Die Steppe blüht
Zarylkan muss, als sie jung war, eine wunderschöne, energische Frau
gewesen sein. Auch jetzt, den Enkel im Arm, leuchten ihre Augen noch wie
schwarzes Licht. Aber ihr Gesicht ist müde, ihre Stimme klingt resigniert.
In Dscheti-Ögus, einem der anderen Camps, lädt sie uns in ihre
Jurte ein und stellt Brot auf den Tisch. Über dem Ofen trocknen gefüllte
Klöße, die Fibel für die Enkelin stammt noch aus der Sowjetzeit.
Das Leben ist bitter geworden. Ob sich irgendetwas verbessert hätte
seit der Unabhängigkeit? Zarylkan denkt lange nach. Ja: Es gibt mehr
ausländische Besucher in Kyrgysstan. Die Welt, glaubt sie, weiß mehr über
das Land.
Vielleicht ist sie auch nur höflich.
Die Camps um den Issyk-Kul liegen 200, 300 Kilometer voneinander entfernt, in ganz verschiedenen Klima- und Vegetationszonen. Die Gegend um Dscheti-Ögus etwa erinnert an das Allgäu: Dunkle Fichtenwälder wechseln mit weiten Bergwiesen, auf denen Iris, wilde Stiefmütterchen und büschelweise Edelweiß blühen. In Ak-Sai dagegen, an der Südküste des Sees, wirkt die Welt, als habe sie eben erst zu sich selbst gefunden: Auf ockerfarbenen, kahlen Hügelketten und weiten Steinwüsten darben Disteln und recken hässliche Parasitenpflanzen ihre schwarzen Kolben aus dem Sand.
In Son-Kul wiederum, auf 3000 Meter Höhe, blüht die Steppe. Lärchen jubilieren, Schneehühner ducken sich in die Wermutbüsche, Zitronenstelzen wippen keck mit dem Schwanz: Erfahrene Ornithologen beobachten und bestimmen in zehn Tagen schon mal 130 der insgesamt 330 verschiedenen Vogelarten Kyrgysstans.
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