Venezuela im Überblick

Es ist ein spannendes Land – fast schon ein Kontinent – so überreich an fremder, wilder Schönheit, dass es Neuankömmlingen die Sprache verschlägt. Eigentlich unverzeihlich, die Begegnung mit Venezuela auf seine karibischen Traumstrände zu reduzieren, wohin es noch immer das Gros seiner Besucher zieht. Denn die wirklichen Attraktionen, das nie Gesehene, nie Erlebte offenbaren sich im Landesinneren.

Überwältigend dort das imposante Flußsystem des Orinoco, die endlosen Grassavannen, Sümpfe und tosenden Wasserfälle, überragt von den schneegekrönten Kordilleren und eigenartigen Tafelbergen, den „Götterthronen“ oder „Tischen der Giganten“ in der Gran Sabana und im Süden die tropischen Regenwälder und undurchdringlichen Dschungellandschaften, wo die Asphaltpisten enden und nur noch die Flüsse ein Weiterkommen zu den versteckten Hütten der „indígenas“, der Indios, ermöglichen.

Venezuela

Traumstrände pur findet man in Venezuela in großer Zahl
Foto © Jürgen Wöhrle (Fotolia)

Es ist ein Land für Wißbegierige, die mit den Umständen einer Reise in unbekannte Gefilde vertraut sind. Sie werden also Zeit mitbringen – eher mehr als weniger, vier Wochen sollten es schon sein – denn es ist zeitaufwendig, durch die Llanos und Urwälder zu reisen und nicht alles verläuft nach Plan. So könnte es geschehen, dass „ganz unbekannte und wundervolle Dinge in diesem Land“ gesichtet werden, wie Sir Arthur Conan Doyle 1912 in „The Lost World“ andeutete und: „Warum sollten wir nicht die Auserwählten sein, diese zu entdecken?“ Dabei ist freilich nicht auszuschließen, dass selbst Teilnehmer einer wohlorganisierten Urwaldexkursion in Alexander von Humboldts Klagelied einstimmen werden: „Die Moskitos und mehr noch die Ameisen jagten uns vor zwei Uhr in der Nacht vom Ufer . . . Nie waren uns die Hände und das Gesicht so stark angeschwollen gewesen…“ (aus seinem venezolanischen Tagebuch, Mai 1800).

Garantiert weniger abenteuerlich geht es in den touristischen Hochburgen an der Karibikküste zu. Sonnenhungrige aus aller Welt zieht es an die schneeweißen Traumstrände der Isla Margarita mit ihren exzellenten Hotels, Restaurants und schicken Einkaufspassagen. Grenzenlose Strandfreuden sind hier angesagt, Windsurfing und Kiteboarding die Renner und auch für Biker, Wanderer, Golfer hat sich die Insel gerüstet.

60 Minuten Flug in einer kleinen Maschine versetzen uns in eine andere Welt, in eine Melange aus flachen Atollen und Seegraswiesen, Sandbänken, Kliffs und Korallenriffen, angesiedelt in einem Meer, das in den prächtigsten Blau- und Türkistönen schillert. Columbus, so ist überliefert, habe vom „Himmel auf Erden“ gesprochen. Die Rede ist vom Archipiélago Los Roques, einem geschützten, marinen Nationalpark von gewaltigen Ausmaßen. Etwa 340 kleine und kleinste Inseln säumen eine 400 km² große Lagune. Auf der Hauptinsel Gran Roque, dem einzigen ständig bewohnten Eiland, liegt die kurze Landepiste und einige „posadas“ bieten eingeflogenen Gästen Unterkunft. Wohl unterliegt das kleine Universum der Roques strengen Nutzungsbeschränkungen und nicht jede Insel darf besucht werden, doch das vermag nicht das rasch aufkommende „paradise feeling“ zu trüben. Man schnorchelt und ertaucht die wimmelnde, farbenprächtige Unterwasserwelt, beobachtet Vogelschwärme, entdeckt Meeresschildkröten bei der Eiablage.

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Foto: © Maciej Zatonski (Fotolia)

Caracas und die Küstenregion

Etwa 170 km sind es von Los Roques an die Küste und nach Caracas. Ein Schock für jeden, der sich ahnungslos in den Moloch hineinbegibt, wo sich vermutlich schon ein Drittel der Bevölkerung Venezuelas zusammendrängt und davon mehr als die Hälfte in Armenvierteln („barrios humildes“), die als „cordón de la misería“ (Elendsgürtel) die Betontürme und Glitzerpaläste in die Zange nehmen. Um die Plaza Bolívar haben einige sehenswerte Gebäude aus vergangenen Jahrhunderten die rastlose Umgestaltung überdauert, ausgiebiger freilich läßt sich Stadtkonzepten nachspüren, „die der Fortschrittlichkeit der Steine und des Betons huldigen“.

Zu Recht sind die Venezolaner stolz auf ihre vielen Nationalparks – mag es auch hier und da noch mit deren Infrastruktur hapern. Östlich von Caracas liegt der bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebte Parque Nacional Mochima mit seinen traumhaften Stränden, romantischen Inselchen, intimen Buchten und aufregenden Tauch- und Schnorchelrevieren. Ein besonderes Kleinod ist der Parque Nacional Península de Paria im äußersten Nordosten des Landes. Da ziemlich abgelegen, hat sich eine artenreiche Flora und Fauna erhalten. Wie glaubwürdig versichert wird, hat der Puma hier sein Rückzugsgebiet. Und noch etwas wird erzählt: Ganz am Ende der Paria-Halbinsel soll am 5. August 1498 Christoph Columbus das erste Mal amerikanisches Festland betreten haben.

An das erfolgreiche Wirken des Schweizer Naturforschers Henri Pittier erinnert der nach ihm benannte Nationalpark westlich von Caracas. Unter den Vogelkundlern der Welt genießt das steile, zerklüftete und von schäumenden Wasserläufen durchzogene Gelände wegen seiner Artenvielfalt einen besonderen Ruf. Von Meereshöhe bis auf 2.430 m in der Cordillera de la Costa ansteigend, lassen sich entlang den Höhenstufen die verschiedenen Ökosysteme studieren – vom Trockenwald in den Tieflagen bis zu den immerfeuchten Nebelwäldern der Hochlagen. Als schöner Kontrast dazu präsentiert sich der Parque Nacional Morrocoy, ein karibisches Traumrevier, das sich auf 30 Koralleninseln und einige Küstenpartien verteilt. Hier findet man seinen von Palmen gesäumten schneeweißen Sandstrand und die winzige Insel für sich ganz allein, dazu eine reiche Flora und Schwärme exotischer Wasservögel.

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Foto © David Dominguez (Fotolia)

In Coro an der mit hohen Wanderdünen bedeckten Landenge zur windgepeitschten Halbinsel Paraguaná verlassen wir die Küstenregion. Die schmucke Stadt lohnt unbedingt einen Besuch, öffnet sie doch dank ihres fachkundig restaurierten alten Baubestands ein Fenster in die koloniale Vergangenheit. Die Stadt wurde 1527 gegründet. Sie war die erste politische Hauptstadt des Subkontinents (1638 übernahm Caracas diese Funktion). Das erste Bistum Südamerikas entstand hier und die erste Kathedrale der neuen spanischen Kolonie. Bald nach ihrer Gründung hieß die Stadt für einige Jahrzehnte „Neu-Augsburg“, nachdem Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, die Kolonie an die Augsburger Banker- und Handelsdynastie der Welser verpfändet hatte. Auch Coros Hafen, La Vela de Coro, zeigt viel alte spanische, mit niederländischen Stilelementen durchsetzte Architektur. Stadt und Hafen wurden 1993 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.

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Foto: © cosmopol (Fotolia)

Hinauf in die Anden

Von Coro geht es steil bergauf in die Cordillera de Mérida, einem nordöstlichen Zweig der Anden. Bis zu 100 km breit und annähernd 450 km lang, überragt der Andenausläufer mit seinen engen Tälern und extremen Steilhängen die angrenzenden Llanos der Orinoco-Senke. Es herrscht ein angenehm sonniges und hinreichend feuchtes Klima in den bevorzugten Siedlungsgebieten zwischen 800 und 1.300 m. Hier wurden schon in den Anfängen der Kolonialzeit von den Einwanderern Städte gegründet wie zum Beispiel Mérida in traumhafter Lage auf einem Hochplateau, heute Ausgangspunkt nahezu aller touristischen Aktivitäten. Hier gibt es Hotels, Agenturen, Veranstalter. Im Angebot sind Wanderungen zu Kaffeeplantagen und traditionellen „Fincas“ oder Bergtouren in die Welt der Gletscherlagunen und Páramos, einer kargen Hochandenregion in den Nationalparks Sierra Nevada und Sierra de la Culata. Man kann sich mit Paragliding, Mountainbiking, Rafting vergnügen oder geruhsam sein Angelglück an Seen und Flüssen suchen. Eine besondere Attraktion ist die Fahrt mit der „Teleférico“, der höchsten und längsten Seilbahn der Welt, von Mérida über 12,5 km hinauf in die Gletscherwelt des Pico Espejo in 4.765 m Höhe, wobei die verschiedenen Vegetationszonen der Anden passiert werden.

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Foto: © Eli Coory (Fotolia)

Durch die Llanos ins Orinoco-Delta

Spektakulär ist die Route von den Andenhöhen hinunter nach Barinas und weiter in die tischebenen Llanos, die baumarmen Grasfluren, die zur Regenzeit (April-Okt.) zu großen Teilen unter Wasser stehen. Die dort umherwandernden großen Rinderherden müssen dann von den Cowboys, die man hier „llaneros“ nennt, auf höher gelegenes Terrain getrieben werden, um sie während der Trockenzeit (Nov.-März) auf die jetzt abgetrockneten und üppig bewachsenen Weideflächen zurückzutreiben. Das Niederschlagsregime zwingt also zu einem regelmäßigen jahreszeitlichen Wechsel der Weidegebiete. Riesige Rinderfarmen sind das Wahrzeichen der nur schwach besiedelten Llanos. Sie heißen „hatos“ und sind längst in Rundreiseprogramme aufgenommen worden. Man kann sich bei deftiger Kost einquartieren, sich als „llanero“ versuchen oder ganz dem widmen, was so viele Naturfreunde in diese Weltgegend lockt: der Beobachtung eines unglaublichen Reichtums an Reptilien, Vögeln und Säugetieren.

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Foto © Mariana Larrazabel (Fotolia)

Derweil fließt der Orinoco breit und gemächlich und je nach Saison an- oder abschwellend am Südrand der Llanos dem Atlantik zu. „Der große Ernährer“, wie man ihn hier nennt, entspringt am Cerro Delgado Chalbaud in fernen Bundesstaat Amazonas nahe der Grenze zu Brasilien. Über 700 Zuflüsse machen aus dem anfänglichen schmalen Rinnsal einen durch Stromschnellen tobenden Fluß, eine nützliche Wasserstraße, schließlich einen mächtigen Strom, der mancherorts wie ein See daliegt, um sich nach 2.140 km in den Atlantik zu ergießen. An seinem Oberlauf im Bundsstaat Amazonas durchquert der Orinoco eine grandiose, fast menschenleere, in großen Teilen noch wenig erforschte Landschaft. Hier wächst ein Drittel der venezolanischen (Regen-)Wälder, gibt es tierreiche Bergregionen, Überschwemmungsebenen, Flußsysteme und einige wenige Camps als Stützpunkt für Urwaldexpeditionen. Bevor der Orinoco den Atlantik erreicht fächert er sich zu einem gewaltigen Delta auf, einem Labyrinth von nicht weniger als 17 Mündungsarmen und unzähligen, sich ständig verlagernden Seitenarmen, Kanälen, Inseln und Sandbänken, eine Fläche von gut 41.000 km² bedeckend, voller Mangrovendickicht und exotischen Tropengetiers.

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Foto © Mariana Larrazabal (Fotolia)

Im Land der Tafelberge

Ciudad Bolívar, die große Metropole am Unterlauf mit der einzigen Brücke über den Orinoco und einem sehenswerten Ensemble historischer Bauten aus der Kolonialzeit, ist das Tor zum geheimnisvollen Bergland von Guayana. Man sagt, Schriftsteller wie Jules Verne („Der stolze Orinoco“) und Alejo Carpentier („Die verlorenen Schritte“) hätten ihre Inspirationen aus dieser mystischen Region geschöpft. Titanen scheinen vor Urzeiten die Landschaft gestaltet zu haben, als sie mutwillig vor allem in der Hochebene der Gran Sabana gewaltige Steinbrocken fallen ließen, sie zurecht klopften und uns nicht weniger als 115 dieser eigenartigen Tafelberge, „tepui“ = Häuser der Götter, wie die Indios sie nennen, hinterließen. Mit ihren zumeist senkrechten Wänden überragen sie das Bergland um 1.200 bis 1.900 m. Zwanzig von ihnen weisen beträchtliche Ausmaße auf wie etwa der Roraima-Tepui (2.810 m hoch) mit einem Plateau von ca. 65 km² oder der 30 auf 40 km große Auyán-Tepui. Allen gemeinsam ist eine aus ihrer Insellage heraus entwickelte Vegetation und Tierwelt mit vielen endemischen Arten, sogar endemischen Familien und Gattungen. Zwischen den Tafelbergen der Gran Sabana als Herzstück des Guayana-Berglands erstrecken sich Grasfluren auf Sand und Moor, unterbrochen von kleinen Waldinseln und Hainen der feuchtigkeitsbedürftigen Mauritia-Palme. Und feucht ist es nun wirklich! Nebeltreiben und nieselnder Regen sind häufig bei Niederschlägen bis zu 4.000 mm jährlich und Temperaturen in niedrigen Lagen von 28 und nur 10 – 15 Grad auf den höchsten Plateaus. Das sollte bedacht werden, wenn man sich an den Aufstieg zum Roraima wagt, dem „Großen Blau-Grünen“ in der Sprache der Pemón-Indios, ein Unterfangen, das fünf aber auch 14 Tage dauern kann und das auch nur unter professioneller Leitung. Spektakulär auch ein Flug im Kleinflugzeug über den höchsten Wasserfall der Welt, den Salto Angel, der sich fast 1.000 m vom Plateau des Auyán-Tepui herabstürzt oder eine Tour im „curiara“, einem motorisierten Einbaum, über die Lagune von Canaima zum tosenden Sapo-Wasserfall. Die Urzeit-Landschaft der Gran Sabana mit den merkwürdigen Hinterlassenschaften der Titanen ist Teil des Parque Nacional Canaima, seit 1994 auf der Liste des UNESCO-Weltnaturerbes.

Eckart Fiene


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