REIHE UNTERWEGS

Alles außer Herzkirschen

Essen und Trinken im westlichen Piemont

Text und Fotos: Winfried Dulisch

Du musst jetzt ganz tapfer sein, mein Liebling. Die Piemont-Herzkirsche wächst im Schwarzwald, sie wird in Bulgarien oder in einem anderen Billiglohn-Land entkernt, anschließend zurück nach Deutschland gekarrt, zu einer Schnaps-Praline verarbeitet und in rotes Glanzpapier gewickelt. – Und warum besuchen die Gourmets so gerne das Varaita-Tal im westlichen Piemont? – Winfried Dulisch fand im Valle Varaita darauf viele schmackhafte Antworten, aber keine Kirschen.

Essen und Trinken im westlichen Piemont

Wer ein sorgfältig zubereitetes Menü mit allen fünf Sinnen genießen und den Abend in angenehmer Atmosphäre verplaudern möchte, wagt sich hierzulande kaum noch in ein italienisches Restaurant. Das Geplärre der dort installierten Musik-Anlagen blockiert rücksichtslos die Genuss-Bereitschaft. So richtig mit allen fünf Sinnen einen Abend beim Italiener kann man eigentlich nur genießen in Italien. Vor allem im norditalienischen Piemont.

Zur italienischen Esskultur gehört das Reden und Gestikulieren. Und das Miteinander-Singen. Im Varita-Tal müssen sangesfreudige Gäste den Kellner nicht lange bitten, er möge das Radio abschalten. Denn jegliche Musik-Berieselung, welche die angeblich so wichtigen Gespräche vom Nachbartisch übertönen soll, wird in dieser Region am südöstlichen Alpenrand sehr maßvoll eingesetzt.

Chorgesang als Vorspeise

Bereits vor dem ersten Menügang wird gerne gesungen. Das hierfür verwendete Repertoire erinnert an die herzerweichend wehmütigen Chorlieder aus den 400 Kilometer weiter östlich gelegenen Südtiroler Dolomiten. Als Würze fügen die Sänger noch gerne ein paar Zitate aus den vergnügten Trallalero-Gesängen hinzu, wie sie 200 Kilometer weiter südlich in Genua zu hören sind. Die Sprache, in der Bewohner des Valle Varaita ihre Lieder singen, ist jenes Okzitanisch, das auch auf der anderen Seite der italienisch-französischen Grenze gesprochen wird.

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Ghironda-Spielerin Gabriella Brun

Und an besonderen Feiertagen spielt oft dazu eine Ghironda. Die bereits von den mittelalterlichen Troubadouren verwendete Drehleier wurde seit den 1920er-Jahren im Piemont nur noch von eingefleischten Folkloristen gespielt. Doch weil die Menschen im okzitanischen Kulturraum heute wieder mit Stolz ihre Sprache und Musik pflegen, feiert die Ghironde seit den 70ern ihr Revival im französischen und italienischen Alpenraum.

Und auch die okzitanische Küche erlebt ein Comeback. Eine Spezialität aus Okzitanien ist die Kastanien-Suppe. Und natürlich die im gesamten Piemont verbreiteten Reisgerichte – vom deftig würzigen Risotto bis zu dessert-süßen Reispudding-Variationen. Ausschließlich im Valle Varaita auf den Tisch kommen die Ravioles – eine längliche Version der aus Kartoffelteig zubereiteten Gnocchi, die wir beim Italiener an der Ecke meist nur als kleine Kugeln auf der Speisekarte stehen.

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Ravioles – frisch zubereitet im Laboratorio Gastronomico

Das Laboratorio Gastronomico – deutsch: Gastronomische Werkstatt – in Frassino versorgt Restaurants zwischen Mailand und der französischen Grenze mit Ravioles und 30 weiteren Pasta-Produkten. Zum Beispiel mit Agnolotti, die wir als Ravioli kennen. Oder Pappardelle, jene breiten Nudeln für Italo-Fans, denen die Spaghetti zum Hals raushängt. Als Pastaio – deutsch: Nudelmaschinist – überwacht Massimo Fornero die Pasta-Produktion im Laboratorio Gastronomico.

An den Wochenenden repariert der Pastaio seine Maschinen, die zu leiden haben unter Mehlstaub, Feuchtigkeit und verschiedenen Füllmaterialien. Massimo Fornero: „Unsere Kastanien- und Brennnessel-Gnocchi liefern wir vor allem an Gastronomiebetriebe in den norditalienischen Großstädten.“ Außerdem werden Produkte seiner Nudel-Werkstatt in Feinkostläden in London, Luxemburg und Dänemark angeboten. Einer weiteren Expansion sind natürliche Grenzen gesetzt: die Frischnudeln sind nur 20 Tage haltbar.

Essen und Trinken im westlichen Piemont

Qualitätskontrolle am Pasta-Fließband

Massimo Fornero: „Unsere Pasta-Produkte werden nicht getrocknet, sondern allein durch Pasteurisierung haltbar gemacht. Dafür werden sie zuerst auf 100 Grad erhitzt, danach auf minus zwei Grad abgekühlt, das dauert circa zehn Minuten. Im Sommer helfen alle Mitarbeiter beim Beladen der Lastwagen, damit die Kühlkette nicht unterbrochen wird.“

Außerdem unterscheiden sich die Erzeugnisse des Laboratorio Gastronomico von einer Supermarkt-Nudel durch diese Eigenschaft: „Im Gegensatz zu einer getrockneten Pasta benötigen unsere Produkte kein Gluten, um elastisch zu bleiben.“ Massimo Fornero garantiert: „Nur wenn eine Pasta mit Gemüse, Fleisch oder einer anderen Füllung angereichert ist, verwenden wir Gluten. All unsere übrigen Produkte sind Gluten-frei.“

Das Bier von hier

Ähnlich qualitätsbewusst präsentiert Teo Musso sein Bier, falls man dieses Wort für seine Hopfen- und Malz-Creationen überhaupt noch verwenden mag. Auf der Getränkekarte des vom ihm betriebenen „Baladin Cafe“ in Saluzzo stehen Spezialitäten wie „Nazionale“, das mit zehn Euro für die 0,75-Liter-Flasche wohl nie ein National-Getränk im Sinne von „volkstümlich“ sein wird. Der Name will auch nur ausdrücken, dass für dieses Bier ausschließlich Zutaten aus Italien verwendet wurden. Erst einmal kitzelt es pfeffrig die Zunge und ist fruchtig im Abgang.

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„Nora“ gewinnt eine ägyptische Geschmacksnote durch solche Würzbegaben wie Myrrhe und Ingwer. Und auch dieses Bier präsentiert sich in einer Champagner-Flasche. Denn erstens gärt es – wie ein Schaumwein – bis zu seiner vollständigen Reife in der Flasche. Außerdem signalisiert diese Präsentationsform eine gewisse Hochwertigkeit und rechtfertigt den Verkaufspreis. Dazu knabbert man Lakritz-Chips, die in einem Sekt-Kühler serviert werden.

Erfolgsrezept: Du musst dein Erfolgsrezept verraten

Begonnen hatte Teo Musso seine Brauer-Karriere mit einem Bier, auf dessen Flasche er das vor Selbstbewusstsein strotzende Etikett „Super Baladin“ klebte. Das Rezept – die Zutaten sind eigentlich nur die üblichen Verdächtigen: Hopfen, Malz, Hefe und Wasser – gab er bereitwillig weiter. Denn seine Mitbewerber lieferten mit ihren Kopien den Beweis, dass diese Bier-Creationen ihre Marktchancen haben.

Als er sein „Wayan“ – das erste bio-zertifizierte Bier Italiens – braute, machte Teo Musso ebenfalls kein Geheimnis aus den Zutaten: Enzian. Kamille, Orangenschale, Gerste, Weizen, Dinkel, Roggen, Buchweizen. Ein Mitbewerber kopierte dieses Rezept und lieferte damit den Beweis, dass Teo Musso durchaus kein weltfremder Öko-Spinner ist. – Doch der Mensch lebt nicht vom Bier allein.

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Mit „Succhi di Frutta“ – gemixt aus den Säften von Ananas, Aprikose, Pfirsich und Birne – und anderen alkoholfreien Erfrischungen wendet sich die Getränkekarte im Baladin Cafe an jene Genießer, die erkannt haben: Unsere Geschmacksnerven wurden lange genug von klebrig süßen Limonaden beleidigt. Die Zeit ist also reif für fruchtig feinherbe Softdrinks a la Teo Musso.

Das Fläschchen „Baladin Cola“ liegt mit 2,50 Euro auf dem in der Gastronomie üblichen „Coke“-Preisniveau. Geschmacklich trifft es genau die Mitte zwischen dem in Deutschland erfolgreichen Öko-Kultgetränk „Bionade“ und der ursprünglich aus Thailand kommenden österreichischen Kult-Brause „Red Bull“. Teo Musso macht auch bei der „Baladin Cola“ kein Geheimnis um die Rezeptur: Cola-Nuss aus Sierra Leone, dazu kommt Rohrzucker, aber keine Konservierungsstoffe. Und die Farbe orientiert er sich nicht am US-Vorbild, seine Cola ist rot.

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Zum Abschluss ihrer Degustation füllt Marina Moro, Geschäftsführerin im Baladin Cafe, die Top-Attraktion des Hauses in die Gläser: „Xyauyu“, ein mit Sherry und Schokolade verfeinertes Bier, die Halbliter-Flasche für 30 Euro. Wer anschließend endgültig nicht mehr weiß, ob er ansonsten eher die Brauerei- oder Weingut-Produkte bevorzugt, trinkt auch gerne ein Baladin-Bier, das in Rotwein-Fässern seine geschmackliche Reife entfalten konnte.

Weinprobe

Statt auf neuzeitliches Food-Design setzt Emidio Maero auf die Rotwein-Tradition seiner piemontesischen Heimat. Hier in der Umgebung von Castellar kultivieren die Winzer seit Jahrhunderten die Pelaverga-Traube. Trotz der zahlreichen Geschichten, die sich um diese Traube ranken, ist der Pelaverga nördlich der Alpen immer noch ein Geheimtipp. Mit seinem geringen Alkoholgehalt und feinen Duft empfiehlt er sich zu einem mehrgängigen Antipasti-Menü hervorragend als Tafelwein-Alternative. 

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Doch der heimliche Star einer Weinprobe bei Emidio Maero ist seine Mutter Anna Maria. Sie bereitet in ihrer Küche zu jedem Wein das genau richtige Pendant zu. Während Emilio seinen Pelaverga vorstellt, reicht sie Sardellen mit grüner Soße oder eine Olivenpaste. Der Fettgehalt dieser kleinen Köstlichkeiten wird von der Säure des Rotweins gelöst. Als nächsten Gang serviert Anna Maria ihre Cujette – eine Gnocchi-Variante, die sich ebenfalls gut ergänzt mit Rotwein, ohne ihm geschmacklich die Show zu stehlen.

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Den Abschluss bildet ein Teller mit vier verschiedenen Käsestücken, garniert mit Honig und Heidelbeer-Konfitüre. Anna Maria macht einen unverbindlichen Vorschlag: „Die zwei links liegenden Käsesorten sind würzig – vor allem der untere, das ist ein Ziegenkäse. Dazu passt der zartsüße Honig.“

Die zwei rechts liegenden Käsestückchen – der weiße Toumin del Mel und der darüber liegende Sola – schmecken milder und ergänzen sich bestens mit der Konfitüre. Und diese Konfitüre von selbst angebauten Heidelbeeren schmeckt beinahe wie … – nein, viel, viel fruchtiger als jede Mein-Liebling-Herzkirsche. Denn schließlich sind wir hier nicht im Schwarzwald, sondern im westlichen Piemont.

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