Der Schah und die Bauern
Wer Erklärungen für gegenwärtige Entwicklungen in islamischen
Gesellschaften sucht, tut gut daran, einen Blick auf die Geschichte
des Iran im 20. Jahrhundert zu werfen. In Geschichtsbüchern mag
dies manchem als zu mühsam erscheinen, warum also nicht durch
einen Roman, der zudem den Vorteil besitzt, eben jene Historie aus
der Perspektive einfacher Bauern und junger Intellektueller zu erzählen.
Der Name Kader
Abdolah ist das Pseudonym eines in die Niederlande geflohenen Iraners,
der in seinem Buch auch diese Zäsur und Entfremdung
schildert. Denn auch sein Buchheld Esmail muss schließlich in
die Fremde fliehen, wie so viele Iraner aus ganz unterschiedlichen
Gesellschaftsschichten. Dort in der Fremde erzählt er die Geschichte
seines Vaters, des taubstummen Agha Akbar, der ein Buch in einer merkwürdigen
Keilschrift hinterlassen hat, die Esmail nicht lesen kann. Das Buch
erschließt sich jedoch durch Esmails Erinnerung an Akbars Leben
und damit an sein eigenes.
Alles dies steckt natürlich voller Symbolik, und je mehr man über
den schiitischen Islam weiß, desto deutlicher treten die Symbole
hervor. Der Islam als Buchreligion mit einem schwer verständlichen
Buch im Zentrum, das viele, nicht nur im Iran, in einer ihnen unverständlichen
Fremdsprache, dem Arabischen, auswendig lernen. Der Prophet, der verborgen
weiter lebt, so glauben die Schiiten, um sich vor dem Jüngsten
Gericht erst wieder zu erkennen zu geben.
Die Menschen in jener Bergregion, aus der Esmail und Agha Akbar stammen,
glauben oder vermuten oder fürchten, dass der Prophet in einer
Felsenhöhle ganz in ihrer Nähe wohnt, einer Höhle, die
für normale Menschen nicht zu erreichen ist, sondern nur für
besonders erwählte, die stark, mutig und gläubig genug sind,
die gefährlichen Abhänge zu überwinden. Dort angelangt,
sahen sie dann, nach eigenen Berichten, den Propheten meditieren.
Wer nun glaubt,
dies sei ein Roman für religiöse Schwärmer,
liegt völlig falsch, denn was auch immer geschieht, es wird gleichzeitig
ironisch gebrochen. So mögen die einfachen Bauern, die das Gros
der Protagonisten in diesem Roman darstellen, zwar auf den ersten Blick
den Eindruck von Tölpeln erwecken, doch besitzen sie jene typische “Bauernschläue”,
die man, Kultur übergreifend, allen echten Landbewohner nachsagt.
Vor allem aber besitzen sie Menschlichkeit im Übermaß. Was
sich als Wohltat denen gegenüber erweist, die das Leben eines
Taubstummen führen müssen oder einer Witwe mit Kindern, für
die Alten und Schwachen und die plötzlich politisch Verfolgten.
Denn vollkommen unerwartet bricht die Moderne in die nur wenig idyllische
Berggegend ein. Die Pahlewi-Familie hat in der fernen Hauptstadt die
Macht übernommen und maßt sich den altpersischen Titel des
Schah an. Eine Eisenbahn soll am Berg des Propheten vorbei führen,
die Dörfler werden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der Prophet
flieht. Die Modernisierung nimmt ihren Fortschritt: gegen die lokale
Bevölkerung und gegen die Tradition. Wer sich ihr widersetzt,
muss fliehen, zuerst in Verstecke in abgelegenen Gegenden, dann in
die Ferne. Wer aufgegriffen wird, verschwindet in den Folterkammern.
Auch Esmail, der zum Studium in die Stadt ging, gleitet fast automatisch
hinüber in den Widerstand und gerät durch eine kleine Panne
ins Visier der Staatsmacht. Aus der Ferne scheint jedoch auch die Erlösung
zu kommen, ein neuer, vielleicht der geflohene Prophet?
Doch schnell wird klar, dass die Diktatur der Modernisierung ohne Tradition
nur von der Diktatur der Tradition abgelöst wird. Und so richtet
sich der Geflohene in jener fernen Kultur ein, während in seiner
Heimat der Widerstand anhält.
Eine anrührende Geschichte, zuerst veröffentlicht im Jahr
2000, also vor allen “Ereignissen”. Hätte doch einer
sie dem Pentagon zur Pflichtlektüre verschrieben, vielleicht herrschte
dort mehr Sinn und Verstand, ganz zu schweigen von dem, was die Menschen
in der Bergregion bei der Prophetenhöhle auszeichnet: Menschlichkeit.
fjk@saw
Abdolah,
Kader: Die geheime Schrift (aus dem Niederländischen von Christiane
Kuby), Stuttgart: Klett-Cotta 2003, 367 S., ISBN 3-6089-3512-6,
22,50 Euro.
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