Estland im Überblick
Von dem "Dreigespann der Baltischen Staaten" zu sprechen, behagt den Esten überhaupt nicht. Linguistisch und ethnisch ohnehin zur finno-ugrischen Sprach- und Völkerfamilie gehörend, stand ihnen auch schon zu Sowjetzeiten das finnische Brudervolk oft näher als die baltischen Nachbarn Lettland und Litauen. Dank dieser engen Bindungen waren sie Letten und Litauern schon immer einen Schritt voraus. Nur folgerichtig, dass die Esten auch als erste in den 80er Jahren aus dem Sowjetblock entschlossen in die Freiheit und Unabhängigkeit drängten.
Wie stark der Austausch zwischen Finnland und Estland ist, fällt besonders in Tallinn ins Auge, wo Jahr für Jahr über eine Million Finnen anlanden. In nur 90 Minuten bewältigen Schnellfähren die 80 km von Helsinki an der gegenüberliegenden Küste des Finnischen Meerbusens. Viele dieser Besucher sind Tagestouristen auf der Jagd nach preiswerten Konsumartikeln. Andere zieht es in die historischen Viertel der estnischen Hauptstadt, wo sie auf ein buntes, vielsprachiges Touristenvölkchen stoßen, das die Spuren einer langen und turbulenten Stadtgeschichte erkundet. Dänen und Deutsche, Schweden und Russen haben als wechselnde Herrscher das Stadtbild geprägt. Tallinn, das alte Reval, war Mitglied der Hanse, als bedeutende Handelsstadt das Tor zu Russland, Umschlagplatz von Ideen und Innovationen, Nahtstelle zwischen der protestantischen und orthodoxen Welt.
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Das Zentrum des einstigen multinationalen Handels und Wandels, den aufwendig restaurierten mittelalterlichen Stadtkern, setzte die UNESCO 1997 auf die Liste des Weltkulturerbes. Hier drängen sich, umschlossen von Stadtmauern und Wehrtürmen, zwischen Domberg (Toompea) und Unterstadt (All-linn) alte Gildehäuser in kopfsteingepflasterten Gassen, reiche Kaufmannsquartiere, Klöster und uralte Kirchen wie in einem mittelalterlichen Freilichtmuseum. Und hinter so mancher wiederhergestellten, prächtigen Fassade verbirgt sich Modernes: teure Boutiquen, Nobelrestaurants, Computerfirmen oder auch Theater wie das in seiner Art einzigartige "Linna" in der Lai, der Breiten Straße, mit nicht weniger als sieben Bühnen. Nicht ohne Grund hat Tallinn im In- und Ausland den Ruf einer glänzenden Kulturmetropole, kann es doch mit nicht weniger als 29 Museen, zwölf Theatern, den berühmten Sängerfesten und unzähligen anderen kulturellen Ereignissen aufwarten.
Mittelalterliches Rathaus in Tallinn
Wer der Stadt zum Ausspannen den Rücken kehren will, findet nahebei, in und um Pirita, eine Menge Abwechslung beim Segeln oder Rudern, Radfahren oder Wandern in sauberer, klarer Luft. Die Nordküste zeigt hier ihr vielfältiges Gesicht: Sandstrände wechseln mit Granitfelswänden, einer Steilküste, die man als "Glint" bezeichnet, einst von zurückweichenden Eisbergen geformt. Hier oben, etwa eine Autostunde von Tallinn entfernt, liegt der 650 km² große Lahemaa-Nationalpark. Seine ausgedehnten Wälder, Hochmoore und buchtenreichen Küstenstreifen sind ideale Reviere für Wanderungen oder Radtouren. Hier kann man noch Elchen begegnen oder Störchen und Kranichen und manchmal sogar dem Braunbären und Luchs. Weiter nach Osten, Richtung Narva, erinnern stillgelegte Industriekomplexe und verlassene Militärbasen an die Zeit der Sowjetherrschaft, doch die malerische Landschaft mit darin eingebetteten klassizistischen Gutshäusern und Klöstern versöhnt das Auge. Je tiefer wir in den Nordosten Estlands vordringen, desto dominierender wird das russische Element. Besonders ausgeprägt in der Grenzstadt Narva. Die hier sichtbar werdenden, krassen Infrastrukturmängel und die auf dem Land lastenden Probleme bei der Integration der in Estland beheimateten Russen beleuchten eine weniger bekannte Seite der estnischen Gegenwart. Immerhin sind es 70.000 Russen, bei nur 2.000 Esten, die in dieser Stadt leben. Der Grenzfluss Narva mit der Hermannsfeste am diesseitigen Ufer und dem riesigen Steingebirge der Burg Iwangorod gegenüber, markiert die Grenze zwischen EU und Russland.
Entlang dem riesigen Peipus-See (estn. Peipsi järv) führt die Reiseroute ins Landesinnere nach Tartu. Die vielen unter ihrem alten deutschen Namen Dorpat bekannte zweitgrößte estnische Stadt erhielt 1632 von Schwedens König Gustav Adolf die erste Universität des Landes. Im Mittelalter war Tartu Mitglied der Hanse und ebenso bedeutend wie Riga und Reval. Spuren ihrer großen Vergangenheit lassen sich auf einem Rundgang besichtigen. Südlich von Tartu beginnt eine ursprüngliche Landschaft, ein Naturparadies aus dichten Wäldern, Flüssen, Seen und Hügelland. Woanders längst vergessene Bräuche sind hier noch lebendig wie auch die traditionelle kunsthandwerkliche Verarbeitung von Leder, Keramik, Glas und Wolle. In der Stille dieser Natur lässt sich Kraft schöpfen, ob man nun angelt, wandert, radelt oder die Städtchen Põlva, Võru, Tõrva und Viljandi durchstreift oder sich im Wintersportzentrum Otepää vergnügt.
Badesee bei Otepää
Man nennt sie gerne "Sommerhauptstadt der Esten": Pärnu, die frühere Hansestadt Pernau am Nordende der Rigaer Bucht, die mit ihrer 1838 eingerichteten Badeanstalt ihren Ruf als führender Bade- und Kurort an der Ostseeküste Estlands begründete. Gute Hotels, Kuranlagen und Rehabilitationseinrichtungen, vor allem sein prächtiger, weißer Sandstrand ziehen auch zunehmend ausländische Gäste an. Auch das an drei Seiten vom Meer umspülte Haapsalu ist ein bedeutendes Ostseebad, das bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Heilungssuchenden Meeresschlammbäder anbot. Selbst in St. Petersburg, in der dortigen High Society, erregte die Heilkraft des Schlamms Aufsehen und veranlasste den Zarenhof, Haapsalu als Sommerkurort auszuwählen, der 1905 eigens eine Eisenbahnverbindung nach St. Petersburg erhielt. Das von der Sonne verwöhnte Haapsalu kann mit seichten, warmen Gewässern aufwarten und bietet überdies eine reizvolle Umgebung, reich an historischen Sehenswürdigkeiten.
Gegenüber dem Seebad liegen die großen estnischen Inseln Muhu, Saarema (Ösel) und Hiiumaa (Dagö). Sie bilden den Kern des Biosphären-Naturschutzgebiets der westestnischen Inselgruppe. Man erreicht von Virtsu am Festland nach nur 30 Minuten Fährzeit die Insel Muhu, die durch einen Damm mit Saarema verbunden ist. Nach dem schwedischen Gotland ist Saarema mit 2.668 km² die zweitgrößte Insel der Ostsee. Weite Heideflächen mit Wacholdersträuchern, Strandweiden und dichter Kiefernwald, Dünen, Sandstrände und Steilküsten sind die Attribute ihrer fast unberührten Naturlandschaft. Mittendrin stehen die für die Insel so charakteristischen hölzernen Bock-Windmühlen und die mittelalterlichen Wehrkirchen aus dem 13. Jahrhundert. Gutshäuser und Küstendörfer und vor allem der kleine Hauptort Kuressaare (Arensburg) mit einer gut erhaltenen Burg des Deutschen Ordens zeugen von einer bewegten Geschichte. Auch Hiiumaa kann sich aus guten Gründen "Paradies für Naturfreunde" nennen. Nur dünn besiedelt, zumeist am Küstensaum, findet man im Inselinnern große, einsame Waldgebiete und Moore, stößt hier und da auf interessante Gutshöfe, kann Leuchttürme besteigen oder die durch zwei Dämme erschlossene, vorgelagerte Insel Kassari durchstreifen.
Eckart Fiene
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