Kwas, Cola und ganz viel Wasser

Eine Flusskreuzfahrt zwischen Moskau und St. Petersburg durch die russische Vergangenheit und Gegenwart

Text: Dagmar Krappe
Fotos: Axel Baumann

Russland - Moskau - Basilius Kathedrale

Die Basilius Kathedrale in Moskau dem Ausgangsort der Reise

Irina wischt sich den Schweiß von der Stirn. Eine Flasche Kwas nach der anderen füllt sie an diesem Spätnachmittag aus ihrem gelben Tankwagen ab. Das Thermometer in Kostroma an der oberen Wolga zeigt 28 Grad im Schatten. Ihren Stand hat sie vor den ehemaligen Handelsreihen postiert. Einheimische und Touristen schlendern in Scharen vorbei und stillen ihren Durst mit dem hellbraunen Erfrischungsgetränk, vergoren aus Roggenbrot, Hefe, Zucker und Rosinen. Katharina, Natascha, Dimitri und Sergiy mögen es lieber westlich statt traditionell. Sie decken sich wenige Schritte weiter am Kiosk mit Coca Cola Light, Heineken- und Holsten-Bier ein. Im Schatten des Lenin-Denkmals diskutieren sie über ihre Zukunft im heutigen Russland.

Russland - Flusskreuzfahrt - Kwas Stand

Kwas Stand

„Die Handelsreihen waren ursprünglich Umschlagplatz für Waren wie Flachs, Fisch, Gemüse und Viehfutter, die per Schiff über die Wolga angeliefert wurden“, erklärt Gästeführerin Tatjana. Heute stehen viele Läden leer, oder es präsentieren sich Banken, Videotheken und Mobilfunkanbieter. Hinter den klassizistischen Fassaden verbirgt sich im Innenhof ein Markt, der an Gemüse und Obst alles bietet, was der Magen begehrt: Zu Spottpreisen für westliche Touristen. Zu teuer für die meisten russischen Rentner.

Russland - Markt in Kostroma

Markt in Kostroma

Um ihre karge Rente wenigstens ein bisschen aufzustocken, bieten einige ältere Frauen auf der Straße vor dem Markt für ein paar Rubel Flieder und Maiglöckchen aus dem heimischen Garten an. Tatjana hat es da leichter. Die pensionierte Hochschullehrerin bessert ihre monatlichen Einkünfte durch deutschsprachige Stadtführungen auf.

Russland - Kostroma - Rentnerinnen bieten Blumen an

Ältere Frauen bieten Blumen an

Vor zwei Tagen hat MS Georg Tschitscherin die russische Hauptstadt Moskau Richtung St. Petersburg verlassen. „Dobro Poschalowat – Herzlich Willkommen“, Kapitän Alexej Zarjev begrüßt die 280 Passagiere mit russischem Sekt. „In acht Tagen werden wir fast zweitausend Kilometer auf dem Wasser zurücklegen“, übersetzt Bordreiseleiterin Lena: „Wir fahren über drei Flüsse, fünf Seen, durch mehrere Kanäle und passieren 18 Schleusen.“

Russland - Flusskreuzfahrtschiff auf der Wolga

Flusskreuzfahrtschiff auf der Wolga

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Den ersten Landgang gibt es in der Uhren-Stadt Uglitsch. Die grünen Zwiebeltürme der Verklärungs-Kathedrale und die blauen der Dimitrij-Blut-Kirche leuchten am Wolga-Ufer in der Sonne. Weitere Stationen sind Kostroma und Jaroslavl. Die Prophet-Elias-Kirche im Jaroslavler Stadtzentrum ist für ihre gut erhaltenen Fresken berühmt. „Von 1918 bis 1991 war Religionsausübung in Russland staatlich kontrolliert“, informiert Stadtführerin Marina: „Viele Kirchen und Klöster wurden gesprengt, zu Lagerhäusern oder Wohnungen umgestaltet.“ Seit der Wende werden sie mühsam wieder hergerichtet. Größtenteils durch Spendengelder.

Russland - Dächer des Erlöserklosters in Jaroslavl

Dächer des Erlöserklosters in Jaroslavl

„Die Birke ist der Baum, die Wolga der Fluss und der Wodka das Getränk Russlands“, zitiert Lena abends beim Wodka-Seminar. Rico, der tagsüber an der Schiffsrezeption arbeitet, erhebt sich und nimmt sein Glas zwischen Ring- und Mittelfinger der linken Hand. Einmal tief ausatmen: „Za zdarowje!“ - „Auf die Gesundheit!“. „Nach dem ersten Glas darf nichts gegessen werden, sondern man nimmt ein Stück Schwarzbrot in die Hand und schnuppert daran“, erläutert Lena.

Nun folgt Vorführung Nummer zwei: Diesmal stellt Rico das Glas auf die Außenfläche seiner rechten Hand und balanciert es zielsicher zum Mund ohne etwas vom russischen „Wässerchen“ zu verschütten, das gegen Erkältung, Zahnweh und Heimweh helfen soll. Bevor die Passagiere die restlichen drei Wodka-Sorten probieren dürfen, gibt es ausreichend Sakuski (Vorspeisen) wie Blini mit Lachs, Kaviar, Hering, Pilze, Salate und Piroschki. Der krönende Abschluss nach dem letzten Wodka ist eine saure Gurke.

Russland - Kishi - Sommerkirche, Glockenturm und Winterkirche

Sommerkirche, Glockenturm und Winterkirche in Kishi

Am nächsten Tag läuft das Schiff die Museumsinsel Kishi im Onegasee an. Ihr Wahrzeichen sind die hölzerne Sommerkirche, die kleinere Winterkirche und der dazwischen stehende Glockenturm. “Die Sommerkirche war im Winter zu groß und zu kalt“, berichtet Museumsführerin Jelena: „Deshalb wurde die kleinere Winterkirche aus Birkenholz gebaut, in der sich die Leute gegenseitig wärmen konnten.“ Über den Fluss Svir gleitet die „Tschitscherin“ weiter durch Karelien, dem Land der Wälder und Seen. Seeadler sitzen in den Fichten und Birken, die die Ufer säumen. Kreischende Möwen begleiten die entgegenkommenden Frachter, die Baumstämme geladen haben. Kinder baden im Fluss. Die letzte Station vor St. Petersburg ist das im zweiten Weltkrieg zerstörte Dorf Verkhnie Mandrogi. 1996 ergriff der Privatunternehmer Sergej Gutsait die Initiative, es wieder zu beleben. Er holte die besten russischen Kunsthandwerker in den Ort. Die Souvenirs, die die Künstler in Mandrogi fertigen, sind um einiges teurer als auf den zahlreichen Märkten entlang der Strecke, dafür sind sie auch garantiert handgefertigt: „Wer bereits alle Rubel ausgegeben hat, kann auch problemlos mit Euro bezahlen. Nicht der Rubel rollt, sondern der Euro“, meint Bordreiseleiterin Lena. Eine weitere Attraktion des Dorfes ist ein Wodka-Museum mit 2.561 verschiedenen Sorten.

Russland - Kunsthandwerkerin in Verkhnie Mandrogi

Kunsthandwerkerin in Verkhnie Mandrogi

Am Abend fährt MS Tschitscherin durch ein Spalier von Schlauch- und Holzbooten, in denen Angler sitzen, in den größten See Europas, den Ladoga-See, ein. Am frühen Morgen wird das Schiff St. Petersburg erreichen. Doch noch endet der Blick irgendwo dort, wo sich Wasser und Himmel zu vermischen scheinen. Bis zum Sonnenuntergang kurz vor Mitternacht dauert es noch zwei Stunden. Irina wird ihren Kwas-Stand gleich schließen. Katharina und Natascha haben sich längst wieder in ihre engsten Jeans gezwängt und die bauchfreien Tops angezogen. Musik dröhnt aus den Kopfhörern ihrer MP3-Player. Zwei Flaschen Cola Light stehen neben ihnen im Sand. Sie genießen den Sommer am Ufer der Wolga in Kostroma.

Russland - St. Petersburg - Katarienenpalast

Der Katarienenpalast in St. Petersburg

 

Reisemagazin schwarzaufweiss

 

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