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Sternkinder

Eine Augenzeugin der Verfolgung und Deportation niederländischer Juden hat aufgeschrieben, was sie erlebte. Doch statt den handelnden Personen einen Namen und damit auch eine Identität zu geben, lesen wir nur von den Sternkindern, die bei Razzien in der Sternstadt – gemeint ist Amsterdam – das Gefühl der Bedrohung als das Schlimmste, was sie je erlebt haben, erfahren. Ohne die hilfreichen Zusätze in den einzelnen Kapiteln wüsste man nichts über den historischen Kontext, in dem die Sternkinder leben und dabei auch fröhlich sind, sich zum Kreistanz auf der Straße treffen oder singen, auch wenn die „Grünen“, die deutschen Polizisten, und die „Schwarzen“, die niederländischen Polizisten, sie bei jeder Razzia in Angst und Schrecken versetzen.

Clara Asscher-Pinkhof: Sternkinder

Wir lesen vom Festkind, das keinen Namen hat, lesen von der Notwendigkeit einen Stern zu tragen, auch Jukie, ein Mädchen, das von der Autorin einen Namen erhielt. Das ist allerdings die Ausnahme. Der Alltag, so ist zu erfahren ist beschwerlich. So dürfen Juden keine Tram benutzen, müssen in der Judenstraße leben, die mit einem gelben Schild gekennzeichnet ist. Anfänglich konnten sie noch miteinander spielen die Jungen mit und ohne Stern, wie Clara Asscher-Pinkhof in ihrem Buch gegen das Vergessen schreibt. Das Zuhause ist nie sicher. Man wird abgeholt und kommt selten zurück. Mütter packen und verabschieden sich, denn sie müssen Amsterdam verlassen. Wohin sie gebracht werden, darüber wird geschwiegen. Erzählt wird von Oma, die wie aus Porzellan ist, und der Leser fragt sich, ob die Autorin, ihre eigene Großmutter beschreibt, die ihre Beine nicht mehr bewegen kann. Doch da ist keine Enkelin, sondern ein Enkel, der sie besucht. Er hat seine Oma noch nie in seinem Leben laufen gesehen. „Ihre Stimme ist genauso dünn wie ihre Hände.“ Doch es gibt auch ein Leben außer Haus, das Leben in der Schule. Doch die Sternkinder dürfen dort nicht mehr hingehen. Eines von ihnen ist die einzige Jüdin in der Klasse. Alle Mädchen waren ihre Freundinnen, aber dann kam ein Brief, der mit einem Schlag alles veränderte. Im neuen Schuljahr würde ihr Platz frei bleiben. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass sie bald eine Schule nur für Juden besuchen kann.

Hochzeiten scheinen in einem Alltag mit Stern kein freudiges Ereignis, auch nicht für die Sternfrau, die einen Ehering, einen Stern und ein trauriges Gesicht hat. Die Autorin, die in Amsterdam geboren wurde und von Beruf Lehrerin war, ehe sie ihre Schüler auf dem Weg durch die Konzentrationslager begleitete, scheint sie gekannt zu haben.

Es gibt in Amsterdam Juden, die kaufen, und solche, die verkaufen. Beide Gruppen sind wie gefährliche Tiere durch einen Zaun voneinander getrennt, wie es die Autorin beschreibt. Es gibt Juden, die kranke Juden abholen und mit Lastwagen verfrachten. An der Tür von Geschäften liest man „Für Juden verboten“. So können Sternkinder, -mütter und -väter nur Schaufenster bestaunen, auch die einer Musikhandlung. Immer muss man mit der Angst leben, im nächsten Moment abgeholt zu werden. Dann bleibt nur eine Viertelstunde zum Packen, um sich für einen Winter in Polen auszurüsten, wohin die „Reise“ geht. Die Wohnungen, die verlassen werden, stehen für Plünderungen offen.

Das Sternhaus ist ein Ort, an dem die Fahrt gen Osten beginnt. Es handelt sich um die Hollandsche Schouwburg. Hier hatten sich die zum Transport Bestimmten zu melden. Über das Deportationslager Westerbork ging es dann in die Vernichtungslager weiter. Dass wir das überhaupt als Leser erfahren, hängt mit historischen Einschüben jenseits der Erzählung zusammen, die man bei der jüngsten Übersetzung beigefügt hat. Die Autorin redet in ihrem Text, dessen Stil stark an den Stil von Kurzgeschichten eines Wolfgang Borchert erinnert, niemals über konkrete Orte. Die Autorin schildert die Schouwburg als Vorhof der Hölle, wenn nicht gar Hölle, auch wenn sich Vater und Mutter sowie einige Kinder mit Musizieren die Zeit vertreiben. Besonders eindrücklich beschreibt Asscher-Pinkhof das Lagerleben in Westerbork. Doch ehe es dorthin geht, werden die Juden durch die Straßen Amsterdams getrieben. Vor den Augen ihrer zur Arbeit gehenden Landsleute, von denen einige ihre Hüte abnehmen und weinen, als sie den Zug sehen.

Erst in der Mitte des vorliegenden Buches, das für Leser ab 12 Jahren gedacht ist, begegnet der Leser Dr. Hermann Pinkhof, der allerdings nur „mein Vater“ genannt wird. Mit ihm erleben wir den Alltag in der Sternwüste, dem Lager Westerbork. Die internierten Kinder feiern das Laubhüttenfest, aber auch die Trennung von Spielgefährten, die gen Osten gebracht werden. Schließlich begleiten wir die Autorin auf ihrer Höllenfahrt in die Sternhölle, ins KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Hier gab es ein jüdisches Unterlager, aus dem nach der Befreiung durch britische Truppe 222 Personen nach Palästina auswandern durften. Die Autorin des vorliegenden Kinderbuches gehörte dazu.

Meines Erachtens ist das vorliegende „Kinderbuch“ aufgrund des Schreibstils und der Erzählform eher für Kinder älter als 12 Jahre der geeignete Lesestoff, um sich mit dem das Thema „III. Reich“ zu beschäftigen. Es fehlen Figuren der Handlung, mit denen man sich wirklich identifizieren kann, die ein Gesicht bekommen und nicht nur Sternkinder sind. Zudem verliert man schnell den Faden zwischen Sternstadt und Sternenhölle, weil eben nur von Kindern, Vater, Mutter und Oma die Rede ist, Namenlose und Gesichtslose, zudem gleichgemacht durch den Stern, ein „Brandmal“, das jüdische Bürger kennzeichnete.

Clara Asscher-Pinkhof: Sternkinder, neu übersetzt von Mirjam Pressel, 288 Seiten, Hamburg 2012, ISBN-13: 978-3841501202, 5,99 Euro




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