Der Wettergott vom Wolkenfelsen

Wandern auf Gran Canaria wird nie langweilig

Text und Fotos: Franz Lerchenmüller

Der Tag, als der Regen kam, liegt noch nicht mal eine Woche zurück. Und es geht schon wieder los: Genau in dem Moment, als die Wanderer ihre Rucksäcke schultern, zeigen die grauen Passatwolken, was in ihnen steckt: Wasser trommelt und prasselt ganz plötzlich herunter, als hätte ein missgünstiger Wettergott mit einer tiefsitzenden Abneigung gegen Fußgänger nur auf diesen Augenblick gewartet. Doch so abrupt, wie der Regen begann, hört er auch wieder auf. Der Weg in die Caldera de Bandama ist frei.

Spanien Gran Canaria Aussichtspunkt

Angenehm warm ist es am Grund, 240 Meter weiter unten. Einst standen hier, auf einem Rondell von vielleicht 500 Metern Durchmesser, mehrere Höfe. Zerfallene Mauern, ein gepflasterter Dreschplatz und die verwitterten Balken einer Traubenpresse zeugen davon. Jetzt wohnt, wie fast jeder Reiseführer zu berichten weiß, hier nur noch Senor Augustin. Doch Senor Augustin blickt heute so unwirsch über seinen Kartoffelacker herüber, dass man von einem Besuch lieber absieht.

Spanien Gran Canaria Mirador Unamuno

Blick vom Mirador Unamono

Es bleibt bei einem Spaziergang zwischen Aloen, Wermut und Aeonien, einer Begegnung mit einem anhänglichen Esel, einem ersten Sich-Beschnuppern der Wanderer selbst. Neun sind sie, Männer und Frauen zwischen 30 und 50 aus der ganzen Bundesrepublik: Ein Postbote, zwei Sozialarbeiterinnen, ein Personalchef, zwei Bankangestellte, ein Ingenieur, ein Reiseführer und ein Journalist - eine Mischung, die interdisziplinäre Gespräche garantiert.

Der Wolkenbruch hat zahlreiche Golfbälle vom darüber liegenden 18-Loch-Platz heruntergeschwemmt. "Da müsst Ihr suchen", rät der Personalchef den vier Damen und zeigt nach oben, "wenn Ihr etwas Hochkarätiges angeln wollt." Die aber verbleiben freiwillig in der Gesellschaft der Kerle mit den klobigen Schuhen - und alle nehmen das als gutes Omen.

Auf Maultierpfaden unterwegs

Gran Canaria, das ist nicht nur der Schweden-, Briten- und Teutonengrill im Atlantik, 200 Kilometer westlich von Afrika. Dieser fast kreisrunde, tief gefurchte Felsen von rund 50 Kilometern Durchmesser, der in einer steinernen Warze von knapp 2000 Meter Höhe gipfelt, stellt auch ein hervorragendes Wandergebiet dar. Für den Handel erschlossen wurde die Insel einst durch die Camino Reales, ein Netz befestigter Maultierwege. Auf ihnen verlaufen auch die heutigen Wanderwege noch zum Teil. Das Inselinnere ist zudem weitgehend frei von Touristenmassen - sieht man von den bekannten Busausflugszielen ab.

Spanien Garn Canaria

Valle de Agaete

Und dort, im Inneren, hat die Gruppe auch ihren Standort. Hotel "Cantonera" liegt in Vega de San Mateo, einem ruhigen Örtchen auf 840 Meter Höhe im Nordosten. Das Landhotel ist das, was man "rustikal" nennt, mit alten Balken, offenen Mauern und einem schönen Innenhof - und einem eigenen kleinen Bauernmuseum. Die Betten haben typische schmiedeeiserne Gestelle, aber Jacuzzi und Sauna sorgen für einen angenehmen Hauch von Luxus.

In Taxis geht es jeden Morgen über serpentinenreiche, eukalyptusbestandene Straßen zu den Ausgangspunkten der Wanderungen - wobei Manolo, Juan-Luis und Pepe gelegentlich etwas ratlos den Kopf schütteln, wenn ihre Fahrgäste darauf bestehen, selbst im dichtesten Nebel am Cruz de Tejeda abgesetzt zu werden. Aber die sind nun einmal hier, das Land kennen zu lernen. Und das erweist sich als geradezu erstaunlich abwechslungsreich.

Spanien Gran Canaria Kaktus

Stachelige Flora

So wird etwa der Weg zwischen Vallesecos und Teror zu einer Tour durch die Pflanzenwelt der Insel: Wo einmal dunkelgrüne Lorbeerwälder raschelten, erstreckt sich jetzt Hang für Hang ein Puzzle aus Grün: Aus dem staubigen Schmutzgrün des Ginsters leuchten die grüngelben Flecken der Kastanien, schilffarben ragt Fahlrohr hervor, dazwischen starren die türkisen Schwerter der Agaven und die aufeinander gesteckten Ohren der Opuntien. Ulmen mit verwitterter Borke gedeihen hier noch, Zitronenhaine gibt es, und Feigen. Der Ingenieur flucht, weil ihn die Stacheln eines Feigenkaktus quälen. Der Postbote sammelt Zapfen, Ableger und Samen für sein kleines Gran Canaria auf der Fensterbank zuhause.

Das schönste Panorama der Insel

Den Abschluss findet der Tag in Teror. Das Städtchen ist bekannt für seine fein gedrechselten Holzbalkone, für Mandeltörtchen, Apfelschnitten und rosafarbene Streichwurst auf dem Sonntagsmarkt, sowie für die "Jungfrau von der Kiefer" in der Basilika. Selbstvergessen rutscht hier eine Schöne, die den Titel jedes Modejournals zieren würde, auf Knien im steinernen Mittelgang vor zur Madonna.

Spanien Gran Canaria Cruz de Tejada

Cruz de Tejada

Start der meisten Wanderungen ist das Cruz de Tejeda, wo Straßen aus allen Himmelsrichtungen aufeinandertreffen. Ein strahlend blauer Himmel wölbt sich am nächsten Tag über dem felsigen Höhenweg nach Artenara - der Griesgram in der himmlischen Klimazentrale scheint unaufmerksam geworden zu sein. Landarbeiter sind dabei, die Hügel mit Nuss-, Kastanien- und Gagelbäumen aufzuforsten. Für einen Imbiss haben sie keine Zeit, vielleicht auch keinen Appetit auf diese ganz besondere Wandererkost: Haferkekse, scharfe Chorizo, Pistazien, Löffelbisquits - jeder hat sein ganz spezielles Rezept für Kraftnahrung - oder das, was er dafür hält.

Spanien Gran Canaria Roque Nublo

Am Fuß des Roque Nublo

Artenara, ein Schmuckstück von Dorf, wird überragt von einem Monster von Beton-Christus. Früher haben die Bewohner in natürlichen Höhlen Viehställe und Wohnungen angelegt. Heute treiben sie künstliche Stollen in den Fels, setzen ein Häuschen davor und verkaufen das Ensemble als Ferienwohnung.

Ganz sicher aber hat Artenara das schönste Panorama der Insel: Den Blick über die Hochebene Vega de Acusa. Eine Abfolge natürlicher Burgen aus zackigem, schrundigem Fels krönt die umliegenden Gipfel. Bäume säumen Hügelkämme wie eine nicht endende Karawane, Ginsterbüsche noppen die braunen Hänge, Wege schlängeln sich zwischen Kiefern hindurch wie Schnürsenkel. Man erwartet Pilgerzüge, fahrende Händler, Ritter mit ihrem Tross. Und man möchte dem schweigsamen Nachbarn mit dem gepflegtem Knebelbart auf die bronzene Schulter klopfen und sagen: "Ganz recht, Don Miguel de Unamuno, Ihr habt es getroffen. Ein 'versteinertes Gewitter' - nichts anderes ist das da unten".

Zauber im Nebel

Ruhiges Steigen, schweigsames Gehen, konzentriertes Schauen auf allen Wanderungen. Dazwischen aber viel Lachen und ernstes Plaudern: Über Javier Marias geht es, das Kreditgebaren von Großbanken, den Weinanbau in Franken. Schlagzeugspielen, Frauenfußball, Digitalfotografie, die Geheimnisse der Schafzucht, das Preis-Leistungs-Verhältnis in Altersheimen - die Liste der Themen scheint unerschöpflich. Und immer wieder empfiehlt man sich Reiseziele. Die Wanderer sind herumgekommen, sie brauchen im Ausland kein Kindermädchen. Aber sie schätzen diesmal den Luxus, keinen Gedanken an Organisationsfragen verschwenden zu müssen und sich einfach einem Führer anvertrauen zu können, der in der Botanik sehr bewandert ist und sich auch im Nebel kein einziges Mal verläuft.

Spanien Gran Canaria Nebelwanderung

Nebel im Zauberwald

"War Christo da?", fragt die eine Sozialarbeiterin, angesichts der riesigen, in Plastikfolie verpackten Bananenplantagen um Agaete. Beim Einmarsch in das Valle de la Agaete ist der Wettergott wieder auf dem Posten: Es nieselt auf die Gärten mit Kürbis und Bohnen, es regnet, dann setzt der Nebel ein. Wanderer sind wetterfest, aber die rutschigen Felsplatten erfordern höchste Aufmerksamkeit. Allgemeine Erleichterung, als das Hochplateau mit dem Kiefernwald von Tamadaba erreicht ist. Kiefern sind ungeheuer wichtig für den Wasserhaushalt der Insel: "Zapfen" sie doch mit ihren langen Nadeln die Wolken an und leiten die Tröpfchen zur Erde. Voller Respekt adelt die Kreditspezialistin den Baum unmittelbar zur "gemeinen kanarischen Melkkiefer".

Spanien Gran Canaria Regentag

Der Wettergott ist nicht immer gnädig

Immer dichter wird der Nebel, immer phantastischer der Wald. Wie neonfarbenes Gespinst hängen Flechten von den Bäumen, von grünlichen Greisenbärten trieft und tropft es, Fetzen zerrissenener Schleier sind zwischen die rostbraunen Farne zu Boden geweht. "Gleich tritt der kleine Hobbit auf", flüstert der Postbote. Dann spricht niemand mehr, der Weg durch den Wald wird zu einer Art gemeinsamer Meditation. Und es scheint, dass der missmutige Alte an den meteorologischen Schalthebeln den Wanderern ganz ungewollt einen Gefallen erwies: Diese Landschaft muss man im Nebel erleben, um ihren ganzen Zauber zu erschließen.

Ein letzter Aufstieg

Die rund 30 Kilometer Fußmarsch an diesem Tag stellen auch den Personalchef zufrieden, der sich "endlich mal richtig auslaufen" wollte. Und sie machen Hunger. Aber auch an diesem Abend schafft es José im Hotel, seine müden Helden mit kanarischer Hausmannskost wieder aufzupäppeln. Runzelkartoffeln, Kichererbseneintopf, Gofjo-Brei, Zicklein - auch diesmal übersteigen die Portionen das Fassungsvermögen der meisten. Noch ein Cognac, eine Zigarre, ein wenig Tarotkartenlegen auf Kanal 6, oder kanarisches Ringen - der Tag geht früh zu Ende, und niemand hat etwas dagegen.

Spanien Gran Canaria Artenara

Das Dörfchen Artenara

Zwischendurch, man will auch einmal andere Nasen sehen, eine Busfahrt nach Las Palmas. Jeder zieht auf eigene Faust los - und fast alle treffen sich unabgesprochen nachmittags zu Tapas im "El Herreno" - keine Zauberei: man hat denselben Reiseführer. Und schon wieder beginnt das Erzählen: Vom Bläserorchester, das Swing auf der Plaza Santa Ana spielte, wobei Schulklassen zum Zuhören verdonnert waren. Vom Fremdenführer, der im Aufzug zum Turm der Kathedrale den Bau als "ein bisschen Katastrophe" bezeichnete, weil seit Baubeginn vor 500 Jahren einfach zu viele an ihm herumgepfuscht haben. Von den Hunderten von Schädeln in den Vitrinen des Museo Canario, und den Mumien, eingespannt in Bast und Leder, ein eigenartiges Memento Mori.

Spanien Gran Canaria Keramik

Auch Wanderer mögen Kunsthandwerk

Aber Wanderer brauchen vor allem eins: Bewegung. Und da wartet noch der Roque Nublo, das Wahrzeichen der Insel. Der Wettergott scheint wieder auf dem Quivive: Fast fegt der Sturm die Gehenden über einen kahlen Sattel in die Tiefe. Doch dann dringen erste Sonnenstrahlen durch und schneiden weiß leuchtende Dörfer aus dem eisigen Grau. Nebelfetzen jagen aus dem Tal, die rötliche Steinsäule des "Wolkenfelsen" taucht aus der grauen Watte und verlässt die Wanderer nicht mehr, bis sie den Grat um den Kessel umrundet haben. Ein letzter Aufstieg, eine bloßgebürstete steinerne Ebene, und dann ragt er direkt vor ihnen auf, der 80 Meter hohe Zapfen aus erstarrtem Magma, steht da wie der Daumen eines Riesen - alles, was von ihm übrig blieb.

Spanien Gran Canaria Flora

Ein letzter Blick übers Gebirge

Und während die Wanderer die Rucksäcke ablegen, der Personalchef schon wieder in den Fels steigt, die Sozialarbeiterinnen getrocknete Feigen herumreichen, die Damen von der Bank Kleiderordnungen vergleichen, der Ingenieur in seinem Führer blättert, der Guide dem Postboten ein Dickblattgewächs erklärt, schließt der Journalist die Augen und sieht es genau vor sich: Wie der Alte in der Wetterzentrale sich im Sessel zurücklehnt, ein anerkennendes "Zähe Burschen, das - und toughe Frauen!" zwischen den Zähnen hervorknurrt, ganz leise schmunzelt - und die Höhensonne noch ein wenig aufdreht.

 

Website des Autors: http://www.franz-lerchenmueller.de

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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