Buchbespechung

Orient

Enard, Mathias. Kompass. München: Piper 2018, 427 S., 14 €.

Man mag es heute kaum noch glauben, aber „der Orient“ war (und ist weiterhin) für viele Menschen aus dem Westen ein Sehnsuchtsort, eine Projektion tiefster Wünsche in eine geographisch und gesellschaftlich ferne Gegend, eine mit Märchen aller Art besetzte Sphäre. Er verspricht weite, extreme, herausfordernde Landschaften, endlose Wüsten, aber auch die Weinhänge der Levante. Geschichten aus mehr als tausend Nächten, die nicht alle erzählt werden können. Helden von edel auf dahinschreitenden Dromedaren reitenden verschleierten Beduinen und tapferen Kriegern. Damaskus, Bagdad, Isfahan – welche Gefühle erzeugen allein diese Namen. Babylon, Palmyra und Persepolis.

Mathias Enard - Kompass

Munter plätschert das feine Wasser durch den Paradiesgarten; die Blüten der Pomeranzenbäume duften. Die Oud singt ein trauriges Lied; dann angefeuert von immer schnelleren Trommelklängen. Würzige Bratensaucen duften; die Süße des Baklava durchdringt den Körper.

Ja, man muss zugeben, dass man sich ein wenig in die Vergangenheit denken muss, um das Bild des Orients als Sehnsuchtsort aufscheinen zu lassen. Enorme Dummköpfe und blutige Gewalttäter beherrschen heute die Szene. Die Menschen müssen sich um ihr alltägliches Überleben kümmern, nicht um die Gedichte von Hafis. Öl und Fundamentalismus bekommen dem Orient nicht gut.

Mathias Enard ist Franzose, Kunstgeschichtler und Orientalist. Er legt mit dem Kompass ein umfangreiches und anspruchsvolles Buch vor, das er (oder der Verlag) „Roman“ nennt. Er handelt von dem fiktiven österreichischen Musikwissenschaftler Franz Ritter und der französischen Orientalistin Sarah, in die Ritter sich unsterblich verliebt hat, ohne ihr dies aber wirklich mitteilen zu können. Wie durch tausend Nächte und ihre Geschichten mäandert der Ich-Erzähler Ritter durch eine einzige schlaflose Nacht im heimatlichen Wien, die durch Angst vor der Begegnung mit seinem Hausarzt am nächsten Tag getrieben ist. Als hätte dieser schon das Todesurteil gesprochen, läuft Ritters Leben noch einmal vor seinem wachen Auge ab, von dem ersten Treffen mit Sarah auf einem Kongress über Reisen in den Orient (nach Damaskus, Palmyra, Teheran) bis zu hunderten Briefen und zuletzt E-Mails. Dabei zieht sein „Stream of Consciousness“ (Bewusstseinsstrom) weite Bahnen, nimmt sich zahllose Themen, historische Ereignisse und Personen vor, die mehr oder weniger ausführlich beleuchtet werden. Man wohnt der Istanbulreise eines Franz Liszt genauso bei wie Enards berechtigtem Furor über Wagner, sieht natürlich Lawrence von Arabien vorbeireiten wie mit dünnen Masken verzierte Kollegen aus der Orientalistenzunft oder den ein oder anderen Botschafter oder Politiker. Aus dem Blickwinkel von in Teheran lebenden Ausländern wird die fürchterlich schiefgelaufene islamische Revolution geschildert, wobei die jüngsten Ereignisse in Iran und Syrien eher selten aufblitzen.

Dies alles zu lesen ist nicht unanstrengend, das sei zugegeben, und manches bleibt unverstanden, da der Autor seinen Text mit einer unendlichen Wissensfülle gesättigt oder fast zum Überlaufen gebracht hat. Andererseits darf man ihm auch auf vielen Exkursionen folgen, sich erinnern an den Blick über die Ruinen und die Palmenwälder von Palmyra, an die Moscheen von Damaskus und Isfahan.

Heute mag bei vielen Menschen das Wort „Orient“ vor allem Angst und Aggression auslösen. Ein gutes Gegenmittel wäre es, sich diesem Buch auszusetzen. Denn:

Wissen hilft gegen Dummheit und Gewalt.

 

Annemarie Schwarzenbach

Zu den „Orientalisten“, die bei Mathias Enard häufiger auftauchen, gehört die Schweizerin Annemarie Schwarzenbach, die von Sarah innigst verehrt wird. Schwarzenbach wurde 1908 in Zürich geboren, studierte dort und in Paris Geschichte, war Schriftstellerin und Journalistin – und vor allem Reisende. Anfang der 1930-er Jahre fuhr sie in verschiedene europäische Länder und in die USA, doch auch ihr Sehnsuchtsziel war natürlich der Orient, die Weiten Asiens, vor allem Anatolien, der Iran und Afghanistan. Im Dezember 1938 traf Schwarzenbach ihre Schwester im Geiste, die Schweizerin Ella Maillart (1903−1997), die eine bekannte Reisefotografin war. Jetzt wollte sie mit einer Filmkamera experimentieren und ebenfalls nach Osten reisen. Doch für Annemarie Schwarzenbach war das Reisen nicht nur ein Beruf und eine Freude, sondern auch ein Kampf, ein Kampf gegen sich selbst. Denn Annemarie Schwarzenbach ruhte nicht in sich. Sie war eine Frau, doch sie wollte ein Mann sein. Sie trug Männerkleidung und eine Männerfrisur, sie war eine rasante Autofahrerin und beschäftigte sich auch mit den technischen Details jenes „Fordwagens“, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Dieses Nicht-heraus-können aus ihrem Körper stürzte sie in schwerste Depressionen, die sie mit Morphium bekämpfen wollte, das sie jedoch mehrfach über Monate in Entzugskliniken zwang. Schwarzenbach bezeichnete die Reise als „Notwendigkeit“, um die Zwickmühle zwischen Depression und Droge zu verlassen.

Die beiden modernen und engagierten Frauen gingen ihren Ausflug nach Afghanistan auf dem Land- und Seeweg äußerst professionell an. Sie ließen den „Fordwagen“ verstärken, besorgten sich in London bestes Kartenmaterial, trafen zahllose Experten, die ihnen Informationen über Routen und Ziele gaben. Beide hatten Verträge für Publikationen, die das Unternehmen finanzierten. Ein Diplomatenpass half oft genug weiter.

Am 6. Juni 1939 brachen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart von Genf aus nach Kabul auf, das sie im August erreichten. Unterwegs beobachteten sie die Landschaften, die Menschen, das Alltagsleben, machen Fotos und drehen nur drei Minuten kurze Filme. Die Beschreibungen in den Tagebüchern und Reportagen, die im Laufe der Jahre veröffentlicht werden, sind von einer bemerkenswerten Präzision und Einfühlungskraft, sowohl was das gesellschaftliche Leben in den Städten wie auf dem Lande angeht, als auch bezüglich der immer brisanter werdenden politischen Lage.

Vor allem die Situation der muslimischen Frauen interessiert sie, und während sie normalerweise in jedem Dorf von den männlichen Honoratioren sehr gastfreundlich empfangen werden, können sie als Frauen (teilweise erst nach „Überprüfung“) auch in die Höfe, Gärten und Häuser schauen, in denen sich Frauen und Kinder aufhalten und ganz anders geben, als wenn sie voll verschleiert über die Straße huschen. „Wie lebt man im Schatten des Tschadors?“ fragen die beiden emanzipierten europäischen Frauen, doch eine Antwort erhalten sie nicht.

In Europa tobt ein Krieg, und schließlich rät man ihnen in Kabul, das Land besser zu verlassen; Schwarzenbach geht davon aus, dass die Sowjetunion Afghanistan angreifen wird. Doch das anfangs so starke Frauenteam zerbricht. Ihre Interessen entwickeln sich auseinander, und Annemarie Schwarzenbach hat sich Hals über Kopf in die Frau eines französischen Archäologen verliebt. Trennung. Maillart reist zu spirituellen Erfahrungen nach Südindien, von wo sie erst 1945 nach Europa zurückkehrt, Schwarzenbach über den Khyberpass nach Nordindien und Bombay. Dort treffen sich die beiden Frauen zum letzten Mal. Schwarzenbach kehrt per Schiff Ende Januar 1940 nach Europa zurück.

Es fällt auf, dass Annemarie Schwarzenbach in dem, was sie über die Reise nach Afghanistan veröffentlicht, immer wieder die „Weiten Turkestans“, die Wüsten, die schroffen Gebirge und breiten Täler beschreibt; sehr selten geht es um die Oasen, die Flusstäler, die sprießenden Felder. Sie sucht die Öde, die Leere der Landschaft, die Abgeschiedenheit, um immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Sie ist eine ruhelos Wandernde, die gerne auch aus Dantes Göttlicher Komödie zitiert, die das Paradies vielleicht nur durch eine Selbstgeißelung erreichen kann.

Annemarie Schwarzenbach reist dann noch einmal in die USA und als Journalistin nach Portugal und Afrika, doch im Herbst 1942 stürzt sie bei einer Fahrradfahrt und stirbt kurz darauf am 15. November 1942.

Die Reportagen, Betrachtungen und Kurzgeschichten der engagierten Antifaschistin und Feministin sind zu Lebzeiten in diversen Zeitschriften und Magazinen in der Schweiz, Frankreich und anderen Ländern erschienen. Mitte der 1990-er Jahre begann der Basler Lenos-Verlag damit, die interessantesten Beiträge in einer entlang der Reiserouten orientierten Buchreihe zusammenzufassen und damit wieder zugänglich zu machen. In den Büchern gibt es auch eine kleinere Zahl von Schwarzweißfotos der Autorin.

 

Schwarzenbach, Annemarie. Winter in Vorderasien. Basel: Lenos 2002 (geschrieben 1934), 172 S., 14,90 €.

„Dieser orientalische Winter nimmt immer merkwürdigere Formen an. Nun hat es über Nacht geschneit, und die Strasse nach Damaskus ist unterbrochen. Wir fuhren gestern bis in das Dorf Bamdun und stiegen von dort mit unseren Skiern zwischen den verschneiten Weinbergen aufwärts. Wir überblickten zuerst die glänzenden Schneeflächen, dann den eisigen und spiegelnden Absturz bis zu den hundert gelben Mauern der Gärten und Reben. Drüben lagerten ganz dunkel die Vorketten des Libanon und zu ihren Füssen die weissen Häuser, die schwarzen Pinien und Orangenhaine von Beirut. Daran grenzte und zog sich in grossem Bogen zum Horizont die verschwimmende Bläue des Meeres.“ (S. 68)

 

Schwarzenbach, Annemarie. Tod in Persien. Basel: Lenos 2003 (geschrieben 1935/36), 151 S., 14,90 €.

Annemarie Schwarzenbach - Tod in PersienDie Autorin selbst bezeichnet diesen Text als „unpersönliches Tagebuch“ (S. 73), was bedeuten soll, dass sie schon die Erlebnisse aufzeichnet, die sie auf ihren Reisen nach Persien erfährt, dass der Text aber nicht so persönlich ist wie für ein Tagebuch üblich, sondern sich durchaus für eine Veröffentlichung eignet. Die einzelnen Kapitel folgen einander auch nicht chronologisch, was bei Tagebüchern gewöhnlich der Fall ist, vielmehr springen sie zwischen den drei Reisen und werden noch ergänzt durch andere Unternehmungen, zum Beispiel eine Fahrt nach Moskau, die Argumente für ihre Reflektionen über das Reisen und das Leben liefern.

Denn in diesem Buch wird es ganz klar, dass Persien eigentlich das Ziel all ihrer Reisen, all ihrer Überlegungen und der Grund all ihres Schreibens ist. Schwarzenbach kommt zurück auf eine kurze Zeit, die sie als Ausgrabungshelferin von archäologischen Teams gearbeitet hat, und es wird klar, dass so wie sie in der Erde nach den Ursprüngen einer untergegangenen Kultur gräbt, so gräbt sie auch in sich selbst nach den Ursprüngen ihres Selbst, nach dem Wesen ihrer Person und ihrer Persönlichkeit. Die Methoden der Bestimmung bestehen aus den Gesprächen mit den Freunden, dem Trinken, dem Nachdenken und Fantasieren und immer wieder der Fortbewegung, dem Reisen, auch – oder vielleicht gerade – wenn dieses nur quälend vorangeht. Und Persien ist deshalb ein ideales Pflaster, weil es so extreme Landschaften hat und weil man sehr leicht mit einem Fuß in der Wüste und mit dem anderen in einem Paradiesgarten stehen kann.

Dies ist ein sehr ungewöhnlicher Text: Es gibt Passagen von Landschafts- und Reisebeschreibungen, philosophische Überlegungen über das Leben und Fiktionalisierungen. In ersteren tauchen viele Personen aus ihrem Leben auf – Freunde, Kollegen, ihr Mann Claude, den sie sehr spontan und nur für kurze Zeit heiratete –, während ihre Liebesbeziehung mit einer sehr jungen Türkin wie eine kurze Novelle mit engelhaft-fantastischen Zugaben eingeschoben wird.

Ein verstörender Text über das Leben und den Tod.

 

Schwarzenbach, Annemarie. Alle Wege sind offen: Die Reise nach Afghanistan 1939/1940. Basel: Lenos 2003 (geschrieben 1939/40), 169 S., 12,80 €.

Diese knappen Reportagen erschienen kurz nach der Autoreise von Genf nach Kabul in verschiedensten Zeitungen und Magazinen. Sie beschreiben die Landschaften von Anatolien bis zum Khyberpass und die Menschen in ihrem oft beschwerlichen Alltag, die die Reisenden aber immer mit großer Gastfreundschaft willkommen hießen.

 

Schwarzenbach, Annemarie. Bei diesem Regen: Erzählungen. Basel: Lenos 1996 (geschrieben 1934/35), 239 S., 14,90 €.

Diese sehr kurzen Geschichten beruhen eigentlich auf Anekdoten von Schwarzenbachs Reisen. Herrlich ist zum Beispiel der Auftritt von Marga d'Andurain als Hotelchefin Madame d’Elbros in dem berühmten Hotel Zenobia neben den Ruinen von Palmyra in Syrien.

 

Noch ein Orientalist

Und ein sehr von Sagen umwobener und umstrittener dazu. Die Rede ist von Lew Nussimbaum, alias Essad Bey, alias Kurban Said. Er war in den zwanziger und dreißiger Jahren ein bekannter Literat in Berlin, doch insgesamt ist seine Lebensgeschichte voller Geheimnisse und Lügen und damit durchaus faszinierend.

Schon die Geburt ist umstritten. Nach Erkenntnissen von Biographen wurde Lew Nussimbaum 1905 in Kiew geboren; er selbst hat das immer bestritten, behauptete, er sei in Baku zur Welt gekommen, und als dafür keine Belege zu finden waren, verbreitete er die schöne Geschichte, dass seine Mutter, die eine bolschewistische Revolutionärin war, wohl eine frühe Vertraute des damals noch nicht mächtigen Stalin, den Nussimbaum später als „georgischen Strauchdieb“ charakterisierte, ihn auf einer Zugfahrt von Kiew nach Baku geboren habe. Sein Vater Abraham Nussimbaum war im Ölgeschäft in Baku tätig, ein schwerreicher und in jeder Beziehung äußerst konservativer Geschäftsmann. Die Mutter starb früh, erst kurz vor Lews Tod gelangte „ihr Geheimnis“ in die Öffentlichkeit, dass sie wohl Selbstmord beging, was zu einer Revolutionärin so gar nicht passte.

Das Kind und der Jugendliche Lew wuchsen auf in zwei engen Beziehungen: zu seiner deutschen Gouvernante Alice Schulte und zu seinem Vater. Baku war damals ein wilder und gefährlicher Ort, und so ließ der besorgte Vater seinen ins Abenteuer verliebten Sohn zu Hause von Privatlehrern unterrichten und seine Freizeit auf dem Dach des Hauses verbringen, wo er sich an jeden Ort in der Stadt und der sich ihm eröffnenden Welt träumen konnte.

Die Nussimbaums waren glühende Anhänger des maroden Zarenregimes, und als die Bolschewisten im Laufe des Jahres 1918 auch in Aserbaidschan die Macht übernahmen – Lew war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt –, entschloss sich der Vater zur Flucht. Über das Kaspische Meer erreichten sie Turkestan, von dort mit einer Karawane Persien, kehrten nochmals nach Baku zurück, um dann kurze Zeit später über Georgien nach Konstantinopel zu fliehen, wo sie eine andere Revolution einholte, die der modernen Türkei, die sich das Machtvakuum aneignete, das das zerfallene Osmanische Reich hinterlassen hatte. Über das Mittelmeer gelangten Vater und Sohn nach Paris und schließlich ins preiswertere Berlin. Denn die neuen Machthaber in der bald sowjetischen Republik Aserbaidschan herrschten inzwischen auch über die Ölfelder, so dass die vielen Papiere, die Abraham Nussimbaum auf der Flucht mitgeschleppt hatte, bald wertlos waren. Vater und Sohn bewohnten eine winzige Wohnung in Berlin, waren jedoch stets tadellos gekleidet und versuchten zumindest die Fassade der reichen Kaufmannsfamilie auch dann noch aufrecht zu erhalten, als sie eher krummen Geschäften nachgingen.

Für Lew begann die Zeit der Entfaltung. Er besuchte das Russische Gymnasium, auf das die Kinder der zahllosen russischen Emigranten der damaligen Zeit gingen, doch gleichzeitig gelang es ihm, sich als Student für Türkisch und Arabisch an der Universität einzuschreiben. Morgens studierte er den Orient, nachmittags lernte er Biologie und besseres Deutsch. In dieser Zeit, 1922, erklärte Lew Nussimbaum in der türkischen Botschaft, dass er zum Islam übergetreten sei und sich fortan Essad Bey nennen würde. Er war Mitbegründer einer Islamischen Gemeinde (1923) und der Studentengruppe „Islamia“ (1924).

Dann begann er zu schreiben. Mit 24 verfasste er sein erstes Buch, Öl und Blut im Orient, danach in zwölf Jahren 14 Sachbücher, zwei Romane und zahllose Artikel, vor allem für die von Willy Haas herausgegebene renommierte Zeitschrift Literarische Welt. In rasendem Tempo produzierte er Biographien von Lenin, Stalin, Zar Nikolaus II., dem Propheten Mohammed, dem persischen Schah und anderen, immer war sein Thema „der Orient“, das Exotische, das im Westen kaum jemand kannte, so dass auch wenig recherchierte Texte ob ihres lebendigen, farbigen Stils beim Publikum gut ankamen und nach immer mehr Texten verlangten.

Das Buch Öl und Blut im Orient wird als „autobiographischer Bericht“ bezeichnet. Was soll das sein? Eine Autobiographie ist es nicht, eine Reportage ist es nicht, ein Roman auch nicht. Obwohl es vom Autor selbst und seiner Familie handelt, ist es vor allem deshalb keine Autobiographie, weil vieles schlicht nicht stimmt, gelogen ist oder auf (oft falschem) Hörensagen beruht. Der Autor Essad Bey behauptet, sein Vater entstamme dem muslimischen Adel und sei einer der bedeutendsten Ölmagnaten Bakus. Schon der Name Abraham Nussimbaum spricht nicht gerade für diese These, und das traurige Ende des Vaters, der am 5. März 1941 von der Gestapo als Jude verhaftet und nach Treblinka deportiert wurde, steht den Ausführungen seines Sohnes durchaus entgegen. Sich selbst bezeichnet Essad Bey auch als Muslim, was ebenfalls nicht stimmt; es gibt sogar Zweifel an seinem Übertritt 1922 in Berlin. Alle, die ihn kannten, sagten, er lebe nicht wie Muslim, bete nicht, esse Schweinefleisch und trinke Alkohol (manchmal sogar in großen Mengen). Man scheint der Wahrheit näherzukommen, wenn man sich einen sehr lebhaften und fantasiebegabten Knaben vorstellt, der von seinem Vater recht kurz gehalten wird. Er verbringt die meisten Tage auf dem Dach des Hauses in Baku, was nicht ungewöhnlich ist, denn damals hatte man selbst Betten auf dem Dach, wo man die heißen Sommernächte in einer leichten Brise verbrachte. Sein Biograph, der amerikanische Journalist Tom Reiss, bezeichnet ihn als „zwölfjährigen Tagträumer, der für türkische Krieger und persische Prinzessinnen schwärmte“ (S. 53), und das scheint die Grundlage von Öl und Blut sowie der Romane ziemlich genau zu treffen.

Öl und Blut ist ein leicht lesbares Werk voller bunter Geschichten, mit einem abenteuerlichen jugendlichen Helden, der wie der Teufel reitet, mit Maschinengewehren gegen Bolschewisten kämpft und das Tiefsinnige im Orient sucht. So unterscheidet sich der Roman Ali und Nino kaum von der angeblichen Autobiographie, ganze Textpassagen sind fast wortgleich übernommen, und natürlich hat es nie einen ehrbareren Ritter als den Muslim Ali gegeben, der die georgische Christin Nino umwirbt und für sich gewinnt. Alles das ist unterhaltsam zu lesen – wenngleich heute vieles als politisch äußerst inkorrekt gelten würde –, wenn man dies als Werk jugendlicher Fantasie auffasst.

Lew Nussimbaum/Essad Bey war vor allen Dingen eines: Antikommunist. In seinen literarischen Fantasien sind fast immer die Bolschewiken die Gegner des brillanten Helden, und diese Grundeinstellung tragen auch seine Biographien und sonstigen Sachtexte. Deshalb verwundert es nicht, dass Nussimbaum in den 1930er Jahren in Berlin die Nazis unterstützt: Jedem, der es hören will oder nicht, trug er vor, dass nur die Nationalsozialisten die Gefahr eines Übergreifens der kommunistischen Revolution auf den Westen bannen könnten. Und obwohl die Gestapo wusste, dass die Nussimbaums Juden sind, geschah ihnen zunächst nichts, wurden Lews Schriften nicht verboten oder verbrannt; vielmehr finden sich in den Akten Anweisungen von höherer Stelle, die Nussimbaums nicht anzutasten, da Lew ein dringend benötigter Propagandist für den Nationalsozialismus sei. Erst 1935 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, durfte also in Deutschland nicht mehr publizieren. Daraufhin schrieb er die beiden Romane, für die ihm seine Freundin, Baronin Elfriede Ehrenfels von Bodmershof, das Pseudonym Kurban Said lieh, das 1937 in den Deutschen Gesamtkatalog eingetragen wurde – gewissermaßen eine „Arisierung“ Nussimbaums.

Lew focht das alles nicht an. Er wollte nun eine offizielle Biographie Mussolinis verfassen und setzte zahlreiche Bekannte in der Nazibewegung darauf an, ihm eine Audienz beim „Duce“ zu verschaffen. Doch angesichts des zunehmenden Drucks der Naziführung auch auf ihre Verbündeten, die „Judenfrage“ schneller zu „lösen“, konnte die italienische Führung es nicht zulassen, dass ein Jude die offizielle Biografie des „Duce“ verfasste. Lew war inzwischen von einer nicht heilbaren und sehr seltenen Blutkrankheit befallen und verarmt. Im April/Mai 1938 zog er sich nach Positano zurück, wo er von den Spenden wohlhabender Freunde lebte und sein Körper deutlich sichtbar verfiel, seine Schmerzen nur durch stärkste Opiate gelindert werden konnten. Lew Nussimbaum starb am 22. August 1942.

Tom Reiss - Der Orientalist

Die von Tom Reiss verfasste umfangreiche Biographie weist vor allem ein Problem auf. Der Autor verschweigt zwar nicht, dass Essad Bey in umfangreichen Maßstab Lügen und Fantasieprodukte niederschrieb, behandelt seine Texte aber anschließend so, als könnte man sich hundertprozentig auf sie verlassen. Vor allem die Fluchtgeschichte wird über zig Seiten schlicht referiert, obwohl es für sie keinerlei Belege oder heute noch verfügbare Zeugen gibt. Zweifellos sind die Nussimbaums irgendwie von Baku nach Konstantinopel gelangt, doch sicherlich nicht so abenteuerlich, wie Lew dies in Öl und Blut beschreibt. Für die deutsche Ausgabe hätte man sicherlich einige allgemeine Kapitel über die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland und anderes kürzen können, zumal im gesamten Band fast ausschließlich englischsprachige Quellen verwendet werden. Wenn man nicht darauf aus ist, viele neue Informationen über Essad Bey zu bekommen, ist dies ein gut lesbares und interessantes Werk über die ersten dreißig Jahre des 20. Jahrhunderts im Kaukasus und in Berlin.

Sebastian Januszewski ist Mitarbeiter des Literaturhauses Berlin und veranstaltet literarische Führungen, auf denen man auch dem Geist des Essad Bey begegnet.

https://literaturhaus-berlin.de/

Zudem ordnet Januszewski in einem Nachwort zur Neuausgabe das erstmalige Erscheinen von Öl und Blut im Orient ein und begibt sich im Frankfurter Buntbuch Nr. 62 auf die Suche nach den wenigen Spuren, die Essad Bey in seinen zwölf Berliner Jahren hinterlassen hat. In Haptik und Layout ist das schmale Heft wunderbar gestaltet, es birgt zahlreiche Fotos und andere Abbildungen, während der Text in seiner Kühle und Präzision einen angenehmen Kontrast zum abenteuerlustigen und oft etwas bombastischen Stil Essad Beys bildet.

Essad Bey - Öl und Blut im Orient

Vater und Sohn zieht es nach Charlottenburg, das einige schon in Charlottengrad umgetauft haben, denn in den frühen 1920er Jahren lebten etwa eine halbe Million vor den Bolschewiken geflüchtete Russen in Berlin. Und in der Umgebung des Kurfürstendamms gab es alles: Läden, Cafés, Restaurants, Frisöre, Ärzte, nachmittags sogar das Russische Gymnasium in der Schaperstraße, das vormittags ein deutsches Gymnasium war. Nachdem Vater und Sohn zuerst in Untermiete in einem kleinen Hinterhofzimmer in der Fregestraße 8 gewohnt hatten, zogen sie bald in die Uhlandstraße, zuerst Nummer 114, später 194. Lew Nussimbaum, der sich inzwischen schon Essad Bey nannte, studierte Türkisch und Arabisch im Seminar für Orientalische Sprachen in der Dorotheenstraße, einem Institut, das 1887 vor allem für die Ausbildung von Kolonialbeamten gegründet worden war. Im Roman Das Mädchen vom Goldenen Horn beschreibt die Titelheldin Asiadeh, wie die „bärtigen Ägyptologen und schwärmerischen Jünglinge“ Keilschriften studieren und hinter verschlossenen Türen Kehllaute übten (S. 6). Auch die Staatsbibliothek mit ihrem „Orientalischen Lesesaal“ findet Erwähnung. In literarischen Salons trifft Essad Bey die Familien Pasternak und Nabokov, er besucht das Islam-Institut in der Fasanenstraße 23 (heute Literaturhaus Berlin) und andere akademische Institutionen, um seinen Wissens- und Mitteilungsdurst zu befriedigen.

Ein Brief aus dem Jahr 1927 belegt, dass sich die Adresse der Nussimbaums erneut geändert hatte; sie wohnen jetzt Fasanenstraße 72, im Hinterhaus, an dessen Fassade heute eine Gedenkplatte an die Flüchtlinge aus Baku erinnert. Dort fand Essad Bey die Ruhe zum Schreiben, denn bald saß er an Öl und Blut und an zahllosen Artikeln für diverse Zeitschriften. 1930 oder 1931 zogen Vater und Sohn erneut um, diesmal an den Laubenheimer Platz 10 in Wilmersdorf, Zentrum einer Künstlerkolonie, in der auch zahlreiche bekannte Schriftsteller wohnten und die – als die Nazis sich ausbreiteten – schnell als „Roter Block“ bekannt wurde. Auf Lew Nussimbaum färbte die Bezeichnung nicht ab, denn er suchte zunehmend den Kontakt zur NSDAP, und das Propagandaministerium hielt seine antikommunistischen Texte für „unverzichtbar“.

Am 7. März 1932 heiratete Lew Nussimbaum Erika Loewendahl, die Tochter eines sehr wohlhabenden jüdischen Schuhhändlers. Im Frühjahr 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, zog die Familie samt frischem Schwiegersohn nach Wien, im Herbst des Jahres dann für ein halbes Jahr nach New York, kehrte allerdings anschließend nach Wien zurück. Für einige Zeit konnte Lew Nussimbaum alias Essad Bey alias Kurban Said noch schreiben, doch dann brach seine Welt zusammen: Die Ehe wurde geschieden, die Nazis schlossen ihn schließlich doch aus der Reichsschrifttumskammer aus, und sein Weg in die Krankheit begann.

Nur die schriftliche Überlieferung kann seine wenigen Spuren in Berlin erhalten.

Essad Bey, Öl und Blut im Orient. Berlin: Die andere Bibliothek Bd. 402, 2018 [11929], 357 S., 42 €.

Kurban Said, Ali und Nino. München: List 2003 [11937], 270 S., antiquarisch, weitere Ausgaben verfügbar.

Kurban Said, Das Mädchen vom Goldenen Horn. München: List 2003 [11938], 288 S., antiquarisch, weitere Ausgaben verfügbar.

Reiss, Tom, Der Orientalist: Auf den Spuren von Essad Bey. Berlin: Osburg Verlag 2008, 470 S., antiquarisch.

Januszewski, Sebastian, Essad Bey in Berlin (1921─1933). Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2017, 31 S., 8 €.

 

Aus dem Regal geholt

Noch ein Buch aus den 1930er Jahren, das die Sehnsucht nach dem Orient und der Wüste beschreibt. Der Autor möchte, unterstützt von seinem Bruder, von Agadir in Marokko aus die sagenumwobene Wüstenstadt Smara weit im Süden erreichen, in einer von Berbern bewohnten Region, die heute als Westsahara bezeichnet wird. Da er als Ausländer nicht dorthin reisen darf, wird er von seinen hochbezahlten Begleitern als vollverschleierte Frau kostümiert.

Der Text setzt sich aus Berichten und Tagebuchaufzeichnungen zusammen, die Michels Bruder Jean nach Michels Tod zusammengestellt hat. Er zeigt auf beklemmende Art und Weise den Zwiespalt zwischen dem unbedingten Willen, das exotische Wüstenziel zu erreichen und der unglaublichen körperlichen Anstrengung, auf ungewohntem Kamelrücken oder zu Fuß die Wüste zu durchqueren. Die Brüder sind von einer geradezu religiösen Zwangsvorstellung besessen, etwas Extremes und Bedeutsames mit ihrem Leben anzufangen, das allerdings mit dieser nicht besonders gut organisierten Wüstendurchquerung endlose Qualen verursacht, nur zu einem zweistündigen Aufenthalt in der weitgehend verlassenen Stadt führt und nach der Rückkehr Michel einen schnellen Tod bringt.

Vieuchange, Michel, Smara: verbotene Stadt. Stuttgart: Klett-Cotta 1995 [11932], 258 S., antiquarisch.

Franz-Josef Krücker

 

Enard, Mathias. Kompass. München: Piper 2018, 427 S., 14 €.

 

Reisemagazin schwarzaufweiss