<
DAS PORTAL DEUTSCHSPRACHIGER REISEJOURNALISTEN

Estland - Tallinn
Neues Leben in mittelalterlichen Mauern

Text und Fotos: Volker Mehnert

2011 einen Sommer lang als Europäische Kulturhauptstadt im internationalen Rampenlicht? Weit gefehlt: Tallinn ist schon seit Jahren der kulturelle Knotenpunkt im Nordosten Europas.

"Mein Lieber, setze dich zu mir. Die Flasche steht auf dem Tisch. Es ist Dämmerzeit, draußen schreien die Krähen, draußen schreien die Winde. Ich möchte dir ein paar Geschichten erzählen: Geschichten aus einer alten Stadt hoch droben im Norden, hoch droben im Osten, einer Stadt am Meer." So beginnt der deutschbaltische Schriftsteller Werner Bergengruen seine Sammlung von Erzählungen mit dem Titel "Der Tod von Reval". Und diese Geschichten berichten liebevoll von einer grauen Stadt der Düsternis, von Friedhöfen und Grabgewölben, von Begräbnissen und Trauerzügen, von ertrunkenen Matrosen, Toten und Scheintoten.

Wiedergeburt eines Stadtensembles

Estland / Tallinn / in der Altstadt

Doch von diesem geheimnisvollen Hang zu Finsternis und Tod ist im heutigen Tallinn nicht viel zu spüren. Spätestens seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 hat sich in der mittelalterlich geprägten Altstadt eine rasante Wandlung vollzogen: Tallinn hat Abschied genommen von seiner durch deutsche und russische Herrschaft geprägten Vergangenheit. In die schmalen Straßen und winkligen Gassen rund um den Domberg ist frisches Leben eingekehrt. Ehemals verstaubte Läden präsentieren sich mit attraktiv dekorierten Schaufenstern, Einheimische und Touristen flanieren über den Domplatz, in den Straßencafés auf dem Rathausplatz ist jeder Stuhl besetzt. Zwar befinden sich manche Häuser noch in einem Zustand verblichener Schönheit, doch die Restaurierungsarbeiten sind weiter in vollem Gange, und die meisten historischen Gebäude strahlen bereits wieder im alten Glanz. Eines der harmonischsten Stadtensembles in Europa hat eine Renaissance erfahren, wie sie vor zwanzig Jahren kaum vorstellbar war.

Einer der Gründe für diese Entwicklung ist der entschiedene marktwirtschaftliche Kurs, den die estnische Regierung nach der Unabhängigkeit eingeschlagen hat. Die rasche Abkopplung vom Rubel und die konsequente Privatisierung haben einheimischen Unternehmern eine verlässliche Ausgangsbasis verschafft und ausländische Firmen angelockt. Vor allem finnische und schwedische Investoren vertrauten auf die stabile Wirtschafts- und Währungspolitik, die 2004 zum EU-Betritt geführt und Estland ab 2011 zum Mitglied der Euro-Zone gemacht hat. Inzwischen gilt das Land in Europa sogar als Vorreiter bei der Verbreitung neuer Medien. Der gar nicht ironisch gemeinte Titel „e-Estonia“ symbolisiert den kostenlosen Internetzugang für alle, W-Lan am Strand und im Wald, progressives e-Government einschließlich Abstimmungsmöglichkeiten per Internet, eine persönliche Identitätskarte, die in Einkaufszentren, Banken und Amtsstuben universell einsetzbar ist.

„Dicke Margarete“ und „Langer Hermann“

Estland / Tallinn / Dicke Margarete
Dicke Margarete

Wer von Helsinki aus mit dem Schiff anreist, nähert sich Tallinn von seiner schönsten Seite - dem Meer. Die Silhouette des Dombergs und der Altstadt mit ihren Kirchtürmen und Mauerbefestigungen hat sich seit dem siebzehnten Jahrhundert kaum verändert. Das gesamte Ensemble ist von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt. Wallanlagen, Stadtmauer und Wehrtürme umrunden auf knapp zwei Kilometern Länge fast die gesamte Altstadt. Von den ehemals 35 Wehrtürmen entlang der Stadtmauer sind noch 26 erhalten. Einer der mächtigsten ist die "Dicke Margarete", die auf der dem Meer zugekehrten Seite den Zugang zur Strandpforte verteidigte. Ihre Mauerstärke beträgt fast fünf Meter. Ebenfalls der Stadtverteidigung diente der 45 Meter hohe "Lange Hermann" am Domberg, das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt.

Estland / Tallinn / Langer Herrmann

Vom Meer aus nicht zu erkennen ist die Tatsache, dass sogar innerhalb der Altstadt eine Trennungslinie verläuft zwischen der Unterstadt und dem eigens befestigten Domberg. Beide Teile der Stadt waren im Mittelalter streng voneinander getrennt und nur durch zwei bewachte Tore zugänglich. Auf dem steil aufragenden Felsmassiv des Dombergs hatten Ritterschaft und Adel ihre weitläufigen Stadthäuser errichtet, und auch der Bischof besaß dort seine Residenz. In den dicht zusammengedrängten Häusern der Unterstadt dagegen wohnten Bürger, Händler und Handwerker.

Kirchen im Überfluss

Entstanden waren die beiden so unterschiedlichen Stadtbezirke bereits im dreizehnten Jahrhundert: 1219 errichteten die Dänen nach der Eroberung einer estnischen Siedlung auf dem späteren Domberg die erste Festung, und schon kurz darauf ließen sich deutsche Kaufleute in ihrem Schutze nieder. Die sich langsam entwickelnde Siedlung mit dem Namen Reval erhielt 1248 vom dänischen König das lübische Recht, und damit begann ihre Blütezeit als wichtigster Hafen im äußersten Nordosten Europas. Fast der gesamte Handel zwischen den westeuropäischen Hansestädten und Russland lief über Reval, das 1284 selbst dem Hansebund beitrat.

EStland / Tallinn / Stadtmauer und Kirche

Auch als im vierzehnten Jahrhundert die Dänen ihre Vorherrschaft in Estland an den Deutschen Orden verloren, behielt die Stadt ihre Freiheiten und konnte ihre Position im Osthandel ausbauen. Zwar musste sie den Hochmeistern des Ordens einen Treueeid leisten, doch genoss sie Zollprivilegien und die Freistellung der Bürger vom Heeresdienst. In der Folge entstanden die noch heute vorhandenen prachtvollen öffentlichen und sakralen Gebäude: das gotische Rathaus, der Dom zu St. Marien, die Nikolauskirche, die Heiliggeistkirche, die Olaikirche und verschiedene Gildehäuser. Die von der Hanse gewährten exklusiven Stapelrechte für den Handel mit Nowgorod brachten einen vermehrten Warenumschlag und förderten den Bau der typisch hanseatischen Lagerhäuser. Während aus Russland Wachs, Hanf und wertvolle Pelze angeliefert wurden, kamen aus Westeuropa vorwiegend Textilien, Wein und Waffen. Der Handel mit Heringen und Salz spielte ebenfalls eine wichtige Rolle auf der Transitroute nach Osten.

Das „deutsche Kapitel“ ist abgeschlossen

Auch nach dem Niedergang der Hanse und der Einverleibung Estlands ins zaristische Russland blieb Reval eine Brücke zwischen Ost und West. Die deutsche Ritterschaft bildete die einflussreichste gesellschaftliche Kraft und konnte ihre Stellung durch vom Zar gewährte Privilegien bis zur ersten estnischen Unabhängigkeit im Jahre 1918 bewahren. Noch 1870 bestand ein Drittel der Revaler Bevölkerung aus Deutschbalten. Fast siebenhundert Jahre hatten sie in Handel und Kultur die entscheidende Rolle gespielt und das Leben in der Stadt bestimmt. Aus dieser Zeit stammen die deutschen Namen von Straßen und Stadtteilen und die zahllosen deutschen Inschriften in Kirchen und öffentlichen Gebäuden.

Estland / Tallinn / Haus in der Altstadt

Wer heute Tallinn besucht und die bis 1918 gültige Bezeichnung Reval verwendet, wird daher auch bei Esten nicht auf Unverständnis stoßen, obwohl diese natürlich den jetzigen Namen ihrer Stadt als selbstverständlich und gültig erachten. Doch die geschichtliche Verbindung mit der deutschen Kultur ist bei den Esten nicht verschüttet, auch wenn in der Folge des Hitler-Stalin-Paktes fast alle Deutschstämmigen Tallinn verlassen mussten. Mit diesem Abzug war das Kapitel der Deutschen in der Stadt endgültig beendet und die ein halbes Jahrhundert währende Herrschaft der Sowjets nahm ihren Anfang.

Deren Folgen sind auch gegenwärtig nicht zu übersehen. Knapp die Hälfte der Einwohner sind Russen, die sich im Zuge der Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt angesiedelt haben und die sich nun als nationale Minderheit vorfinden. Auch wenn sich Tallinn und seine estnische Bevölkerung heute eindeutig nach Westen orientieren und manches Ressentiments gegen die ehemaligen Okkupanten geblieben sein mag, sind Konflikte im täglichen Leben der Stadt nicht zu erkennen. Auf dem zentralen Markt verkaufen russische Marktfrauen ihre Produkte gleichermaßen an estnische und russische Kundinnen, in den Straßen der Altstadt hört man russisch ebenso selbstverständlich wie estnisch oder englisch, und wie ein Symbol dieses Zusammenlebens steht die orthodoxe Alexander Newski Kathedrale inmitten der anderen Tallinner Kirchen. Zahlreiche Veranstaltungen im Rahmen der Kulturhauptstadt werden von Esten und Russen gemeinsam getragen und dürften zu weiteren Gemeinsamkeiten anregen.

Estland / Tallinn / Kathedrale
Alexander Newski Kathedrale

Abschied von Düsternis und Schwermut

In den Frühjahrs- und Sommermonaten scheinen Esten und Russen manchmal sogar zu einer Minderheit in ihrer eigenen Stadt zu werden. Denn der Strom der Touristen wächst von Jahr zu Jahr und trägt dazu bei, den westlich anmutenden Charakter Tallinns hervorzuheben.

Zwar haben die sonnigen nordischen Sommerabende auch in Tallinn irgendwann ein Ende, und eine herbstliche Atmosphäre wird sich wieder über die Stadt legen. Die Stühle vor den Cafés werden hereingeräumt, und die Straßenmusikanten sind nur noch spärlich zu hören. Dennoch will sich die von Werner Bergengruen eingangs beschriebene Stimmung nicht mehr einstellen: Das historische Reval mag durch seine nordische Düsternis und Schwermut in der Erinnerung weiterleben, das estnische Tallinn jedoch ist zu keiner Jahreszeit mehr eine graue Stadt am Meer.

Information:
Estonian Tourist Board
Mönckebergstr. 5
20095 Hamburg
Telefon 040/3038 7899
Fax 040/3038 7981
www.visitestonia.com

Seite 1 / zur Startseite