Wilde Reiterspiele
Tuem bildet da eine Ausnahme. Jede Woche kommt der 73-jährige, ein Dschingis Khan in reifen Jahren, aus dem Dorf hochgeritten, spuckt ein paarmal entschlossen aus, streift den prächtigen golddurchwirkten Mantel, den "Tschepken" über und lässt seinen Adler auf den dicken Lederhandschuh hüpfen. Dann stellt er sich in Positur. Er ist Beizjäger seit seiner Jugend. In diesen Wochen freilich haben Murmeltiere, Füchse und Wölfe Ruhe: Es ist Schonzeit, den Gästen bleibt somit nur das Foto: "Ich mit Adler und Tuem". Der jedem den Arm gleich freundschaftlich um die Schulter legt.
Nicht ganz zufällig findet sich an diesem Nachmittag auch die Landjugend des Dorfes in der Siedlung ein. Es gibt keinen Anlass für Reiterspiele - außer der Anwesenheit von ein paar Journalisten. Auf der weiten Ebene zeigen die jungen Männer und Frauen, was abgeht in Kyrgysstan, wenn einmal richtig gefeiert wird, und wozu einheimische Reiter wirklich imstande sind. Hoch zu Ross hauen sie sich Strohsäcke um die Ohren, ringen, nackt bis zum Gürtel, von Sattel zu Sattel, greifen in fliegendem Galopp nach Münzen am Boden. Jungs verfolgen Mädchen und küssen sie. Schaffen sie es nicht, kriegen sie auf dem Rückweg von ihnen die Peitsche. Hinterher klopfen sie sich sorgfältig die Sonntagshosen aus. Zum Tauziehen und den Kämpfen auf menschlichen Pferden werden auch die Europäer eingeladen. Und gehen unter gegen die stämmigen Muskelmänner, deren Nationalsport nicht umsonst - Ringen ist.
Es wird viel gelacht an diesem Nachmittag, es herrscht eine Stimmung unkomplizierter Fröhlichkeit. Ferienstunden von einem Alltag, der für viele Kirgisen inzwischen recht grau ist. Als 1991 aus der Sozialistischen Sowjetrepublik Kirgisien die Unabhängige Republik Kyrgysstan wurde, und aus der Hauptstadt Frunse Bishkek, löste man die großen Kolchosen auf und viele Menschen verloren ihre Arbeit. Auch der regionale Tourismus, der einst jedes Jahr eine Million Touristen an den Issyk-Kul geschwemmt hatte, ging nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drastisch zurück. Am Nordufer des Sees ragen zwischen Erholungsheimen und Ferienlagern, die bessere Zeiten gesehen haben, die Bauruinen der Hotels hoch. Der kirgisische Staat hat kein Geld. Seine Angestellten warten seit einem halben Jahr auf ihr Gehalt.
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