch, weil sie einiges nachzuholen haben. „In den 80er und Anfang der 90er Jahren traute sich hier abends niemand auf die Straße, alle hatten Angst“, erinnert sich Paula, eine Einheimische, die in der Zeit aufwuchs, in der Medellín vor allem durch Drogenkriege Schlagzeilen machte und als gefährlichste Stadt der Welt galt. Pablo Escobar, der grausame Chef des Medellín-Kartells, war zeitweise einer der zehn reichsten Menschen der Erde, der Multimilliardär bot sogar an, die komplette Auslandsschuld Kolumbiens zu begleichen.

Kolumbien - letztes Versteck des Drogenkartellchefs Pablo Escobar in Medellin

Wenn er oder seine Gangsterkumpanen etwas wollten, gab es meist nur zwei Möglichkeiten – plata oder plomo, Geld oder eine Kugel. Irgendwann freilich trafen auch Pablo Escobar einige Kugeln, das Haus, auf dessen Flachdach er starb, als sein Versteck am 2. Dezember 1993 von Spezialeinheiten gestürmt wurde, ist heute ein „must see“ für Teilnehmer einer Pablo Escobar-Tour. „Als Pablo Escobar starb, war Medellín wie eine Geisterstadt, keiner traute sich aus dem Haus, aber an Weihnachten danach, da wurde gefeiert wie nie zuvor“, berichtet Juliana, die in Medellín aufgewachsen ist.

Kolumbien - Bild von Escobar Muerte im Museo de Antioquia in Medellin

Wie man sich den toten Patron auf dem Dach liegend vorstellen kann, das hat ein anderer berühmter Paisa auf einem Gemälde dargestellt, das heute im Museo de Antioquia zu sehen ist: „Escobar Muerte“, gemalt von Fernando Botero im Jahr 2006. Der ehedem in Medellín beheimatete Künstler Botero hat zahlreiche Gemälde und Skulpturen geschaffen – und rund zwei Dutzend der Plastiken, die er der Stadt Medellín geschenkt hat, finden sich nun auf dem Plazoleta de las Esculturas, zwischen Verkäufern von Wundermitteln aus Coca und Marihuana, die Hautkrankheiten und andere Gebrechen lindern sollen, zwischen Feuer- und Schwertschluckern, zwischen umherziehenden Saft- und Kaffeeverkäufern, umgeben von Liebespärchen und Müttern mit Kindern. Boteros meist überlebensgroßen Bronzestatuen zeigen u. a. Menschen, Hunde, Fabelwesen und Pferde. Einige weitere Botero-Figuren finden sich auf der Plaza San Antonio, darunter zwei Vögel, einer demoliert, der andere komplett. Der zerstörte Vogel war ein Kollateralschaden bei einem Bombenanschlag im Jahr 1995, bei dem mehr als zwanzig Menschen getötet wurden. Zu dieser Zeit war das in Medellín leider normal.

Kolumbien - Medellin - Feuerschlucker auf dem Plazoleta de las Esculturas

Seine Figuren, so meinte Fernando Botero einst, seien nicht dick, sie seien lediglich außergewöhnlich proportioniert. Wobei Boteros Rubensstil durchaus mit den kolumbianischen Schönheitsidealen kompatibel zu sein scheint, denn zahlreiche Schönheitskliniken leben in Medellín gut davon, Brüste und Hinterteile mehr oder weniger fachmännisch zu vergrößern. Apropos Schönheit, Medellín ist von der Hauptstadt der Drogen mittlerweile zu einer Hauptstadt der Mode mutiert: Zur „Colombiamoda“, die jedes Jahr im Juli stattfindet, strömen rund 1800 Einkäufer aus circa 35 Ländern. Die Modemesse und -schau, die seit über 25 Jahren in Medellín durchgeführt wird, ist die bedeutendste ihrer Art in Kolumbien – und bekannt dafür, dass dort oft sehr freizügige Kreationen präsentiert werden. Keine Frage: Medellín ist angesagt und sexy, spätestens, seit das Wall Street Journal und das Urban Land Institute die zweitgrößte Stadt Kolumbiens im Jahr 2013 zur innovativsten Stadt der Welt gekürt haben.

Kolumbien - Botero-Figur auf dem Plazoleta de las Esculturas

Daran haben Sergio Fajardo und Alonso Salazar, die beiden Bürgermeister, die Medellín in der Zeit von 2004 bis 2011 prägten, gravierenden Anteil. Sie verfolgten eine Leuchtturm-Strategie: Stadtgebiete und Nachbarschaften, beispielsweise Plätze in der Innenstadt, die von Kriminalität, Prostitution und Obdachlosigkeit geprägt waren, und Außenbezirke, die von Drogengangs dominiert waren, wurden gezielt umgebaut und aufgewertet. Urbane Akupunktur nannten sie dies. Unterstützt wurden sie von Alejandro Echeverri, einem engagierten Stadtplaner, der sich am Revival Barcelonas in den 90er Jahren ein Beispiel genommen hatte.

Kolumbien - Lichterwald aus Laternen in Medellin

Ein Ausdruck dieser Mischung aus demokratischer Architektur und sozialer Urbanität ist der Lichterwald, der aus rund 300 über zwanzig Meter hohen Laternen besteht, die am Cisneros-Platz aufgestellt wurden. Aus einem der dunkelsten und gefährlichsten Plätze Medellíns wurde ein Ort des Lichts und der Hoffnung. Architektonische Ausrufezeichen finden sich auch in den Außenbezirken, beispielsweise in der Comuna 13, in der eine insgesamt knapp 350 Meter lange Rolltreppe gebaut wurde, die in sechs Abschnitte unterteilt ist. Diese verschafft den dort lebenden Menschen einen besseren Zugang zu den Verkehrsverbindungen Richtung Stadtzentrum. Oder im Viertel „Santo Domingo Parque Biblioteca España“. Dorthin nimmt man am besten die Seilbahn. Diese Metrocable wurde 2004 gebaut, ihre Benutzung ist im Metro-Ticket, das 2000 Peso kostet (0,80 Cent), inklusive. Wer an der Station Acevedo startet, kann den Bewohnern Medellíns zwar nicht aufs Dach spucken, denn die Kabinen sind geschlossen, aber zumindest aufs Dach blicken – auf Dachterrassen, auf denen Wäsche zum Trockenen aufgehängt ist oder Regenwasser gesammelt wird, aber auch auf armselige Wellblechdächer, die mit Steinen beschwert sind.

Kolumbien - Seilbahn in Medellin

„Früher gab es zwischen diesem Viertel und dem Nachbarviertel häufig Ärger, die von dort unten wollten Drogen hier verkaufen, unsere Gangs wollten Drogen dort verkaufen. Inzwischen hat sich das gewandelt, Kriminalität und Gewalt haben aufgehört“, berichtet ein etwa 12-jähriger Junge, der seine Schulpause nahe des Parque Biblioteca España verbringt. Die Spanische Bibliothek ist einer von fünf Bibliothekskomplexen, die zwischen 2005 und 2008 errichtet wurden. Ich bin neugierig – ist das nur ein Aushängeschild oder lebt die Einrichtung? Beim Streifzug durch die Gänge wird schnell klar – vor allem die Computerräume in der Bibliothek sind gut besucht und fast bis zum letzten Platz gefüllt. Die Spanische Bibliothek hat der Italiener Giancarlo Mazzanti, ihr Architekt, ganz in schwarz gehalten. Fast so, als wollte er einen Gegenakzent setzen zum Architekturstil, den die Kokainmafia in den 70er und 80er Jahren kreiert hat – das Monaco Building, in dem Pablo Escobar wohnte und das Ovni- Gebäude, eine zweitweilige Zentrale des Medellín-Kartells, waren bewusst in weiß gehalten, einer für Medellín eher ungewöhnlichen Farbe, denn hier dominiert Backstein.

Kolumbien - Parque Biblioteca España in Medellin

Die Bibliotheken, die Seilbahnverbindungen und die Rolltreppen haben Medellín zu einem Sprung nach vorne verholfen. In der Stadt herrscht Aufbruchstimmung – und auch die Urlauber, die ich hier treffe, sind durchweg begeistert. „Es ist eine tolle Stadt, wir haben uns keinen Moment unsicher gefühlt“, berichtet ein junges Pärchen aus Süddeutschland, das in einem Hostal im Stadtteil Poblado untergekommen ist. In diesem Viertel findet sich die „Zona Rosa“, eine der Hauptausgehzonen der Stadt, mit Discotheken, Open-Air-Bars, Clubs, Restaurants und Mikrobrauereien. Im Parque Lleras treffen sich Flaneure und Artisten und zahlreiche Jugendliche und Junggebliebene, die sich an Kiosken mit günstigen Getränken versorgen, insbesondere mit Aguilla- und Club Colombia-Bier, aber auch mit Aguardiente.

Kolumbien - Medellin Beer Factory im Stadtteil Poblado

An Bäumen in den Seitenstraßen funkeln rote, grüne und gelbe Lichterketten, die teilweise girlandenförmig um die Bäume gewickelt worden sind, sich zum Teil aber auch schnurgerade wie ein Band an den Stämmen hochziehen. In der Zona Rosa gibt es hippe und moderne Läden ebenso wie Lokalitäten, die eher rustikal wirken. Vor der Bar „La 39 del Lleras“ hängt ein Schild, das aus fünf dunklen Holzbrettern besteht. Darauf steht in weißen Buchstaben: „Some people look for a beautiful place. Others make a place beautiful.“ Genau das ist in Medellín in den letzten zwölf Jahren passiert! Und es ist keineswegs nur eine fixe Idee des Bürgermeisters, sondern wird von den Menschen gelebt. „Wir sind stolz auf das, was unsere Stadt erreicht hat, das beginnt schon mit unserer Metro, die bereits kurz nach dem Tod Pablo Escobars gebaut wurde. Schau sie dir an, du wirst nirgends Vandalismus oder Gekritzel finden“, berichtet Stadtführerin Juliana.

Kolumbien - im Stadtteil Poblado in Medellin

Neben der Zona Rosa rund um den Parque Lleras gibt es noch weitere Ausgehviertel, die sich vor allem am Wochenende lohnen, die „Calle 33“ und die „Carrera 70“ sind die bekanntesten davon. Mir hat man im Hotel eine Musikbar empfohlen, die den Namen
Dulce Jesús Mío trägt („Oh mein süßer Jesus“). Die beeindruckend große Mischung aus Bar und Discothek, deren Decken und Wände mit Spielzeugautos, Dreirädern, Puppen und vielerlei anderen Spielwaren dekoriert sind, ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Bedient werden die Besucher, die meisten davon sind bereits über vierzig, von Clowns und Superhelden. Eine leicht albern wirkende Mischung aus Kinderfasching und Zirkus, doch die Stimmung ist prächtig. Wer seine Kindheit im Medellín der 80er Jahre verbracht hat, der erlebte in dieser Zeit einen Albtraum. Vielleicht holt man deshalb heute, im neuen, modernen, schicken, urbanen, innovativen Medellín, seine glückliche Kindheit ganz einfach nach.

Kolumbien - Musikbar Dulce Jesús Mío in Medellin

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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