Buchbesprechung

Grand Hotel Europa

 

Unter einem Grand Hotel stellt man sich ein Gebilde mit einer gewissen Wucht vor, die mit Würde vorgetragen wird. Ein Gebäude von beträchtlicher Größe, jedoch nicht himmelaufragend, von baulicher Substanz, jedoch nicht protzig, von architektonischer Eleganz, jedoch nicht aufdringlich. In elegantem Bogen fährt man vor, Pagen helfen beim Aussteigen und Gepäcktransport, die Anmeldung geht zügig und geräuschlos vor, der Concierge richtet ein paar Worte an den Gast, vor allem, wenn dieser nicht zum ersten Mal hier absteigt. Während an der Rezeption die Schlüssel übergeben werden, befördert der Page das Gepäck bereits zum Aufzug und erklärt dann die offensichtlichen Einrichtungen des Zimmers, um sich so sein Trinkgeld zu verdienen. Rituale gehören zu Grand Hotels.

Ilja Leonard Pfeijffer, Grand Hotel Europa

In ein solches Grand Hotel an unbekanntem Ort checkt ein Schriftsteller ein, der so heißt wie der Buchautor und auch sonst große Ähnlichkeiten mit ihm zu haben scheint. Er muss den zweiten Strang des Romans bewältigen und die verlorene Liebe zu seiner grandiosen Freundin, der italienischen Kunsthistorikerin Clio (die Muse der Geschichtsschreibung). Mit ihr hat er in Venedig gelebt, bevor er sie an Dubai und ein dort gegen viel Geld aufzubauendes Museum verloren hat. In seinem Leid schwelgt der Schriftsteller in der Vergangenheit, der Vergangenheit des Grand Hotels und der Europas, das sich nicht umsonst im Namen des Hotels befindet.

Europa hat nur Vergangenheit zu bieten, meint Pfeijffer. „Hier gibt es derart viel Vergangenheit, dass für die Zukunft kein Platz mehr ist.“ (S. 124) Solche Thesen erörtert er beim Frühstück oder Dinner mit ähnlich nostalgisch gestimmten Gästen, die in ihrem Urlaub im Hotel nicht einfach übernachten, sondern leben, kaum das Haus oder den großzügigen Garten verlassen. Der Autor erklärt: „Touristen sind ein Symptom von etwas Größerem und Ernsthafterem, ähnlich wie Trauergäste ein Symptom des Todes sind. Das will ich mit meinem Buch erforschen. Es soll von Europa handeln, von der europäischen Identität, die eng verknüpft ist mit der Vergangenheit, und davon, dass diese Vergangenheit aus Mangel einer besseren Alternative auf dem globalen Markt verhökert wird.“ (S. 307)

Wobei der globale Markt vor allem ein chinesischer ist. Denn schon bald erfährt der Hotelgast, dass nicht nur die Fassade des Hotels pittoresk bröckelt, sondern auch die Struktur dahinter. Eigentümer des altehrwürdigen Hauses im altehrwürdigen Europa ist inzwischen ein Herr Wang, ein chinesischer Neureicher, der nicht nur moderne Badarmaturen einbauen lässt, sondern die Dekoration so optimiert, dass sie seinen Landleuten, die alsbald in großer Anzahl angeliefert werden, so gefällt wie ihr Zuhause in China. Plastik statt Samt.

Wir wollen uns nicht über chinesische Touristen erheben, wenn sie unangemessen bekleidet in Kirchen lärmen, sich überall gegenseitig und selbst fotografieren, interesselos durch Museen und Kulturstätten stolpern, mit Geld, Accessoires und Technik protzen und nur in Chinarestaurants europäische Küche genießen. Wir sind vor vierzig Jahren auch etwas orientierungslos (wenn auch nicht so unverschämt) durch Peking gestolpert und konnten einen Luohan nicht von einem Buddha unterscheiden (der lokale chinesische Guide übrigens auch nicht) wie sie den Petrus nicht vom Paulus. Das Problem sind nicht Herkunft, Sprache und Kultur, sondern die Art von Tourismus. Das Problem ist der Massentourismus. Der Massentourismus, der viel zu viele Leute durch bedrohte Orte schleust, seien dies nun immer größer (und hässlicher) werdende Kreuzfahrtschiffe in Venedig, wie im Roman, tausende von Autos, die die Straßen am Uluru in Australien zuparken, hundert Leute umfassende Reisegruppen, die auf den Tempeln von Angkor herumtrampeln oder eben die Chinesen in der Kirche von Heidelberg. Die Chinesen sind nur gerade etwas sehr extrem, so dass die Geschichten, die hier von ihnen erzählt werden, keine Karikatur sind, sondern eher noch zurückhaltend. Wer einmal im niederländischen Museumsdorf Giethoorn war, weiß, wovon die Rede ist.

Der Massentourismus ist ein Zwilling des Massenkonsums. Auch dafür steht China geradezu beispielhaft. Da die Kommunistische Partei jegliche moralische Integrität verloren hat, erkauft sie sich die Gefolgschaft ihrer affluenten Untertanen durch nahezu grenzenlosen Konsum. Während früher ein Liedchen aus dem Westen schon verdächtig war, kann heute die Massenparty gar nicht ausschweifend genug sein. Die städtischen neureichen Jungen tragen die Herrschaft der Kommunisten, während auf dem Land, das uns die Fernsehbilder nicht zeigen, die Rumpffamilien auf Fußböden aus gestampfter Erde leben. Anders als in der DDR gehört das Reisen in der Volksrepublik China allerdings mit zum Konsumprogramm: Die Stasi schickt einfach ein paar Leute in die Reisegruppe und sorgt dafür, dass nicht die gesamte Familie verreist.

Aber die „Gefahr“, dass Chinesen sich aus Reisegruppen absetzen, ist eh nicht so groß, denn parallel zum Massenkonsum etablierte die Partei als neue Ideologie einen platten Nationalismus, der auf einem Gefühl der Überlegenheit gegenüber allem beruht. Schließlich ist China gerade heute das „Reich der Mitte“, umgeben von Barbaren, die es durch Gewalt und Tribute im Zaum zu halten gilt. Dies ist tief in das Bewusstsein der Touristen eingesickert, deshalb verhalten sie sich auch oft so aggressiv. Der gar nicht so weit entfernte Bruder des Nationalismus ist der auch in Europa beliebte Populismus, der ebenfalls gerne eine Überlegenheit und eine dumpfe Massenidentität in Anspruch nimmt. Die Zeiten von Aufklärung und Individualität scheinen mit dem nostalgischen Europa unter zu gehen. Und wer war nochmal dieser Kant?

Man fragt jetzt gerne, was wir von China lernen können. Religiöse und ethnische Minderheiten zu Millionen ins Gefängnis stecken? Kulturen wie die tibetische vernichten? Handyfilme aus chaotischen Krankenhäusern mit vier Jahren Gefängnis bestrafen? Die Menschen bei jeder Tätigkeit von Kameras beobachten lassen? Anwälte einkerkern? Schriftsteller (gerade so langhaarige Typen wie Sie, Herr Pfeijffer!) ins Irrenhaus einliefern? Länder wie Kambodscha, Laos, Burma oder in Afrika mit Schulden überziehen und in eine neokoloniale Abhängigkeit treiben? Systematisch die Regeln der WTO brechen? Geistiges Eigentum stehlen und als eigenes Patent anmelden? In Afrika tausende Esel kaufen und sie zu Hause als „Spezialität“ verspeisen? Dem Führer huldigen?

Aber der geneigte Leser möge nicht aus diesem notwendigen Exkurs schließen, das Pfeijffer’sche Werk sei eine trockene Abhandlung touristischer Theorien. Ganz im Gegenteil, an einigen Stellen ist es sogar recht „pikant“; nicht zuletzt dank Clio. Und nicht nur die Chinesen werden auf die Schippe genommen, sondern es trifft alle gleichermaßen. Also: sehr lesenswertes und unterhaltsames Buch.

Wir wollen noch erzählen, dass wir vor einiger Zeit in einer vietnamesischen Stadt in einem Hotel abgestiegen sind: drei selbstvergebene Sterne, vom Keller bis zum Dach gekachelt, quietschende Sessel mit klebrigen Kunstlederbezügen, Gardinen, Duschvorhang, Duschkopf aus Plastik, usw. Name: Grand Hotel Asia.

Franz-Josef Krücker

 

Ilja Leonard Pfeijffer, Grand Hotel Europa, München: Piper 2020, 556 S., 25 €.

 

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