Radeln zwischen Frankreich und England

Mit dem Fahrrad unterwegs auf Jersey

Text und Fotos: Judith Weibrecht

Am Ärmelkanal und näher am französischen St. Malo als an der englischen Küste liegt ein gut gehütetes Geheimnis: Das Radfahrerparadies Jersey mit seinen perfekt ausgeschilderten Routen.

Beschilderung der Radwege auf Jersey

Beschilderung der Radwege auf Jersey

Draußen stecken die Boote in Watt und Schlick und lehnen sich traurig zur Seite. Darüber kreischen die Möwen, Wolkenfetzen werden vom Wind über den Himmel gejagt. Kaum zu glauben, dass sie noch vor ein paar Stunden mit viel Wasser unterm Kiel fröhlich vor sich hin schaukelten. Doch auf Jersey gibt es mit 12 Metern Unterschied zwischen Ebbe und Flut den zweithöchsten Tidehub der Welt. Drinnen im Restaurant und Hotel „The Moorings“ in Gorey wird gefrühstückt. Und das braucht Zeit. Die Atmosphäre ist very british, die Teppiche dick, das Full English Breakfast riesig: Rührei, Jersey-Tomaten, Pilze, Sausages vom Dorf-Butcher. Ungemein stärkend ist das, was Radfahrern nur recht sein kann. „Have a lovely day!“, wünscht die Lady am Nachbartisch noch. Das ist britische Politeness, doch will man hier so britisch auch wieder nicht sein. Zwar untersteht die Insel bis heute der englischen Krone, gehört aber nicht zu Großbritannien oder gar zur EU. Regiert wird von den States of Jersey, deren Sitzungen heute noch auf Französisch eröffnet werden. Man hat eine eigene Währung, das Jersey Pfund, und ist eigenständig. Darauf ist man stolz.

Green Lanes und Cycle Routes

Immer wieder gibt es am Straßenrand die für Radfahrer praktischen Stände mit Obst und Gemüse zum Mitnehmen, daneben ist die so genannte „honesty box“, in die man einfach das geforderte Geld wirft

Immer wieder gibt es am Straßenrand die für Radfahrer praktischen Stände mit Obst und Gemüse zum Mitnehmen, daneben ist die so genannte "honesty box", in die man einfach das geforderte Geld wirft

„Achtung Linksverkehr!“, ruft noch ein wohl meinender Radler vom „Kontinent“, und dann geht’s los. Auf der blumenreichen Kanalinsel gibt es 13 durchnummerierte und ausgeschilderte Radrouten auf Rad-, Feldwegen und verkehrsarmen Nebenstraßen, „Cycle Routes“, mit einer Gesamtlänge von 131,5 Kilometern. Radweg Nr.1 zum Beispiel führt einmal ganz um die Insel herum, Radweg 3 von Gorey bis St. Ouen quer durch sie hindurch. Das Logo zeigt den grünen Inselumriss auf blauem Grund und in weiß die entsprechende Nummer. Dazu kommen die Radausflüge A bis E, deren Beschreibungen kostenlos erhältlich sind. Und so genannte „Green Lanes“ sind grüne Wege, die auf ca. 80 Kilometern auch Fußgängern, Reitern und PKWs offen stehen, allerdings mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von bis zu 24 km/h bzw. 15 km/h. Zudem gibt es jede Menge kleiner Nebenstraßen. Das sind ganze 560 km Straßen und Wege durch Jane-Austen-Landschaften mit kapitalen Eichen und Kastanienbäumen, hellblauen Hortensien vor Buchsbaumhecken und Mauern aus Granit, hinter denen sich eindrucksvolle Herren- oder Farmhäuser verstecken. Drinnen wird wahrscheinlich gerade der berühmte Jersey Cream Tea geschlürft, dazu Scones mit Rahm von Inselrindern gekrönt. Die hübschen milchkaffeefarbenen Jerseykühe mit ihren sanften Augen treffen Radfahrer überall auf dem Eiland auf saftigen Wiesen an. Auch die Tradition kleiner Stände mit Erd-, Himbeeren, Äpfeln, Obst und Gemüse kommt uns zupass. Die geforderte Gebühr legt man einfach in die bereit gestellte Kassa und genießt. Verhungern oder verdursten wird hier weiß Gott keiner. Verpflegung aufstocken kann man auch in der sehenswerten viktorianischen Markthalle in St. Helier mit filigraner Eisenkonstruktion.

Die Bucht Grève de Lecq an der Nordküste am Radweg Nr. 1

Die Bucht Grève de Lecq an der Nordküste am Radweg Nr. 1

Eines der gemütlichen Pubs sollte man mindestens einmal besuchen. Sie alle sind typisch englische Gasthäuser, manche davon verkaufen das Liberation Ale, das auf Jersey gebraut wird. Ob das “Trafalgar” in St. Aubin, “The Lamplighter” in St. Helier oder “Victoria in the Valley” im St. Peter’s Valley, alle sind gut für eine Radpause und bieten ein Pint Bier und günstiges Pubfood an. Eine geführte Tour mit Arthur Lamy, einem Typen, der jeden Meter der Insel kennt und ausgebildeter Touristenführer ist, wollen wir nicht missen. Auch Arthur weiß, wo man am besten Pause macht: Im „The Priory Inn“ nahe der wilden Nordküste. An den dramatisch abfallenden Klippen der Steilküste brechen sich die blauen Wogen. Von hier aus fällt die Insel nach Süden hin ab. Mannshohe Farne verstellen ab und an die Sicht auf kleine Fischerhäfen, feinsandige, weiße Buchten und Strände, wie Grève de Lecq oder Rozel Bay im Nordosten mit dem „Hungry Man Kiosk“ und seinen bunten Plakaten.

Der Kiosk „Hungry man“ in Rozel Bay wirbt mit bunten, selbst gemalten Schildern für seine Produkte. Ein Stopp ist ein Muss

Der Kiosk "Hungry man" in Rozel Bay wirbt mit bunten, selbst gemalten Schildern für seine Produkte. Ein Stopp ist ein Muss

Küsten und Kastelle

Und so kann man sich aus vielen Routen die jeweils passende Tour zusammen stellen. Zudem gibt es entlang der Wege einiges an Sehenswürdigkeiten. Die Küste entlang finden sich viele Burgen, das mächtige Mont Orgueil Castle in Gorey etwa. Über viele verwinkelte Treppen und Räume gelangt man in dem konzentrisch angelegten Kastell, dessen innerster und ältester Teil aus dem 13. Jh. stammt, nach oben, von wo aus sich herrliche Blicke auf Land und Meer bieten. So rief denn auch Thomas, Herzog von Clarence angesichts der Lage aus: „Mont Orgueil!“, Burg Stolz, und gab damit der Festung ihren Namen. Burgenfans kommen auf ihre Kosten: Elizabeth Castle liegt vor der Hauptstadt St. Helier in der Bucht und kann bei Ebbe über einen Damm oder per Amphibienfahrzeug erreicht werden, St. Aubin’s Fort vor dem gleichnamigen Ort lässt sich während einer Wattwanderung besuchen.

Mont Orgueil Castle

Mont Orgueil Castle

Gang durch die Geschichte

Geschichte lässt sich an vielen Stellen erkunden. Das mystische neolithische Ganggrab „La Hougue Bie“ wurde um 3.100 v. Chr. errichtet und soll eine bedeutende Kultstätte gewesen sein. Bis heute konnte man Einritzungen in den Steinen nicht entschlüsseln. Oben auf dem Hügel über dem prähistorischen Dolmen stehen zwei Kapellen aus dem 12. und 16. Jh., unten ein Kommandobunker aus der Zeit der deutschen Besetzung. Er ist heute ein Memorial zur Erinnerung an die Sklaven auf Jersey während des 2. Weltkrieges. Dieser Ort ist wirklich ein Gang quer durch die Geschichte.

An den Jersey War Tunnels erhält man als Eintrittskarte die Identity Card einer tatsächlichen Person. Die Kriegstunnel, auch Höhlgangsanlage 8 oder Ho8 genannt, sind die grausige Erinnerung an die fünf Jahre dauernde Besatzung. Ständig wird man gebeten, sich in die Lage von Inselbewohnern hineinzuversetzen. Teils wird man von lebensgroßen Menschen, deren Kopf eine Videoinstallation ist und zu einem spricht, angesprochen. Zwangs- und Sklavenarbeiter mussten Ho8 ausheben. Ursprünglich als Rüstungswerkstatt und Kaserne gedacht, wurde daraus ein unterirdisches Krankenhaus mit Operationssälen. Jersey war Teil des Atlantikwalls und wurde von den deutschen Invasoren einfach „Jakob“ genannt.

Der Corbière Leuchtturm. Nur bei Ebbe kann man hinüber. Hier steigt die Flut schon an, also schnell weg. Jersey hat den zweithöchsten Tidehub der Welt (12 m)

Der Corbière Leuchtturm. Nur bei Ebbe kann man hinüber. Hier steigt die Flut schon an, also schnell weg. Jersey hat den zweithöchsten Tidehub der Welt (12 m)

Und was sollte man noch alles sehen? Jennifer Ellenger von Jersey Tourism empfiehlt z. B. den Leuchtturm „La Corbière“. Zu ihm führt der Corbière Walk ab St. Aubin, ein Rad- und Wanderweg auf der alten Trasse der einstigen Dampfeisenbahn und Teil des Radwegs Nr. 1. Nun ist Vorsicht angesagt, gerade eben konnte man noch gefahrlos hinüberradeln zum Leuchtturm, doch auf dem Rückweg wird man schon arg nass. Die Flut kommt, und zwar schnell. Also weg hier und um die Ecke zum größten Strand Jerseys, der weit geschwungenen St. Ouen’s Bay im Westen.

Jerseys Westküste. Blick Richtung Norden auf die St. Ouen’s Bay, den größten Strand der Insel (Radweg Nr. 1)

Jerseys Westküste. Blick Richtung Norden auf die St. Ouen's Bay, den größten Strand der Insel (Radweg Nr. 1)

Englische Gärten – Französische Küche 

Schon bald fällt einem auf, dass alle Straßen- und die meisten Hausnamen französisch sind. Doch Vorsicht bei der Aussprache der französischen Namen, denn die ist recht englisch: Zum Beispiel was die hübsche Ouaisne Bucht angeht, die ausgesprochen wird wie etwas, das nach „Uäinie“ klingt. Was für eine Mischung: „Die Kanalinseln sind Stücke Frankreichs, die ins Meer geworfen und von England aufgehoben wurden.“ soll der französische Schriftsteller Victor Hugo einmal gesagt haben, der auf Jersey im Exil lebte. Und Fahrrad-Guide Arthur Lamy hatte erklärt: „I’m a typical islander“, denn er hat französische Vorfahren.

So findet man z. B. neben englischer Gartenbaukunst französisches Savoir-vivre. Gourmets speisen neben Liebhabern des Full English Breakfast in Restaurants, die sich mit Michelin-Sternen schmücken oder im Gault Millau erwähnt werden. Ein Mekka für Feinschmecker mit Hummern, Austern, Krabben, Jakobsmuscheln und Meeresfrüchten satt findet sich z. B. im „The Boathouse“ in St. Aubin. Und hier am Golfstrom gedeihen auch Weine und Apfelbrandy: „La Mare Vineyards“ nutzt das milde Klima und kann besichtigt werden. Endgültig wie in der Provence mag man sich dann im Blumenparadies auf der „Jersey Lavender Farm“ wähnen. Lavendelöle und vieles mehr werden hier destilliert. Der lila Farbenrausch ist beeindruckend.

Jerseys beeindruckende Nordküste, Radweg Nr. 1

Jerseys beeindruckende Nordküste, Radweg Nr. 1

Und was meinte Auguste Renoir, der auf den Kanalinseln malte? „Was für ein hübsches kleines Land!... Herrliche Felsen, Strände, wie sie Robinson auf seiner Insel gehabt haben muss…“. Wie wahr. Warum einer in die Karibik fliegt, wird nun vollends unverständlich. Jersey liegt so nah. Jèrriais, die Inselsprache aus Normannisch und Französisch, wir leider nur noch wenig gesprochen. Also doch wieder auf Englisch: Hier ist es einfach rundum lovely.

 

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