Text und Fotos: Volker Mehnert
Wir liegen flach auf dem Rücken, auf einem zerklüfteten Felsplateau mitten im australischen Busch, und betrachten ein Gemälde. Es hängt direkt über uns, gemalt von unten auf eine mächtige, überhängende Felsplatte: ein monumentales Bild, zwanzig Meter lang und drei Meter breit. Es setzt sich zusammen aus Hunderten von Details, geschaffen im Laufe von zwanzigtausend Jahren: Schlangen, Kängurus und Krokodile, Leguane und Wildschweine, immer wieder Fische, große und kleine, bloß in Umrissen gezeichnet oder bunt ausgemalt, vorwiegend in erdfarbenen Tönen, ocker, rot, gelb und braun, dazwischen klare Linien in schwarz und weiß. An vielen Stellen sind farbige Handabdrücke unter die Tierwelt gemischt, außerdem menschliche Gestalten sowie Skizzen von guten und bösen Geistern. Unwillkürlich kommt uns ein australischer Michelangelo in den Sinn, der unter diesem Felsgewölbe gewirkt haben mag, aber westliche Vorstellungen von Kunst sind hier fehl am Platze.
Es ist nicht das einzige Gemälde auf dem hundertfünfzig Meter hohen Injalak Hill, einer felsigen Insel im Regenwald des nordaustralischen Arnhem Land. Wir klettern über loses Geröll und mächtige Gesteinsbrocken, zwängen uns durch enge Spalten, hinein in kleine Höhlen und Durchgänge, stehen plötzlich vor einem Abgrund und schauen über die weite Ebene, aus der sich am Horizont Gu-warddehwardde, der beinahe senkrechte Anstieg zum Arnhem Land Plateau, erhebt. Wir fühlen uns wie Archäologen, die zum ersten Mal auf die Spur eines wertvollen prähistorischen Schatzes geraten sind, denn weit und breit ist sonst kein Mensch zu sehen. Dafür erscheinen hinter jeder Ecke, in jedem Winkel neue Bilder, vereinzelt, in Serien, manchmal wie neu, anderswo verwittert oder abgebröckelt.
Welche Geschichten verbergen sich dahinter?
Aber es sind nicht bloß Bilder, die wir hier vor uns haben, es sind Geschichten, tausendjährige Geschichten, tausendmal nacherzählt, von den Aborigines auch Träume genannt. Sie handeln von der Existenz der australischen Ureinwohner, von ihren Überlebensstrategien, ihrer Vergangenheit und ihren gesellschaftlichen Normen. Sie speichern das Wissen vieler Generationen, sind soziale Grundausbildung und Geschichtsbuch, Bibel, Zeitung und Lexikon in einem. Und weil jeder Clan seine eigenen Bilder und Träume hat, addiert sich die Geschichte der Aborigines in einer unermesslichen spirituellen Bibliothek.
Urmutter und Regenbogenschlange
Einige dieser Geschichten erzählt uns Thompson Nganjmirra, einer der wenigen, die sie noch kennen. Die Palette seiner Erzählungen reicht von der Zubereitung eines Fisches über die verschiedenen Formen der Jagd auf Krokodile und Kängurus bis hin zu Konflikten zwischen den Clans und dem Auftauchen der ersten weißen Männer auf ihren kuriosen Segelschiffen. Anhand der jeweiligen Tierarten, die in unterschiedlichen Malweisen auftauchen, lässt sich sogar der Klimawandel in den vergangenen Jahrtausenden rekonstruieren.
Die Geschichte vom Känguru?
Thompson erzählt von den Malern, die ihre Handabdrücke hinterlassen haben, von Holzstäben und Pflanzenstengeln, die als Pinsel dienten, von den vier Basisfarben rot, gelb, weiß und schwarz, die vom Sandstein, aus Flusssedimenten und von der Holzkohle stammten. Und er erzählt von sich selbst: dass er sich hier oben auf dem Berg ein Bild oder ein Muster einprägt, um es später in seinem Dorf auf Papier oder Baumrinde zu reproduzieren. Die Felsmalerei ist nämlich nur die dauerhafte Form der Aborigine-Kunst; wie viele Bilder im Laufe der Zeit auf verderblichem Material entstanden und wieder zerfallen sind, weiß niemand zu sagen.
So muss man sich die Urmutter vorstellen
Der alte Mann erzählt auch Traumgeschichten von den Mimi, jenen mächtigen Geistern, von denen die frühesten aller Bilder stammen und die den Menschen einst das Malen beibrachten, von der Macht der Regenbogenschlange, die für Wasser und Fruchtbarkeit verantwortlich ist, von der Urmutter, die die verschiedenen Clans über das Land verteilt hat und die verantwortlich ist für die so unterschiedlichen Sprachen der Aborigines in Arnhem Land. Es gibt auf dem Berg auch eine Grabstätte - dort dürfen wir keine Fotos machen - und vermutlich einige spirituelle Orte, die uns der Führer vorenthält, weil wir als Fremde dort nichts zu suchen haben oder weil er dort nicht einmal selbst hindarf. Aber wenn wir nur all das verstehen wollten, was wir zu sehen bekommen, müssten wir wochenlang hier oben bleiben, so wie es die Väter einst mit ihren Söhnen taten, um das Stammeswissen und die Kunst der Malerei von Generation zu Generation weiterzureichen.
Großes Land und wenig Menschen
Diese kontinuierliche Überlieferung, die dreißigtausend Jahre gedauert hat, manche Forscher gehen sogar von vierzig- bis fünfzigtausend Jahren aus, ist im zwanzigsten Jahrhundert brutal unterbrochen worden. Lange Zeit hat die australische Regierung die Menschen aus Arnhem Land deportiert, die verschiedenen, manchmal verfeindeten Clans in gemeinsame Lager, die Kinder in westliche Schulen und zu weißen Pateneltern gebracht - manchmal in guter Absicht, oft aus Verachtung gegenüber einer angeblich minderwertigen Kultur. Die Aborigines sprechen von einer „gestohlenen Generation“, und die tiefe Lücke, die sich dadurch in ihrer Kultur und ihrer Geschichte aufgetan hat, ist nicht mehr zu füllen.
Blick vom Injalak Hill auf des weite Land
Der Land Rights Act von 1976 hat den Aborigines große Teile des australischen Northern Territory zurückerstattet, und vor allem in Arnhem Land bestimmen sie im wesentlichen wieder, was dort geschieht. Auf hunderttausend Quadratkilometern, einer Fläche so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen, leben in zehn größeren Dörfern und zahlreichen sogenannten „outstations“ fünfzehntausend Menschen. Niemand darf ohne eine Sondergenehmigung dort einreisen, und nur wenige Firmen haben eine Konzession zum Betreiben rustikaler Buschcamps oder für Touren zu den Felsmalereien.
Wo Felsen sind, da sind auch Bilder - manchmal versteckt ...
Die jungen Aborigines aber sind seit langem mit westlichen und traditionellen Werten zugleich aufgewachsen, leben deshalb entweder auf Dauer in Darwin oder schlagen sich nach der Rückkehr auf ihr Land mal auf die eine, mal auf die andere Seite und kommen mit keiner richtig zurecht. Sogar viele Ältere haben ihren sozialen Kompass verloren, verstehen die Welt nicht mehr oder kämpfen einen vergeblichen Kampf gegen den Verfall der traditionellen Sitten und das Vergessen hergebrachter Werte und Mythen. Alkohol und Drogen tun ein fatales zerstörerisches Werk.
... und manchmal ganz offensichtlich
Greg Williams trinkt nicht, sondern kämpft sich auf andere Weise durch den Konflikt der Kulturen. Er ist aufgewachsen in einer westlichen Familie, dann zurückgekehrt auf das Land seiner Vorfahren und arbeitet nun im sogenannten Aboriginal Ranger Program. Damit bekommen Bewohner des Arnhem Land nicht nur eine berufliche Perspektive, sie werden auch in die Lage versetzt, ihre traditionelle Umgangsweise mit dem Land ihrer Vorfahren durch staatliche Autorität zu verankern. „Wenn die Welt unsere Kultur erhalten will“, sagt Greg, „dann muss zuerst das Land geschützt werden.“ Nur in ihm und mit ihm kann sie überleben.
Gratwanderung zwischen den Kulturen
Ranger sind das Bindeglied zwischen den Ansprüchen der traditionellen Landbesitzer und dem australischen Staat, in dessen Grenzen sie leben. „Verständnis und Zusammenarbeit“ ist das Motto von Greg, dessen Erfüllung freilich auch ihm nicht leicht fällt. Oft genug, so erzählt er, hat er ein schlechtes Gewissen gegenüber den Anforderungen seiner traditionellen Lebensweise, wenn er Entscheidungen trifft, die nach westlichen Normen sinnvoll sind und die ihm einleuchten. Und manchmal ist es genau umgekehrt: Er kann bestimmte althergebrachte Regeln nicht übertreten, auch wenn es die Anforderungen seines Berufes verlangen. „Die Kultur bewahren und doch in der westlichen Gesellschaft überleben“, nennt Greg diese Gratwanderung, die ihm Tag für Tag schwierige Entscheidungen abfordert.
Unterschiedliche Malstile ...
Ein komplettes Zurück in ihre Vergangenheit wird es für die Aborigines nicht geben, zu sehr ist die westliche Welt bereits in die Denkweise der Menschen eingedrungen. Sie besitzen zwar ihr Land, aber welchen Gebrauch sie langfristig davon machen werden, weiß niemand. Noch sind genügend Ältere da, die sich gegen rasche Veränderungen wehren. Sie sind derzeit der Garant dafür, dass die Wildnis nicht ausgebeutet und die Küste nicht verbaut wird. Sie befürchten aber, dass ihre Nachkommen die Bindung an das vererbte Land verlieren und eines Tages nur auf dessen materiellen Wert achten werden.
... im Wandel der Jahrtausende
Schon jetzt ist völlig unklar, was mit den Felsmalereien geschieht. Orte wie Injalak, an dem wir uns umsehen durften, gibt es in Arnhem Land zu Hunderten, vermutlich zu Tausenden. Einige von ihnen sind älter und gleichzeitig künstlerisch ausgeprägter als die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux in Frankreich und Altamira in Spanien. Selbst die Aborigines kennen oft nicht einmal mehr ihre Lage, ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung. Brendan Bainbridge, einer der wenigen Weißen, die mit Genehmigung der Landbesitzer Besucher durch das zerklüftete Arnhem Land Plateau führen dürfen, berichtet von Exkursionen bei denen man auf Schritt und Tritt der Aboriginal Malerei begegnet: von bekannten und verborgenen Orten, die seit Jahrzehnten niemand mehr aufgesucht hat, und von heiligen Stätten, die auch für die Ureinwohner selbst schon immer tabu waren. „Wo Felsen sind, da sind auch Bilder“, sagt Brendan und klingt dabei beinahe ein wenig resigniert. Denn seine Expeditionen führen zwar zur Wiederentdeckung von Kunstwerken und kulturhistorisch bedeutsamen Stätten, doch werden die meisten rasch wieder vergessen, weil man sie nur sporadisch registriert.
Der Herr der Blitze
Dass die Traumbilder keine bedeutungslosen Malereien sind, erleben wir schließlich auch noch aus erster Hand. Thompson Nganjmirra hatte uns auf dem Injalak Hill bereits auf eine seltsame Figur aufmerksam gemacht und versprochen, daß wir ihr zu dieser Jahreszeit noch persönlich begegnen würden: Namarrgon, der Herr der Blitze, ist auf den Felsbildern immer von einem Kreis umgeben und an Knien und Ellenbogen mit Steinäxten versehen, die er wild schwingt, bevor er einen Blitz vom Himmel herabschießt.
Warme, rote Töne ...
Namarrgon macht sich am folgenden Tag auf eindrucksvolle Weise bemerkbar: Zur Mittagszeit döst der Busch noch vor sich hin. Es ist keine Bewegung zwischen den Eukalyptusbäumen zu spüren, nur absolute Windstille, blauer Himmel, schwüle Hitze, sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig Grad. Nicht einmal die Krokodile am Flussufer zeigen eine Reaktion. Aber beinahe unmerklich geschieht eine Verwandlung. Kleine weiße Wolken tauchen auf - hübsche, harmlose Tupfer. Es wird immer schwüler, die Atmosphäre scheint sich zu verdichten, drückt von allen Seiten. Dann steigt am Horizont eine schwarze Wolkenbank auf, kommt langsam näher. Schließlich zuckt der erste Blitz, weit in der Ferne. Kurz darauf tobt ein Gewitter, wie wir es noch nie zuvor erlebt haben.
... dominieren die Felsmalereien von Arnhem Land
Die Meteorologen in Darwin erklären seine Intensität mit dem Zusammenstoß von feuchten tropischen Winden mit dem extrem trockenen Klima über dem australischen Festland, zu dem das aufgeheizte Sandsteinplateau von Arnhem Land in besonderem Maße beiträgt. Die heiße Luft steigt in extreme Höhen, so dass man die Gewitter in dem flachen Land bereits aus weiter Entfernung beobachten kann. Weil die Felsen voller Erze sind, ziehen sie Blitze obendrein besonders an. Das mag, wissenschaftlich gesehen, alles zutreffen, doch nach unserem Ausflug in die mythische Welt der Aborigines mochten wir auch deren Wahrheit nicht mehr in Frage stellen: Nur ein mächtiger und mysteriöser Namarrgon kann für ein so wuchtiges Blitz- und Donnerspektakel verantwortlich sein.
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Eine riesige Insel, ein eigener Kontinent, der gerne der „rote Kontinent“ genannt wird. Dieser Name leitet sich von der Mitte des Landes ab, die weitgehend flach und staubtrocken mit nur minimaler Vegetation ist. In ihrem Zentrum liegt Uluru (Ayers Rock), ein mythischer Monolith der Aborigines, an dem sich viele Traumpfade kreuzen. Und Uluru leuchtet tatsächlich strahlend rot im Abendlicht.
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